Meine Mutter ist 77 Jahre alt. Seit dem Sturz des Assad-Regimes hegt sie einen einfachen Wunsch: Syrien noch einmal zu besuchen, ihre Geschwister nach langer Trennung in die Arme zu schließen und am Grab ihrer Mutter zu stehen. Das wäre für sie eine Reise zurück zu ihren Wurzeln. Doch dieser Traum bleibt unerreichbar, denn meine Mutter könnte danach nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.
Denn niemand, der als Flüchtling in Deutschland lebt, darf sein Herkunftsland besuchen und danach wieder einreisen. Durch seinen Besuch im Herkunftsland würde sein Schutzstatus erlöschen, die Aufenthaltserlaubnis könnte widerrufen werden, im schlimmsten Fall droht die Abschiebung. Für meine Mutter ist dieses Risiko zu groß. Sie hat also keine andere Wahl, als ihre Sehnsucht zu unterdrücken – ein Schicksal, das sie mit rund 713.000 syrischen Schutzsuchenden in Deutschland teilt.
Diese strenge Regelung offenbart einen Widerspruch. Einerseits betonen Politiker seit Monaten die Notwendigkeit der Rückkehr von Syrer*innen in ihre Heimat. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) sprach sich wiederholt für verstärkte Anreize zur Rückkehr aus. Programme wie REAG/GARP (Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Programme) bieten finanzielle Unterstützung: 200 Euro Reisegeld pro Erwachsenem, 100 Euro pro Kind und 1000 Euro Starthilfe für jeden Erwachsenen, 500 Euro je Kind, maximal 4000 Euro für Familien. Doch diese Anreize sind wenig überzeugend: In den neun Monaten seit Assads Sturz verließen weniger als 2000 Menschen Deutschland, um in Syrien ein neues Leben zu beginnen.
Rückkehr wird gefordert, aber gleichzeitig blockiert
Denn kein vernünftiger Mensch würde alles aufgeben und unvorbereitet nach Syrien zurückkehren. Wer einen solchen Schritt erwägt, muss zunächst die Situation einschätzen können: Wie ist die tatsächliche Sicherheitslage? Gibt es Möglichkeiten, wieder Fuß zu fassen? Wie fühlt es sich an, nach Jahren der Vertreibung in die Heimat zurückzukehren? Diese "Erkundungsreisen" sind notwendig – doch die Politik verhindert sie. Ein Teufelskreis: Rückkehr wird gefordert, gleichzeitig aber der erste Schritt dorthin blockiert.
Die Folgen sind verheerend. Menschen wie meine Mutter befinden sich weiterhin in einem Zustand der Ungewissheit. Sie können nicht nach Syrien reisen, ohne in Deutschland alles zu verlieren. Gleichzeitig hören sie ständig politische Stimmen, die von Rückkehr sprechen. Diese widersprüchliche Botschaft vergiftet die Atmosphäre: Man fühlt sich nicht willkommen und zugleich unfrei.
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Nur diejenigen, die einen deutschen Pass oder eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis haben, können sich in Syrien umschauen und nach Deutschland zurückkommen. Die Erfahrungen von vielen, die das gemacht haben, zeigen, dass ein Besuch vieles verändern kann. Viele kehrten mit mehr Hoffnung zurück, als sie zuvor hatten. Sie sahen nicht nur die Zerstörung, sondern auch Ansätze eines Neuanfangs. Doch gerade diejenigen mit deutschem Pass oder unbefristeter Aufenthaltserlaubnis möchte die Politik gern in Deutschland behalten. Denn unter ihnen sind viele qualifizierte Arbeitskräfte. Tausende Ärzt*innen und Pflegekräfte aus Syrien arbeiten im deutschen Gesundheitssystem, das ohne sie noch stärker unter Druck geraten würde. Gleichzeitig benötigt Syrien dringend Fachkräfte, die beim Wiederaufbau helfen können. Solange Deutschland keine realistischen Perspektiven eröffnet, bleiben die Syrer in einer erzwungenen Stagnation gefangen.
Frankreich könnte ein Vorbild sein
In anderen Ländern wird nach Lösungen gesucht. Nachdem eine Gruppe von Syrern Emmanuel Macron in einem Brief darum gebeten hatte, nach Syrien zurückkehren zu können, ohne ihren Schutzstatus zu verlieren, hat der französische Außenminister Jean-Noël Barrot im Februar im Parlament die Möglichkeit von Ausnahmen angekündigt. Syrer*innen sollten "vorübergehend nach Syrien reisen" dürfen, um Familienmitglieder zu treffen oder zu schauen, ob das eigene Haus noch steht. So könnten sie auch ohne einen "zwingenden Grund" bis zu drei Monate in ihr Heimatland gehen und wieder nach Frankreich zurückkehren.
Auch die Türkei verfolgt einen pragmatischeren Ansatz. Dort leben nach offiziellen Angaben etwa 2,5 Millionen Syrer und Syrerinnen. Zwischen dem 1. Januar und dem 1. Juli 2025 erhielt eine Person pro Familie die Möglichkeit, sich in Syrien umzusehen und danach wieder in die Türkei zurückzukehren. Insgesamt sind von Jahresbeginn bis Mai 2025 über 140.000 Syrer und Syrerinnen in ihre Heimat zurückgekehrt.
Meine Mutter sehnt sich nach einem Besuch in ihrer Heimat. Ob sie dauerhaft zurückkehren würde, weiß sie nicht. Vermutlich wäre es ein Abschiedsbesuch. Ihr Traum ist menschlich und verständlich – aber politisch unmöglich. Darin liegt das Dilemma: Die deutsche Politik fordert die Rückkehr, verhindert jedoch jede Vorbereitung darauf.