Karen Silveira
Ruth Eisenreich
Mitte März, als das Coronavirus hier ankam, zogen die Schulbehörden erst einmal die Ferien vor, die wir sonst im April, Juli und Oktober haben. Und sie begannen, einen zentralen Onlineunterricht zu planen. Der Bundesstaat São Paulo hat eine eigene App dafür entwickelt, wir Lehrenden wurden im Umgang damit und in den Abläufen geschult. In der Woche darauf begann der Onlineunterricht – und keine einzige Stunde ist glattgelaufen. Die App ist zwar so, dass den Kindern keine Kosten für die Nutzung der mobilen Daten entstehen, aber sie funktioniert nur auf neuen Handymodellen. Viele meiner Schüler und Schülerinnen, die zum Teil aus prekären Verhältnissen kommen, konnten sie nicht einmal herunterladen.
Die Schulen behelfen sich, indem sie die Inhalte über E-Mail-Verteiler, Facebook- oder Whatsapp-Gruppen zur Verfügung stellen. Meine Schule nutzt Facebook, wir posten die Aufgaben, die Kinder sollen sie in ihre Hefte übertragen und uns anschließend Fotos davon schicken. Aber nur die Hälfte macht mit, und damit stehen wir noch gut da im Vergleich zu anderen Schulen. Je prekärer die wirtschaftliche Lage und der Bildungshintergrund der Familie, desto schwerer ist es für die Kinder, dranzubleiben, und für die Eltern, ihnen zu helfen.
Ohne Lebensmittelpakete würden manche hungern
Die Eltern eines meiner Schüler wurden gleich am Anfang der Pandemie beide entlassen, das Erste, woran sie sparten, war das Internet. Ohne die Lebensmittelhilfspakete der Stadt würde manche Familie hungern. Für Kinder ohne Handy oder Internet druckt die Schule die Aufgaben jetzt aus, die Eltern holen sie ab und bringen sie wieder zurück. Aber diese Aufgaben werden wir Lehrenden erst korrigieren können, wenn die Schule wieder losgeht.
Auch für mich ist die Situation hart. Ich lebe mit meinen Eltern zusammen, kümmere mich um sie. Am Anfang, als ich Urlaub hatte, habe ich das Haus geputzt und mit ihnen Serien und Filme geschaut. Aber jetzt arbeite ich dreimal so viel wie üblich, weil der Unterricht via Facebook und Whatsapp oft in Privatstunden ausartet und die Behörden uns auch noch mit Papierkram überhäufen. Mein Schlafzimmer ist jetzt auch mein Büro, ich habe keinen Ort zum Entspannen mehr, und meine Eltern fühlen sich einsam, weil ich den ganzen Tag vor dem Computer sitze.
Wenn die Corona-Situation es zulässt, soll der Unterricht am 8. September wieder beginnen. Aber ich fürchte, was in den letzten Monaten passiert ist, wird langfristig nachwirken: Besonders die Kinder aus prekären Verhältnissen sind im Stoff zurückgefallen, und das schadet noch dazu ihrem Selbstvertrauen. Es wird sicher zwei, drei Jahre dauern, das auszugleichen.
Carlos Mar
Die ersten Corona-Kranken, die ich getroffen habe, waren meine Frau und meine beiden Kinder. Sie waren im Urlaub in Chile, auf dem Rückflug hat eine Passagierin aus London sie angesteckt. Ab Mitte März waren wir also in Heimquarantäne. Wir alle hatten Symptome: Hals- und Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Atemnot, Geruchs- und Geschmacksverlust.
Ich habe gerade erst meine Ausbildung zum Allgemeinmediziner abgeschlossen. Am 27. April nachmittags habe ich meine Zulassung abgeholt, am selben Abend trat ich meinen Job am Delphina-Aziz-Krankenhaus an. Die Pandemie hatte sich da schon in Manaus ausgebreitet, das Delphina Aziz war zum Schwerpunktkrankenhaus erklärt worden. Die lokalen Regierungen hatten zwar schnell Maßnahmen getroffen, aber die Leute haben die Isolation nicht ausreichend umgesetzt. Zum Teil weil das Virus gefühlt weit weg war; zum Teil konnten sie nicht aufs Arbeiten verzichten, weil sie als Selbstständige keine soziale Absicherung hatten.
Ich habe Menschen sterben sehen
Ich wurde für die Notfallstation eingeteilt. Schon am ersten Tag habe ich mehrere Menschen sterben sehen, einen Mann musste ich selbst für tot erklären. Seiner Familie die Nachricht zu überbringen, war hart.
Das Krankenhaus war damals total überlastet. An Schutzkleidung und Masken mangelte es nicht, aber es fehlten Betten, Beatmungsgeräte und vor allem Ärzte und Ärztinnen. Wir mussten Triagen vornehmen, also Patienten auswählen. In den ersten Wochen habe ich das Krankenhaus manchmal 72 Stunden lang nicht verlassen. Wir haben dort geschlafen und uns so organisiert, dass wir jeweils den zweiten der drei Tage auf einer Normalstation verbracht haben, mit Leuten, die schon auf dem Weg der Besserung waren, um uns ein bisschen von der Notfallstation zu erholen.
Manche sind zum ersten Mal im Krankenhaus
Seit Ende Mai hat sich die Lage in Manaus beruhigt, die Zahl der Fälle ist stark gesunken. Dafür kommen jetzt immer mehr Menschen aus abgelegenen Regionen des Amazonasgebiets, aus Orten, die nur mit dem Boot oder dem Flugzeug erreichbar sind. Für manche ist es der erste Krankenhausbesuch ihres Lebens.
Mai. Trotzdem werden auf dem Friedhof "Unsere Erschienene Frau" (Nossa Senhora Aparecida) weiter Gräber vorbereitet
Es ist nicht so, dass die Leute dort im Lendenschurz herumlaufen – sie leben von der Landwirtschaft und der Fischerei und pflegen ihre Kultur, aber sie tragen T-Shirts und Shorts und haben Smartphones. Weil es in diesen Gegenden kaum ärztliche Versorgung gibt und auch aus kulturellen Gründen sind sie oft Anhänger der Alternativmedizin. Bei vielen entdecken wir neben der Corona-Infektion eine Vorerkrankung, von der sie nichts wussten und die jetzt erstmals behandelt wird: Bluthochdruck, Diabetes, Hepatitis, HIV, Krebs. Für diese Menschen ist Covid-19 auf eine gewisse Art und Weise ein Glücksfall.
Magda Gomes
Meine Tante ist an Corona gestorben. Sie war Hausangestellte im Reichenviertel Leblon, wie viele Frauen hier, vermutlich hat ihre Arbeitgeberin sie angesteckt. Ein Krankenhaus gibt es in der Rocinha nicht, es gibt drei Gesundheitszentren und eine Notarztstation. Dort wurde meine Tante weggeschickt: Sie habe nur eine Panikattacke. Das war um Mitternacht. Um acht Uhr früh ist sie gestorben. Das Gutachten ergab, dass es Covid-19 war.
Ich bin in der Rocinha aufgewachsen und lebe bis heute hier. Neben meinem Bauingenieursstudium bin ich eine der Koordinatorinnen des Kollektivs "A Rocinha Resiste", "Die Rocinha widersetzt sich". Wir entwickeln Projekte, um die Lebensrealität in den Favelas von innen heraus zu verbessern. Als ich die Corona-Zahlen aus Italien gesehen habe, wusste ich: Wenn das hier ankommt, wird es schlimm.
Die Straßen sind wieder voll
Wir haben zuerst Plakate aufgehängt und einen Lautsprecherwagen durch die Favela geschickt, um den Menschen zu erklären, wie wichtig es ist, sich die Hände zu waschen und möglichst zu Hause zu bleiben. Mir wurde aber schnell klar: Die Leute würden an Hunger sterben, bevor sie am Virus sterben. Also haben wir eine Spendenaktion organisiert. Von April bis Juni haben wir einmal im Monat Hilfspakete an arme Familien verteilt. Darin waren Seife, Desinfektionsmittel und Lebensmittel für einen Monat – Reis, Bohnen, Maismehl, Nudeln, Salz, Milch, Sardinen, Guavengelee.
Nach einer kurzen Phase des Schreckens sind die Straßen hier jetzt wieder voll. Das liegt an unserer Regierung. Wenn der Präsident sagt, es ist nur ein Grippchen, dann glauben ihm viele. Und wenn die Läden öffnen, haben die Menschen in der Favela keine Alternative. Sie müssen arbeiten, denn was für sie auf dem Spiel steht, ist das Überleben.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer
Von Lebensmittelspenden abgesehen sehe ich wenig Solidarität der Reichen mit den Armen. Die meisten Hausangestellten wurden entweder entlassen, oder sie arbeiten normal weiter, mit Maske und dem Risiko, sich anzustecken. Ich kenne keine, die zu Hause bleiben darf und trotzdem bezahlt wird. Am besten hat es noch eine Freundin meiner Tante getroffen: Ihre Arbeitgeber lassen sie nur noch einmal pro Woche kommen und verlassen dann das Haus, damit sie sich nicht begegnen. Auch sie bekommt aber nur diesen Tag bezahlt.
Ich fürchte, die Corona-Krise wird die Kluft zwischen Arm und Reich noch vergrößern, denn wenn es weniger Arbeit gibt, müssen die Leute noch schlechtere Löhne akzeptieren. Wir hier in Brasilien leben noch nicht in der Post-Pandemie, wir sind immer noch im Auge des Sturms, und die Menschen in den Favelas leiden am meisten darunter.
Chrismon 09/20 / Brasilien
Liebe Redaktion,
ich finde es etwas makaber, in einem Artikel davon zu sprechen, die gennante Favela läge im "Speckgürtel von Sao Paulo".
Nach allgemeinem Verständnis bezeichnet ein 'Speckgürtel' das Umland einer Großstadt, in dem besonders die wohlhabende Schicht einer Bevölkerung wohnt. Das dürfte auf eine Favela wohl kaum zutreffen.
Mit freundlichen Grüßen,
Peter Bauhaus
PS.: Große Anerkennung für das Editorial von Claudia Keller!
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Lieber Herr Bauhaus,
Lieber Herr Bauhaus,
Sie bringen offenbar zwei verschiedene Protokolle durcheinander.
Karen Silveira lebt in Ribeirão Pires, das ist keine Favela, sondern eine – im nationalen Vergleich relativ wohlhabende – Kleinstadt im Speckgürtel von São Paulo (dem "ABC Paulista").
Magda Gomes lebt in der Rocinha, das ist eine Favela in Rio de Janeiro.
Nirgends im Text wird davon gesprochen, dass die Favela im Speckgürtel von São Paulo liege.
(Im Übrigen gibt es sehr wohl auch in reichen Städten und Regionen Favelas – die Rocinha etwa liegt unmittelbar neben Leblon und Gávea, zwei der reichsten Stadtteile von Rio de Janeiro.)
Mit freundlichen Grüßen
Ruth Eisenreich
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