Niemand ist mehr überrascht, wenn einmal im Jahr verkündet wird, wie viele Menschen wieder aus der Kirche ausgetreten sind. Auch dieses Mal sind die Zahlen nicht schön. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat heute vermeldet: Es gab Anfang 2025 noch 17.980.000 Protestanten in Deutschland. 345.000 Menschen sind im Jahr 2024 aus einer der evangelischen Landeskirchen ausgetreten. Damit sank die Zahl der Mitglieder 2024 im Vergleich zum Vorjahr um rund 3,2 Prozent.
Aber die Kirchen haben sich sowieso abgewöhnt, aus diesen Zahlen Handlungsanweisungen für ihre Arbeit abzuleiten. Die Menschen treten eh aus, egal was wir tun – das scheint die Haltung zu sein. Manch einer spricht gar von "palliativer Ekklesiologie". Es geht nur noch darum, das Sterben zu verwalten.
Nachrichten aus unserem Nachbarland Frankreich setzen einen schönen Kontrapunkt: Zum zweiten Mal in Folge waren dieses Jahr die Aschermittwochsmessen in den katholischen Kirchen des Landes überfüllt mit Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren. Was auch immer dahinter steckt, es zeigt: Kirche ist nicht tot.
Xandro Pachta-Reyhofen ist Priester in der nordfranzösischen Stadt Amiens. Dort steht die größte Kathedrale Frankreichs. Sie ist 145 Meter lang und erst voll, wenn deutlich über 1000 Menschen in ihr einen Platz gefunden haben. Der Priester berichtete kürzlich in der Zeitschrift "Communio", dass die Kirche auch dieses Jahr so voll war, dass die Menschen stehen mussten. Er schätzt, dass etwa 95 Prozent der Besucher und Besucherinnen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren waren. Für jemanden, der die Verhältnisse in deutschen protestantischen Kirchen gewohnt ist, hört sich das unwahrscheinlich an.
Ein Anruf bei Pachta-Reyhofen: Es sei wirklich ganz außergewöhnlich gewesen, berichtet er. 2000 junge Frauen und Männer hätten allein in Amiens Messen in den unterschiedlichen Kirchen besucht. Niemand habe bisher eine gute Erklärung dafür. Seiner Einschätzung nach hätten zwei Dinge eine Rolle gespielt:
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Zum einen gebe es ein Gefühl völliger spiritueller Haltlosigkeit. Die Eltern hätten diesen jungen Menschen, die zu den Messen kommen, keinen Glauben vermittelt. Teilweise würden sie sogar gegen den Widerstand der Eltern in die Kirche kommen. Sie suchten, so der Priester, nach ihren Wurzeln.
Zum anderen seien auch in Frankreich in den sozialen Medien viele Videos von evangelikalen Influencern zu finden. Sie hätten diese Videos gesehen, berichteten viele der jungen Menschen. Daraufhin suchten sie die nächste Kirche in ihrer Umgebung - in Frankreich sei das eben meistens eine katholische. Pachta-Reyhofen erzählt, dass er öfter junge Leute durch die Kirche streifen sehe, die – so kommt es ihm vor – zum ersten Mal Tuchfühlung aufnehmen würden. Man dürfe das alles nicht überschätzen, die meisten seien nicht sonderlich an einer Kirchenbindung interessiert.
Auch wenn dieses neue Phänomen bisher auf Frankreich beschränkt ist und noch nicht wirklich erklärt werden kann, könnte es für die Kirchen in Deutschland ein Zeichen sein. Die Menschen suchen nach Sinn, auch wenn immer wieder Untersuchungen das Gegenteil behaupten. Und die Kirche bietet Sinn an - und zwar den wirkmächtigsten dieser Welt. Die christliche Botschaft von Gott, der die Menschen liebt und zugleich fordert, muss sich nicht verstecken und ist noch lange nicht tot.