Was ist die Zeit?
Lebenszeit: Kreis oder Einbahnstraße?
Lisa Rienermann
Wiedergeburt und Einmaligkeit
Was ist die Zeit?
Manche Religionen sagen: Sie dreht sich im Kreis. Andere mahnen: Du hast nur ein Leben, nutze es!
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
31.12.2021
3Min

Vorgelesen: Religion für Neugierige "Was ist die Zeit?"

Anfang April 2021 kündigten Chris­tian und Stella ihre Jobs, kauften einen Zeltaufbau fürs Autodach und fuhren los, bis nach Georgien. Wo es ihnen gefiel, blieben sie. Unterwegs bekam Stella ein Jobangebot ab November. Sie sagte ab. Sie wollte sich kein Limit setzen, sondern die Zeit des Reisens mit Chris­tian auskosten, solange das Ersparte reicht.

Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Anfang April 2021 musste sich ­Claras Mann zwei schweren Operatio­nen unterziehen. Neun Wochen blieb er auf Station, nicht ansprechbar. Clara pendelte zwei- bis dreimal die Woche ins anderthalb Stunden entfernte Uniklinikum, während sie als mobile Pflegekraft arbeitete und sich ums Homeschooling der Kinder kümmerte. Sie würde das Jahr am liebsten aus dem Kalender streichen, sagt sie.

Was erfüllt die Lebenszeit, was lässt sie als verloren erscheinen? Weil Zeit etwas Abstraktes, schwer Fassbares ist, sprechen die Religionen von ihr in Bildern. Östliche Religionen wie Hinduismus und Buddhismus ver­gleichen die Zeit mit einem Rad, das sich dreht und stets an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt: Die Natur erblüht und stirbt ab im Wechsel der Jahreszeiten, die Seele wandert im Wechsel der Generationen von einem Leben zum andern, auch die Verrichtungen des Alltags sind immer gleich. Eine so natürliche Vorstellung ent­lastet vom Druck der Endlichkeit und erleichtert, das Leben ­anzunehmen, wie es vorgesehen scheint.

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Und doch ist es einigen zu wenig, sich wie in einem Getriebe zu fühlen, sich in Jahres- und Wochenrhythmen stets im gleichen Rad zu drehen. Sie ziehen sich aus allem heraus und suchen ihre Erfüllung in der Abgeschiedenheit.
Anders die jüdisch-christliche Tradition. Sie vergleicht die Zeit mit einer Einbahnstraße. Ihr Anfang ist die Schöpfung. Sie läuft auf ein Ende zu, das Jüngste Gericht. Dazwischen bewegen sich alle Menschen in eine Richtung. Die Landschaft wechselt ständig. Es gibt kein Zurück, weiterziehen heißt Abschied nehmen. Jede Wegstrecke, jede Person ist einmalig und kehrt so nicht wieder. Versäumnisse und Unrecht lassen sich nicht rückgängig machen, man kann nicht in einem späteren Leben wieder bei null anfangen.

"Unser Leben währet siebzig ­Jahre", heißt es im 90. Psalm Mose, "und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon." Es ist die Bilanz eines alternden Menschen, kein Aufruf zu Resignation. Denn Judentum und Christentum sind leidenschaftliche Religionen. Ihr Gott ist ein leidenschaftlicher Gott, zornig über Unrecht und Feigheit und gütig gegenüber den Besonnenen. "Was, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht du?", fragt die Werbung und fordert dazu auf, keine Zeit für den Konsum zu verlieren. Doch genau so, im Rausch, zerrinnt die Lebenszeit sinnlos.

Man darf sie nicht verstreichen lassen

Der Gott des Judentums und Chris­tentums mag leidenschaftlich sein, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht. Aber er ist nicht affektgesteuert. "Lehre uns bedenken, dass wir ­sterben müssen, auf dass wir klug werden", fährt der 90. Psalm fort. Die Zeit ist zu kurz, sich lediglich treiben zu lassen. Der Mensch soll den Verstand benutzen und durchdachte, verantwortbare Entscheidungen treffen.

Christian und Stella tun das. Sie sind während der dritten Corona-­Welle aufgebrochen. Ihnen war klar: Sie würden noch eine Weile zurückgezogen leben müssen, Kontakte meiden. Das wollten sie nicht in ihrer Wohnung tun, sondern irgendwo in freier Natur, auf dem Weg in den Kaukasus. Aber die Impfungen liefen an, die Lage würde sich bessern. Und sie konnten es sich leisten, ihre Jobs aufzugeben. Stella arbeitet freiberuflich, es mangelt nicht an Aufträgen. Und Christian ist als Arzt immer gefragt.

Clara wusste von Anfang an: Sie muss alle Kraft für ihre Kinder und ihren kranken Mann aufbringen. Insofern war dieses Corona-Jahr für sie nicht nur eine belastende, sondern auch eine sehr intensive Zeit – alles andere als vergeudet.
Ja, die Vorstellung, endlich zu sein, kann bedrücken. Und doch erfüllt sich Lebenszeit von selbst. Man darf sie nur nicht verstreichen lassen.

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Sehr geehrter Herr Wetz,
in Ihrem Beitrag erwähnen Sie den "Gott des Judentums und Christentums".
Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass es nach Ihrer Vorstellung daneben auch Götter anderer Glaubensrichtungen gibt.
Ich denke, wenn es denn einen Gott gibt, der Himmel und Erde geschaffen hat, dann kann es nur diesen einen geben. Nur haben sich halt im Laufe der Weltgeschichte und in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Vorstellungen von diesem Gott entwickelt.
Die umfangreiche Anzahl von Göttern bei den Griechen und Römern hat vielleicht ihren Grund darin, dass man glaubte, einer alleine könnte das alles nicht beherrschen.
Mit freundlichen Grüßen
Herbert Janner