Wie Kinder lernen
Monster, die mit Möhren werfen
Kleinkinder verhalten sich oft ziemlich bizarr. Sind die gaga, oder hat das einen Sinn? Christine Holch versucht, ihren Enkel zu verstehen – mit Hilfe der Wissenschaft
Kleinkind-Entwicklung: Ist das noch normal?
Süßer Fratz mit Schnuller. Symbolbild.
DEEPOL by plainpicture/Gemma Ferrando
Tim Wegner
Aktualisiert am 26.04.2024
15Min

Ich hab jetzt einen angeheirateten Enkel, bin ­also ­eine Ersatz-Oma. Und als solche eigentlich ganz nett. Man kann mit mir zum Beispiel prima Schuhe werfen. Auch wenn ich oft den Kopf schüttle über das jüngste Familienmitglied. Sind schon unheimlich, die Babys: Oben läuft die Nase, unten der Durchfall, und wenn sie lilarot anlaufen und ­schreien, sieht man tief im Schlund das Zäpfchen beben. Man würde sie liegen lassen und die Flucht er­greifen, hätten sie nicht zugleich solch ein Charisma. Man möchte mit ihnen befreundet sein.

"Mama", sagt der einjährige Enkel vom Boden hoch zu mir. "Mama!" Zu mir! Okay, er sagte es nur einmal zu mir – ich sollte ihm die Tür öffnen. Und er sagte es auch zu ­seinem Papa – der sollte ihn hochnehmen. Trotzdem bin ich gerührt. Und irritiert. Nicht nötig, sagt die ­Wissenschaft, Wortüberdehnung heißt das, wenn Kinder die ­wenigen ihnen bisher bekannten Wörter für alles Mögliche benutzen. Alle nützlichen Gestalten sind Mamas, und ein "Mama!" heißt dann eben auch mal: "Hilf mir!" Darauf reagieren auch Nicht-Mamas sofort.

Überhaupt stimmt Wissen mild. Das Runterschmeißen von Dingen nervt fast gar nicht mehr, sobald man weiß, dass es für Kinder anfangs schwierig ist, die Finger­muskeln willentlich zu lockern, um etwas gesittet loszulassen. Da hilft nur heftiges Armschleudern. Und all das spätere Runterwerfen? Das sollen wissenschaftliche Experimente sein: Aha, das gekochte Möhrenstück bleibt nach einem Hops am Boden kleben, das rohe Möhrenstück kollert bis zur Tür; so war es gestern, aber ist es heute auch noch so? Materialforschung und Physik in einem.

Nur: Unser Enkel schmeißt nichts runter. Ist er etwa kein Forscher?

Andere sprechen mit nicht mal einem Jahr!

Jedenfalls ist er langsam. "Er macht alles so lang", seufzt seine Mutter. Bis er sich endlich vom Rücken auf den Bauch gedreht hat! Und dann lag er monatelang auf dem Bauch, ohne jedes Interesse, vorwärts zu krauchen. Schließlich nahm ihm die Mutter ihr Lieblingsutensil, das deswegen auch sein Lieblingsspielzeug ist, weg: ihr Handy. Dessen ­Lederetui hatte er bislang jeden Tag gründlich einge­speichelt und also porentief gereinigt. Sie legte das Handy weit entfernt von ihm auf seine Decke. Da ist er hingerobbt.

Aber dann ist er ein langes halbes Jahr gerobbt, bäuchlings, wie die Soldaten im Schlamm. Endlich, mit gut einem Jahr, krabbelte er auf allen vieren. "Und jetzt­ ­krabbelt er auch schon wieder seit einem halben Jahr", sagt seine Mutter. "Andere reden und laufen mit nicht mal einem Jahr."

In der App der Mama heißt es: Dann und dann kann dein Kind das und das. Doch stimmen diese Kalender überhaupt? Heinz Krombholz vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in Bayern hat das überprüft. Viele Kalender, sagt er, beziehen sich auf eine einzige Studie mit ­wenigen Kindern aus den 30er Jahren in den USA. Krombholz hat mittlerweile eigene Daten von rund 600 Kindern in ­seinem Projekt "Meilensteine" gesammelt.

Und siehe da: Die alten Kalender stimmen zwar so ­ungefähr, aber die zeitliche Bandbreite ist viel größer. Manche Kinder laufen mit zehn Monaten, andere erst ­mit 20. Man könne das Laufenlernen auch nicht be­schleunigen durch irgendwelche "Förderung", sagt Krombholz, der aufrechte Gang ist genetisch vorgesehen.

Manche Kinder krabbeln nie

Unser Nachbarkind ist nie gekrabbelt, sondern aufrecht auf den Knien gerutscht, ein Neffe ist sitzend auf dem ­Hosenboden vorwärts gehoppelt. Na und? Später wird kein Arbeitgeber fragen: Und ab wann sind Sie gelaufen?

Alles sei in Ordnung, sagt Forscher Krombholz, solange sich das Kind für Dinge interessiere und dorthin zu ge­langen versuche, egal wie.

Oh ja, unser Enkel interessiert sich! Und zwar für die Verschlüsse von Behältnissen, seit neun Monaten schon. Ob Frischhaltedosen oder Schränke, er muss sie auf- und zumachen. Auch Zimmertüren. Logisch, Türen sind die Deckel von Zimmern. Ist das Vertiefungsinteresse oder Stillstand? Der Opa bestreitet, dass sein Enkel überhaupt spät dran ist. "Er findet Dinge einfach länger interessant als andere. Und mit den Möglichkeiten des Klappens und Schließens ist er noch lang nicht fertig."

Womöglich machen ihn Gefäße eben einfach glücklich? Gerade sitzt er auf dem Boden, hat Marmeladengläser vor sich – eidida, ein Glas passt ins andere! Wahnsinn, sie passen jedes Mal. Aber dann macht der Enkel ein Geräusch, irgendwas zwischen schreiendem Löwenbaby und anfahrendem Lkw. "Es regt ihn halt alles so auf", sagt seine Mutter, "was er nicht kann, aber auch was er kann." Sie nimmt ihn hoch und setzt ihn aufs Küchensofa, da steht sein Kinder-MP3-Player. Eine Runde "Abendsti-hi-lle ü-hüber-all".

Da hockt er nun, mit einem abweisenden Buckel zur Familie. Mit den wenigen Flaumhaaren sieht er aus wie ein alter Mann, der sagt: Ich mach jetzt mein Kreuzworträtsel und wehe, jemand stört mich! Er duldet gerade noch, dass die Mama ihm von der Seite Bananenstückchen in den Mund schiebt. So ein Kinderhirn verbraucht etwa die Hälfte des gesamten Kalorienbedarfs, bei Erwachsenen ist es nur ein Fünftel.

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Tipp zum Weiterlesen: "Das Kinderverstehbuch" von Sandra Winkler, die fast alles über Schnullerwerferinnen, Gemüseverweigerer und Matratzenhüpfer herausgefunden hat. dtv 2020, 15 €

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Guten Tag,
Kompliment für den ausgezeichneten Kleinkinder-Artikel im neuen chrismon!
FRAGE: Gibt es noch andere Hinweise oder Präzisierungen der Autorin über hier zugrunde liegende entwicklungspsychologische Forschung und Literatur?
Mit Dank im Voraus und
freundlichen Grüße
Christoph Schmidt

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Liebe Frau Ott,
„Monster, die mit Möhren werfen“, ein grandioser Titel für einen sehr lesenswerten Beitrag. Ich habe zwei Enkelkinder, Karl 3 Jahre und Charlotte 1 Jahr alt (am 26.12.2019 geboren). Ich habe beide sofort wiedererkannt. (Leider sind beide immer noch ungetauft, aber das hatten wir ja schon mal). Der Beitrag trifft ganz genau und für mich als Opa auch sehr lehrreich. Gratulation der Autorin.
Ich möchte Ihnen auch einmal sagen, dass ich Chrismon regelmäßig lese. Mir gefällt der grundsätzlich positive Ton Ihres Magazins. Andere Zeitungen und Magazine gefallen sich in einer grundsätzlich negativen Berichterstattung. Ich kann es nicht mehr lesen, muss es aber lesen, denn schließlich ist für mich als 77jährigen die Stimmung in der Bevölkerung durchaus wichtig. Und wählen gehen muss ich ja auch. Ich kann vergleichen und ich ertappe mich natürlich öfter in der Ansicht „früher war alles besser“. Ich bin nach dem Krieg aufgewachsen und da war die Stimmung eindeutig besser und Wiederaufbau etc. standen im Vordergrund.
Mit freundlichen Grüßen
Gerd Heidbrink

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Toller Artikel, Christine Holch! Toller Humor. Ich habe mich selten so amüsiert. Gleichzeitig voll informativ.
Danke.