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Während des Studiums wohnte ich jahrelang in Frankfurt am Main direkt an einer Bahntrasse, so nah, dass ich die S-Bahn-Fahrer fast an ihrem Fahrstil voneinander unterscheiden konnte. Ich weiß noch, wie ich an einem Wochenende verkatert aus dem Fenster schaute und dachte: "Okay, jetzt ist es passiert: Ich bin offiziell durchgeknallt." Denn direkt vor mir fuhr plötzlich eine alte Dampflokomotive vorbei, mit Qualm und allem.
Ich war sehr erleichtert, als mein Mitbewohner mir bestätigte, dass er gerade dasselbe gesehen hatte. Tatsächlich fährt die Historische Eisenbahn Frankfurt zu besonderen Anlässen durch die Stadt und bietet einen beeindruckenden Anblick. Dieses Erlebnis gab mir eine Ahnung davon, wie es für die Leute vor 200 Jahren gewesen sein muss, als die ersten Eisenbahnen durch die Landschaften bretterten: Der Anblick muss maximal verstörend gewesen sein.
Warum verschleiert Turner sein Motiv?
In England hatte die Industrialisierung ihren Anfang genommen, hier wurde 1804 die erste funktionsfähige Dampflok entwickelt und 1825 die erste Eisenbahnstrecke für Passagiere eröffnet. Die neuartige Geschwindigkeit war für die Menschen ein Schock, nicht wenige glaubten, dass dadurch Gehirnkrankheiten entstünden. Also wenn ihr das nächste Mal mit der Deutschen Bahn im Schritttempo durch eine der vielen Baustellen tuckert, macht euch klar: Das langsame Tempo ist gut für eure Gesundheit.
Der englische Künstler William Turner (1775 – 1851) war mit der Eisenbahn wohlvertraut, als er 1844 "Regen, Dampf und Geschwindigkeit" malte. Es zeigt einen fahrenden Zug auf einer Brücke, der Rest des Bildes ist in einen diffusen Dunst gehüllt, als hätte jemand ein paar Mal mit einem Lappen über die frische Farbe gewischt. Man könnte aus dem Werk ein Suchspiel machen, denn darauf ist ein Hase versteckt. Ganz klein rennt er knapp vor der Lokomotive über die Gleise.
Dass die Farbe an dieser Stelle im Laufe der Zeit an Deckkraft verloren hat, macht die Suche nicht leichter. Der Hase illustriert die Geschwindigkeit, mit der die Eisenbahn unterwegs ist. Turner hat dieses Detail nur angedeutet, genau wie links im Bild ein kleines Ruderboot und rechts einen von Pferden gezogenen Pflug. Beide Details wirken noch wie aus vorindustriellen Zeiten, langsam und entschleunigt.
Aber warum verschleiert Turner sein Motiv? Der Maler ist berühmt für sein Interesse an Naturphänomenen und für seine atmosphärische Malweise, die fast ins Abstrakte geht. Wie der Titel verrät, sehen wir eine verregnete Landschaft, überall wirbeln Wolkenfetzen und Nebel umher. Die Zugfahrt dürfte kein Spaß gewesen sein, denn bei näherer Betrachtung kann man erkennen, dass die Personenwaggons kein Dach haben – ein tropfnasser Trip.
Der Dampf von Lokomotiven hielt sich damals noch in Grenzen, nur drei kleine Wölkchen schweben über dem Zug. So, wie in Cartoons Bewegungslinien hinter schnell rennende Figuren gezeichnet werden, so kreiert Turner durch die unscharfe Umgebung und die Regenschlieren ein Gefühl von Dynamik.
Turner ging es weniger um eine exakte Wiedergabe der Szenerie, sondern vielmehr darum, die Kraft der Natur und der Technik einzufangen. Seine Malweise war revolutionär und sein Umgang mit Malmaterial wild. Manchmal tupfte er bei Aquarellen die Farbe sogar mit Brotkrumen ab – seine Werke sind also alles andere als brotlose Kunst!

