Es ist eine ständige Gratwanderung. Da ist einerseits der Wunsch nach Nähe und Innigkeit, andererseits das Bedürfnis nach Abgrenzung und Autonomie. Es gibt kaum eine Tochter, die diesen Spagat nicht kennt, dieses Ringen im Verhältnis zur Mutter. Es heißt, Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen seien einfacher, weil sich die Söhne nicht mit ihren Müttern vergleichen. Studien zeigen tatsächlich, dass zwischen Müttern und Töchtern mehr Reibung ist. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist oft sehr eng und konfliktreich zugleich. Ich selbst habe das so erlebt mit meiner Mutter, die ich über alles geliebt habe. Aber Liebe schließt Konfrontation nicht aus. Diese Ambivalenz muss man aushalten, als Tochter wie auch als Mutter.
Töchter wollen sich nicht nur von ihren Müttern abgrenzen, sondern auch von herkömmlichen Rollenmustern. Sie wollen nicht die angepasste Ehefrau sein, die ihre eigenen Bedürfnisse zurücksteckt – eine Rolle, die ihnen die Mutter häufig vorgelebt hat. Sie wollen etwas reißen, Eigenes auf die Beine stellen. Und das nicht verteidigen müssen. Gleichzeitig wollen sie die Nähe, die Vertrautheit mit der Mutter nicht aufgeben. Auch das ist eine Gratwanderung.
Neue Bücher über Mutter-Tochter-Beziehungen
Wie kompliziert diese Mutter-Tochter-Dynamiken sein können, zeigen gleich mehrere spannende Romane, die in diesem Frühjahr erscheinen. Die von Liebe, Wut, Aufbegehren, Verzweiflung und Hilflosigkeit erzählen. Das alles findet sich etwa in Kristine Bilkaus subtilem Buch "Halbinsel", das 2025 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, oder in dem herausragenden Wurf von Roddy Doyle, "Die Frauen hinter der Tür". Die Schauplätze und sozialen Milieus in den Büchern des Iren und der norddeutschen Autorin könnten nicht unterschiedlicher sein. Trotzdem beschreiben sie eine verblüffend ähnliche Konstellation: Die erwachsene Tochter, die schon längst ausgezogen ist, gerät in Schwierigkeiten und kehrt in einem Akt der Regression nach Hause zur Mutter zurück. Aus Tagen werden schnell Wochen oder sogar Monate, in denen sich die Tochter von der Welt zurückzieht. Das Besondere: Die Tochter begibt sich freiwillig in Abhängigkeit, sucht die Nähe zur stützenden Mutter und versucht gleichzeitig, die eigene Autonomie zu wahren. Eine verschärfte Herausforderung für alle Beteiligten.
Linn, die junge Umweltaktivistin in Kristine Bilkaus Roman, kippt plötzlich um, während sie einen Vortrag über Emissionshandel und CO₂-Zertifikate hält – Kreislaufzusammenbruch. Die Mittzwanzigerin kehrt zurück zu ihrer Mutter nach Nordfriesland, der Vater ist viele Jahre zuvor gestorben. Annett hat Probleme, an die schweigsame Tochter heranzukommen, die meint, Ruhe zu brauchen. Beide Frauen bleiben in ihrer Hilflosigkeit gefangen: Annett kann ihre abweisende Tochter nicht nachhaltig stützen, Linn will sich von ihr nicht aufbauen lassen und schafft es zunächst nicht, sich selbst zu helfen. Selten kommt es zu offenen Auseinandersetzungen, eine versteckte Aggressivität liegt in der Luft. Die Mutter – die 49-Jährige ist die Ich-Erzählerin des Romans – spürt Ärger, aber auch Abwehr gegenüber der Tochter: Warum ist Linn, die so energiegeladen ins Leben gestartet ist, für eine gute Sache gekämpft hat, plötzlich so lethargisch? Linn wiederum hat das Gefühl, von der Mutter unter Druck gesetzt zu werden: "Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin wie ein Projekt für dich. Ich soll deinen Ehrgeiz befriedigen, den du dir selbst aber nie eingestehen würdest", wirft sie der Mutter, die seit Jahren in einer Bibliothek arbeitet, schließlich an den Kopf.
Linn trifft hier einen zentralen Punkt. Wann ist ein Kind, eine Tochter, erwachsen? Wenn sie sich frei macht von den Erwartungen und Aufträgen der Mütter? Eltern geben ihren Kindern oft Botschaften mit auf den Weg, ausgesprochen oder unausgesprochen, die ihre Kinder erfüllen sollen. Nicht selten sind das Ziele, die die Mütter in ihrem Leben nicht verwirklichen konnten. Ein Studium, ein guter Job, eine emanzipierte Beziehung. Die erwachsenen Töchter wiederum ringen darum, eigene Werte und Lebensmodelle zu finden, nachdem sie das Mutter-Kind-Machtgefälle hinter sich gelassen haben.
Diesen typischen Generationenkonflikt führt Kristine Bilkau in die "Halbinsel" eindrucksvoll vor, in einer klaren, schnörkellosen Sprache. Das Problem der Überbehütung, die es für die Jüngeren schwer macht, eigenständig zu werden – auch Annett ist eine typische Helikoptermutter – spitzt der für klare Worte bekannte Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch süffisant zu: "Früher sind die Kinder häufig hinter die Büsche gegangen, um sich vor den Erwachsenen zu verstecken. Und heute steht hinter jedem Busch eine Mutter." Auch damit müssen die Youngster klarkommen – und Klarheit schaffen.
Geheimnisse, Ungeklärtes, Tabus. Es gibt sie in vielen Mutter-Tochter-Beziehungen, sie schwelen, sie belasten. Irgendwann lassen sie sich nicht mehr klären, nämlich dann, wenn die Mütter tot sind. Da ist der Wunsch, den ich selbst auch sehr gut kenne: Man möchte die Mutter vieles fragen, das unausgesprochen geblieben ist. Klarheit kann schmerzlich sein, verletzen, aber auch Distanz überwinden, eine neue Nähe erzeugen. Diesen Schritt zu gehen, muss man sich aber erst mal trauen.
Genau das führt uns Kristine Bilkau in ihrem Roman vor. Linn wirft ihrer Mutter vor, die persönlichen Sachen ihres Vaters in Kisten in den Keller verbannt zu haben, außer Sichtweite. Die Mutter wollte nicht an Johans frühen Tod erinnert werden. In ihren Worten ist er nicht gestorben, sondern "nicht vom Laufen zurückgekehrt". Linn entlarvt die Verharmlosungsstrategien der Mutter, Annett muss sich eingestehen, dass ihre Tochter recht hat. Vielleicht wäre all das, was die beiden Frauen jetzt miteinander ausfechten, nie ans Tageslicht gekommen, wenn Linn nicht den Rückzug zur Mutter angetreten hätte.
Heftige Streitausbrüche zwischen Mutter und Tochter bei Roddy Doyle
Während es im Buch der Hamburger Autorin eher gesittet zugeht, Konflikte häufig in wohl gewählten Worten ausgetragen werden, fliegen bei Roddy Doyle die Fetzen. Hier wird geschrien, gekreischt, gepöbelt, gekotzt, geboxt, ein Schimpfwort gibt das nächste. Die Tochter wirft der Mutter schon mal "Du blöde Fotze" an den Kopf, die Mutter knallt der Tochter "Leck mich am Arsch!" ins Gesicht. Zwei Frauen, zwei Furien, zwei sanfte Lämmer – all das und vieles dazwischen. Macht es etwas, dass hier ein Mann über die innersten Gefühle von Frauen schreibt? Klare Antwort: Nein. Kann er das? Ja, und ob!
Wir sind in Dublin, zu Hause bei Paula Spencer, Mutter von vier Kindern, Großmutter, Witwe – ihr Mann Charlo ist vor Jahren gestorben. Die 67-Jährige, die in einer Reinigung arbeitet, ist jetzt autonom, jahrelang war sie Opfer, als ihr Mann sie immer wieder geprügelt hat, Knochenbrüche inklusive. Paula ist es gelungen, den Alkohol aus ihrem Leben zu verbannen, jetzt ist sie trocken, nur den Selbsthass wird sie nicht los. Früher, als Charlo noch lebte, hat er sie runtergeputzt, jetzt macht sie es selbst. Sie empfindet Scham vor ihren Kindern, weil sie es zugelassen hat, von ihrem Mann verdroschen zu werden, Schuldgefühle, weil sie vom Alkohol nicht loskam. Keine Vorbildmutti, keine Frau, der man nacheifern möchte.
Eines Tages steht Nicola bei ihr vor der Tür, ihr ältestes Kind und Vorzeigetochter, die "Little Miss Perfect". Nicola, Mutter von drei Töchtern, die gut verdient, einen netten Mann hat. Nicola will bei der Mutter bleiben, wie lange, ist unklar. Was ist passiert? Geschickt lässt Roddy Doyle lange im Dunkeln, was die Tochter zurück zur Mutter getrieben hat.
Warum kommt die Tochter zurück zur Mutter?
Paula kümmert sich um die Tochter, macht ihr zu essen, versucht, ihren alarmierten Ehemann und die Töchter zu beruhigen. Nicola lässt Paula, wenn auch widerstrebend, in ihrer Mutterrolle gewähren. Jahrelang war sie es gewesen, die sich um ihre alkoholisierte Mutter gekümmert hatte. In der Psychologie heißt das Phänomen, wenn Kinder die Rollen der Eltern übernehmen, Parentifizierung. Eine Rolle, die die Kinder überfordert, ihnen psychisch mehr abverlangt, als sie in ihrem Alter normalerweise leisten können. Und die es ihnen schwer macht, Autonomie zu gewinnen, weil sie sozusagen in einer Zwangsnähe gefangen sind. Ihr Streben nach Unabhängigkeit läuft ins Leere. Jetzt aber ist Paula am Zug, die Rollen umzudrehen, der Tochter tatsächlich eine Mutter zu sein, ihr den Schutz zu geben, den die Tochter bei ihr sucht. Nicola holt also etwas nach, das sie früher nur unzureichend bekommen konnte.
Allmählich wird klar, warum Nicola von zu Hause geflohen ist. Es ist ein altes Trauma, das mit Missbrauch zu tun hat und mit dem sie plötzlich wieder konfrontiert wird. Mit ihrem Mann kann sie nicht darüber sprechen, mit ihrer Mutter – nach einigem Ringen und Zögern – schon. Weil letztlich die Nähe und Vertrautheit zur Mutter so stark sind, dass sich Nicola mit all ihren Kümmernissen bei ihr aufgehoben fühlt. So ist auch in Roddy Doyles Roman die Rückkehr der Tochter schließlich ein Katalysator für die Beziehung, eine Möglichkeit, Klartext zu reden, Unausgesprochenes ans Licht zu holen.
Der Roman des Booker-Preisträgers ist brutal und herzzerreißend zugleich, steckt voller pointierter Dialoge, Zeitsprünge und dramaturgischer Spannung. Kristine Bilkaus Herangehensweise ist vorsichtiger, sie lässt uns zwischen den Zeilen lesen und schafft ein feinnerviges Beziehungsgeflecht. Eines aber wird in beiden Büchern klar: Wut und Zuneigung, Liebe und Ablehnung, Nähe und Distanz liegen ganz eng beieinander. Mütter und Töchter müssen diese Widersprüche aushalten, auch wenn das eine Herkulesaufgabe ist. Aber diese Aufgabe hat auch ihr Gutes: Je vielschichtiger ihre gemeinsame Beziehung ist, umso mehr kann sie in all ihren Facetten schillern. Es wäre doch schrecklich, wenn man nur das Nötigste miteinander sprechen und füreinander empfinden würde. Letztlich ist es ein Zeichen von Stärke, sich gegenüber der Tochter oder der Mutter schwach zeigen zu können – Autonomie hat eben auch ihre Grenzen. Aber diesen Mut muss man erst mal aufbringen.