Proteste gegen die AfD
Lasst uns nicht schweigen!
Als sich in Gießen eine neue AfD-Jugendgruppe gegründet hat, schlief unsere Autorin lieber aus. Das schlechte Gewissen hat ihr gezeigt: Die Lage ist zu ernst, um zu sagen, das betrifft mich nicht
Kundgebungen und Straßenblockaden Massenproteste gegen AfD-Jugend Gießen, 29.11.2025
Kundgebungen und Straßenblockaden Massenproteste gegen AfD-Jugend Gießen, 29.11.2025
Mika Volkmann/IMAGO
Tim Wegner
09.12.2025
4Min

Kürzlich fragte ich meine Mitbewohnerin beim gemeinsamen WG-Abendessen, was sie am Wochenende vorhabe. Sie fahre nach Gießen. "Was machst du in Gießen?", fragte ich. Sie klärten mich dann darüber auf, dass sich an jenem Wochenende Ende November eine neue AfD-Jugendorganisation in Gießen gründete. "Gut für dich, dass du das nicht weißt. Wir können das nicht ignorieren", sagte mein Mitbewohner darauf. Er ist Jordanier, meine Mitbewohnerin ist türkische Kurdin. Sie arbeiten in Deutschland, haben einen großen Freundeskreis und führen Beziehungen. Beide haben eine Aufenthaltserlaubnis, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft.

Zunächst war ich verärgert über seinen Kommentar, jetzt denke ich: Er hat recht. Ich habe das Privileg, nicht ständig über die Bedrohung von rechts nachdenken zu müssen. Ich kann Nachrichten hören und die Sonntagsfrage anschauen, laut der die AfD mittlerweile stärkste Kraft in Deutschland ist, ohne mich konkret bedroht zu fühlen.

Sollte die AfD in einigen Jahren regieren, müssten mein Mitbewohner und meine Mitbewohnerin Deutschland ziemlich wahrscheinlich verlassen. Schon jetzt erleben sie zunehmend Rassismus, fühlen sich vielerorts nicht willkommen. Spätestens seit den NSU-Verbrechen und dem Attentat in Hanau ist klar, dass Rechtsextremismus Menschenleben bedroht. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung oder wegen ihres Aussehens Angst haben müssen.

Als ich mit einer Kollegin über meine Gefühle zu dieser Thematik sprach, fiel ihr sofort das Zitat des Theologen Martin Niemöller ein. Niemöller ist als Widerständler gegen das nationalsozialistische Regime bekannt.

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

– Martin Niemöller

Nach dem Krieg räumte Niemöller ein, dass er angesichts des Schicksals der Opfer des Nationalsozialismus zunächst passiv gewesen sei: "Wir zogen es vor, zu schweigen." Er galt als überzeugter Nationalist, war Anfang 1933 noch kein grundsätzlicher Gegner des Nationalsozialismus. Erst als das NS-Regime begann, sich in die Kirchenpolitik einzumischen, gründete er den Pfarrernotbund und engagierte sich im Widerstand. Von 1937 bis Kriegsende war er in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert.

So weit ist es in Deutschland noch nicht. Noch riskiere ich allenfalls eine mittelschwere Erkältung, wenn ich Ende November bei Regen mehrere Stunden demonstriere. Als weiße Deutsche muss ich derzeit keine großen Konsequenzen befürchten, wenn ich friedlich protestiere. Aber diese Freiheit steht angesichts der großen Zustimmung für die AfD auf dem Spiel. Selbst wenn sie demokratisch gewählt wird, gefährdet ihre Wahl die Demokratie. Schon allein, weil die AfD den ersten Artikel des Grundgesetzes missachtet. Für ihre Anhänger und Anhängerinnen sind nicht alle Menschen gleich viel wert. Zudem greift sie die Pressefreiheit an, nutzt Kampfbegriffe wie "System-" oder "Lügenpresse". Und wenn die Demokratie erst einmal in Gefahr ist, dann geht uns das alle an, denn wir alle sind die Demokratie.

Vor kurzem besuchte ich einen Vortrag des Psychoanalytikers Otto Kernberg, der 1928 geboren wurde und mit seinen Eltern vor den Nationalsozialisten aus Wien fliehen musste. Er sprach über "bösartige Narzissten an der Spitze der Weltpolitik". Es fielen Namen wie Trump, Putin, Stalin und Hitler. Kernberg appellierte an uns Zuhörer, dass nur eine Opposition, die die Demokratie laut und aggressiv verteidigt, wirksam gegen solche Autokraten ist. Selbstverständlich meinte er damit keinen gewaltsamen, sondern einen friedlichen, aber eben hartnäckigen Protest. Wir müssen ein Zeichen setzen und deutlich machen, von welcher Seite die Gefahr ausgeht. Unserer Regierung scheint das derzeit nicht klar zu sein: Anstatt die Wahl eines als gesichert rechtsextremistischen Vorsitzenden der AfD-Jugendorganisation in einem Land mit einer Geschichte wie Deutschland zu verurteilen, verurteilen Bundeskanzler Friedrich Merz und der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (beide CDU) die Proteste in Gießen.

Für Kernberg ist Widerstand, der sich nicht unterkriegen lässt, eines der wenigen wirksamen Mittel gegen autokratische Mächte. Demonstrieren ist eine Form des Widerstands, aber nicht die einzige. Dass es bei Demonstrationen zu Ausschreitungen kommen kann, wirkt zum Teil abschreckend. Allerdings ist wirksamer Widerstand nicht bequem und muss manchmal auch etwas kosten. Das kann Zeit sein, die ich auf Demonstrationen wie den "Demos gegen Rechts" im Januar 2024 verbrachte. Das kann Arbeit sein, wenn ich mich in demokratiefördernden Projekten engagiere. Und das kann die besinnliche Weihnachtsstimmung kosten, wenn ich einer rassistischen Äußerung meiner Verwandten deutlich widerspreche.

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