Gotteshäuser
Wozu brauchen wir Kirchengebäude?
Es gibt so viele Kirchen und Kapellen in Deutschland und auf der Welt. Manche werden selten genutzt. Andere müssen abgerissen werden. Ist das schlimm?
Reflexion eines bunten Kirchenfensters auf einen dunklen Hintergrund
Lisa Rienermann
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
25.09.2024
3Min

Zu den wenigen erfreulichen Folgen der Corona-Pandemie gehören die Freiluft-Gottesdienste, die viele Kirchengemeinden seither im Sommer feiern. Was als Notmaßnahme begann, ist inzwischen eine beliebte Gewohnheit geworden. Mit Gottesdiensten im Pfarrgarten, auf dem Kirchvorplatz oder im städti­schen Park öffnen sich ­Kirchgemeinden. Sie lassen die Kirchen­mauern hinter sich – und ­siehe da, es kommen Menschen, ­denen die Schwelle zu einem In­door-Gottesdienst zu hoch wäre. Einige Menschen scheinen Kirchengebäude gerade nicht zu brauchen.

Auch das frühe Christentum kam sehr lange ohne Gebäude aus. Die ersten Gemeinden trafen sich am Sonntagmorgen im Freien, um Gottes Wort zu hören, zu beten und zu singen, oder in Privathäusern von Gemeindegliedern, um Abendmahl zu feiern. Für mehr hatten sie ­weder Bedarf noch Mittel. Erst als die ­Kirchen – beginnend im 3. und 4. Jahrhundert – zu gesellschaftlichen Größen heranwuchsen, fingen sie an, geräumige, öffentlich zugängliche, anspruchsvoll gebaute und künst­lerisch gestaltete Sakralbauten zu errichten.

Eben noch war es der Stolz der jungen Christenheit gewesen, im Unterschied zur religiösen Umwelt keine Tempel zu besitzen. Jetzt ließen Kaiser, Fürsten, Bischöfe und Äbte heilige Orte bauen. Über diesen epochalen Umschwung hat es keine größeren theologischen Debatten gegeben, jedenfalls ist nichts überliefert. Galt es nun, da die Kirchen in der Mitte der Gesellschaft angekommen waren, als selbstverständlich, dass Kirchbauten gebraucht wurden?

Es folgte eine ungeheuer kreative Geschichte des Bauens und Gestaltens – bis in die Gegenwart –, deren Vielfalt und Reichtum selbst Fachleute nicht mehr überblicken können. Auch wenn Christenmenschen eigentlich wissen, dass sie auf dieser Welt keine feste Bleibe haben (Hebräerbrief 13,14), haben sie offenkundig das Bedürfnis, religiös und ­ästhetisch bedeutsame Immobilien zu ­besitzen. Wo sonst ließen sich sorgfältig geplan­te Liturgien durchführen, könn­ten größere Menschenmengen längere Predigten hören, sollten einzelne Gläubige zur Besinnung kommen? Über lange Zeit dienten monumentale Kirchbauten allerdings auch politischen Zwecken. Mit ihnen konnten die Kirchen ihre Macht öffentlich ausstellen.

Lesen Sie hier: Wie eine ehemalige Kirche zum Wohnheim umgebaut wurde

Gerade Deutschland verfügt über eine einzigartige Fülle an alten­ und modernen Kirchbauten. Bislang ­wurden sie von den evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern mit ihren Beiträgen finanziert (wobei natürlich der staatliche und der zivil­gesellschaftliche Denkmalschutz viel mitgeholfen haben). Mit dem demografischen Wandel, der nachlassenden Kirchenbindung und der abnehmenden Bereitschaft, ­Kirchensteuern zu zahlen, wird dies so­ nicht weitergehen. Kirchengemeinden ­stehen vor schweren Fragen: ­Welche Kirchbauten und Gemeindehäuser brauchen wir? Was können wir uns leisten? Das führt vielerorts zu harten Entscheidungen: Sakralbauten werden anders oder neu genutzt, ab- und aufgegeben oder abgerissen.

Das ist nicht nur für die Gemeinden ein Verlust. Denn Kirchen sind nie nur Kirchen. Sie sind Kultur­orte, in denen regionale, nationale und europäische Traditionen und Kunstschätze aufbewahrt sind. Sie sind Gedächtnis­orte, an denen ein Gemeinwesen sich seiner Geschichte erinnert. Sie sind Versammlungsorte, an denen auch nichtkirchliche Nachbarn ein Interesse haben. Besonders die Dorfkirchen-Vereine in den östlichen Bundesländern haben seit der Wiedervereinigung gezeigt, dass sich viele Gemeinden ihren Ort ohne ­Kirche nicht vorstellen können.

Diesen Vereinen, die viele kirchlich nicht gebundene Mitglieder haben, ist es mit großem Einsatz gelungen, zahlreiche Türme zu retten, Dächer zu decken, Mauern zu sichern, Altäre und Orgeln zu sanieren. Daraus lässt sich lernen: Kirchbauten haben dann eine gute Zukunft, wenn den Menschen vor Ort bewusst wird, dass sie sie – religiös, kulturell oder sozial – brauchen. Dann finden sie die nötigen Ideen und Finanzmittel. Man kann es auch umgekehrt sagen: Nicht nur wir brauchen Kirchen, Kirchen brauchen auch uns.