Die Morgensonne verzaubert die Landschaft. Sanfte Hügel erscheinen noch sanfter - und sogar Möhrshausen, ein kleines Dorf an der Pfieffe, wirkt wie ein Weiler aus dem Auenland. Tau liegt auf den Feldern und Dächern. Das Flüsschen fließt ruhig. Ein, zwei landwirtschaftliche Fahrzeuge sind zu sehen. Sie machen sich an die Arbeit, gelenkt von der Hand eines fleißigen Menschen. Dank ihnen gibt es auch heute Kartoffelsalat und Würstchen in vielen Kantinen und Küchen.
So ähnlich mag es schon vor vielen Jahren, ja, Jahrhunderten ausgesehen haben. Ich schaue aus dem Fenster eines ICE auf der Fahrt von Frankfurt nach Berlin, der mit 235 Stundenkilometern klimafreundlich durch die Mitte Europas rast. Durch ein Land, das noch verschlafen wirkt. Es ist 8.30 Uhr, und nur wenige Autos fahren auf den Straßen. Menschen ohne Gefährt sind aus dem Fenster des Zuges so gut wie gar nicht zu sehen. Nur ganz vereinzelt stehen sie schon in ihren Kleingärten und bereiten sich und ihr Land auf den Tag vor.
Könnte es an diesem menschenleeren Gelände liegen, dass mir dieses Deutschland gerade so romantisch, so idyllisch, so enthoben von den Wirrnissen der Welt erscheint? Würde aus dem Tor des Dorfes ein buntes Gewimmel herausschwärmen, die ganze Seelenruhe des noch schlummernden Landes wäre vielleicht verschwunden. Dann würden sich Gedanken und Fragen aufdrängen, was das für Menschen sind, was sie wohl machen, wohin sie eilen.
Auch das nächste Dorf ist morgendlich leer, und selbst am Bahnhof Kassel Wilhelmshöhe, wo der Zug nicht hält, sondern langsam durchgleitet, bietet sich ein Bild ruhigen Wartens. Keine Menge, keine Hektik.
Kurz nach Kassel erscheint die still mäandernde Fulda vor meinem Fenster und lässt die kurzen Gedanken, die zu den Wartenden am Bahngleis flogen, wieder verschwinden. Nicht einmal die Autobahn neben den Gleisen mit allerdings auch nur vereinzelt dahinrollenden LKW kann die Schönheit dieses Morgens stören. Aus dem schallgedämpften Inneren des Zuges, der mehr als doppelt so schnell wie die meisten Fahrzeuge dahingleitet, wirken sie wie niedliche, harmlose Boten einer anderen Welt.
Und auch im Inneren des Zuges ist die Stimmung ruhig. Der Blick durch den Großraumwagon fällt auf kein anderes Gesicht. Nur leere Sitze, weiter hinten der gebeugte Kopf eines brav arbeitenden Mannes im ordentlichen Anzug und der gerade Rücken einer konzentriert lesenden Frau mit schickem Koffer und smarter Kleidung. Niemand telefoniert, es ist keine Musik aus einem Smartphone zu hören, nicht mal aus schlecht sitzenden Kopfhörern eines Mitreisenden dringt ein Laut.
So oft wird beklagt, dass die Gesellschaft in Blasen zerfällt, dass ein WIR verloren geht. Aber ehrlich, gerade finde ich es sehr schön, ganz bei mir sein zu können, ungestört von allem Geschrei der Welt. Nun, die anderen sind trotzdem da: Sie fahren den Zug, kontrollieren die Tickets, wachen über das Schienennetz. Ohne die, die den Zug erdacht und gebaut haben, ohne all die Menschen, die diese einsame Ruhe erst möglich machen, wäre sie nicht so erholsam. Und gleich ist die Ruhe vorbei, in Berlin wartet die Hektik. Danke, für die kleine Flucht.