Kultstätten
Wer’s baut, wird selig
Zarte Schreine im Sand, Wasserflaschen für die heilige Difunta: Menschen schaffen sich die seltsamsten religiösen Orte. Wer sich darauf einlässt, wird staunen.
Sachbuch - Wer’s baut, wird selig
Gräberfeld muslimischer Uiguren in der Provinz Xinjiang. Die bunten Fähnchen an den Zweigen markieren Gebete oder Wünsche der Hinterbliebenen
Studio Lisa Ross.com
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
Aktualisiert am 21.08.2024
13Min

Ausflüge in ferne ­Länder - die kann oder mag nicht jeder unternehmen. Doch es gibt einen altbewährten, die Umwelt schonenden Ersatz, um seine Weltneugier zu befriedigen: über fremde Länder lesen und dann die eigene Umgebung mit neuen Augen betrachten. Dabei wird man vieles entdecken, was einem neu, über­raschend, erschreckend oder anrührend erscheint.

Schaut man genauer hin, können einem sogar kleine Offenbarungen widerfahren. Denn die Welt ist voller ­Religion, ob es einem nun gefällt oder nicht. Der west­europäische Blick ist gefangen in der Vorstellung, dass es nur religiöse Traditionsabbrüche und kirchliche Bedeutungsverluste zu verzeichnen gäbe. Wer sich aber in anderen Weltgegenden umtut, dem dürften die Augen übergehen angesichts der vielen und vielfältigen Gestalten von Religion. Das ist zum Staunen, manchmal auch zum Erschrecken. Und wie ist das zu Hause? Sogar dort wartet manche religiöse Überraschung.

Religion gibt es nicht an und für sich, sondern immer nur in einer konkreten Gestalt, und das heißt nicht zuletzt: an diesem oder jenem Ort. Protestanten meinen, der Geist des Glaubens könne überall wehen, wo er nur will. Dabei übersehen sie, dass Religionen sich immer beheimaten, ohne eigene Land- und Ortschaften nicht zu denken sind: Berge, auf deren Gipfeln die Götter wohnen, Flüsse, ­deren Wasser ewiges Leben spendet, riesige Steine, die vom Himmel gefallen sein müssen, Quellen, die Sünden ab­waschen, Gräber, an denen man Heilung erfährt.

Solche religiösen Orte erscheinen einem zunächst schlicht als "seltsam". Doch was ist damit gemeint? In diesem alltäglichen Adjektiv schwingt vieles und Widersprüchliches mit: eine touristische Verwunderung, ein exotischer Reiz, eine kulturelle Verstörung, aber nicht selten auch eine tiefere Faszination. Es lohnt, sich mit Zeit und Geduld auf solche "seltsamen" Orte einzu­lassen, nicht gleich eine Meinung zu äußern oder ein Urteil zu fällen. Denn dumm ist, wer sich über Fremdes, das er oder sie nicht versteht, nur empören oder amüsieren kann. ­Interessant wird das Leben, Reisen und Lesen erst, wenn man anderes wirklich wahrnimmt und dabei sich selbst infrage stellt. Es ist zwar allzu menschlich, dass man sich für normal und nur die anderen für seltsam hält. Aber wer sich mit religiösen Orten beschäftigt, dem kann dieser irritierende, heilsame Gedanke aufgehen: "Vielleicht verhält es sich ja andersherum, und ich selbst bin der Seltsame."

Schreine am Wegesrand

Das erste Mal, dass mir die Bedeutung seltsamer ­religiöser Orte aufgegangen ist, war in Argentinien. Nach meinem Theologiestudium habe ich dort ein Jahr lang als "Hilfspastor" gearbeitet. Schon bei meinen ersten Fahrten durch das Land waren mir die Haufen von Wasserflaschen an Fernstraßen und Tankstellen aufgefallen. Als deutscher, in säuberlicher Müllentsorgung geübter Gast sah ich darin zunächst nur eine Umweltverschmutzung. Dann lernte ich die Geschichte der Difunta Correa kennen. Ich entdeckte die vielen kleinen Schreine am Wegesrand, mir begegneten an ungezählten Lastwagen ihr Namenszug und ihr Bild: ­eine auf dem Rücken liegende, junge Frau mit geschlossenen Augen und einem Säugling an der Brust.

Argentinien - Eine Frau verdurstet, das Kind an ihrer Brust überlebt − so die Legende. Die Difunta Correa ist die Patronin der armen Landbevölkerung und der Lastwagenfahrer, die ihr am Wegesrand Berge von Plastikflaschen darbringen, gefüllt mit Wasser

Der Kult der Difunta Correa gründet auf einer Legende. Es war im Jahr 1841, in Argentinien herrschte wieder einmal Bürgerkrieg, da verließ eine junge Frau namens María Antonia Deolinda y Correa fluchtartig ihr Heimatdorf im fernen Nordwesten. Ihr Mann war verschleppt und zwangsrekrutiert worden. In Sorge um ihn und aus Angst vor der Rache des örtlichen Machthabers eilte sie ihm nach, hinein in die Wüste. Sie hatte keine Zeit gehabt oder einfach nicht daran gedacht, Proviant oder vor allem Wasser mitzunehmen. Nur das erst vor kurzem geborene Kind trug sie auf ihren Armen. Der unerbittlichen ­Hitze war sie wehrlos ausgeliefert. Nach wenigen Tagen war sie so erschöpft, dass sie sich unter einen Baum legte und ­verdurstete.

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Einige Tage später entdeckten Gauchos sie und das Kind. Die Mutter war tot – aber das Kind, es lebte! Es lag an der Brust seiner Mutter und trank deren Milch. Über ­ihren Tod hinaus hatte die Difunta Correa, die ­"verstorbene ­Correa", ihr Kind gestillt. Bei einem Hügel in Vallecito, dem "kleinen Tal", begruben die Hirten die tote Frau. Nur ein einfaches Holzkreuz schmückte ihr Grab. Das ­gerettete Kind aber nahmen sie mit hinaus aus der Wüste und ­erzählten allen von dem Wunder.

Wie es mit diesem Kind oder seinem Vater weiterging, erzählt die ­Legende nicht mehr. Denn viel wichtiger ­waren die vielen weiteren Wunder, die die Difunta Correa nach ihrem Tod bewirkte. Sie führte Gauchos zu Tieren, die sie verloren hatten, und half Bauern in Not. So wurde sie zur Patronin der armen argentinischen Landbevölkerung.

Bei welchem Unglück auch immer baten sie ­Difunta Correa um Hilfe. Mit Gebeten wie diesem, in dem so ­einiges zusammenfließt: "O liebenswürdige Frau, Difunta Correa, hervorragende Beschützerin derer, die leiden und weinen, wir bitten dich, nimm unser flehentliches Gebet gnädig an. Durch die Vermittlung unseres Herrn Jesus Christus gewähre uns die Gnade, um die wir dich bitten! Ich vereinige mich mit dir und flehe: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade . . ."

Eine Million Besucher pro Jahr in Vallecito

Für umsonst allerdings gibt die Difunta Correa nichts. Sie erwartet Gegengaben, zum Beispiel eben Flaschen mit Wasser am Wegesrand. Nach größeren Gnaden­erweisen hat man sie zu besuchen. So wurde Vallecito zu einem sehr beliebten Wallfahrtsort. Zu Ostern kommen Hundert­tausende in die heiße, trockene Menschenleere der ­Provinz San Juan. Über das Jahr sollen es eine ­Million Besucher sein. Sie alle haben die Difunta Correa um ­etwas gebeten, ihr Wunsch wurde erfüllt, nun bringen sie ihre Gegen­gabe. Sie steigen den Hügel, der über und über mit kleinen Schreinen bedeckt ist, hinauf zu ihrer Kapelle. Manche schleppen sich die 70 Stufen auf den Knien ­empor. Einige quälen sich sogar auf dem Rücken und mit einem kleinen Kind auf ihrem Bauch nach oben.

Litauen - In der Nähe der Großstadt Šiauliai steht der "Berg der Kreuze", ein religiös-politischer Wallfahrtsort. Die ersten Kreuze wurden wohl im 19. Jahrhundert für Litauer errichtet, die in Aufständen gegen die russische Herrschaft gefallen waren. Richtig viele Kreuze kamen nach dem Zweiten Weltkrieg hinzu: für Menschen, die im russischen Gulag oder von deutschen Besatzern ermordet wurden

In der wichtigsten der insgesamt 17 Kapellen liegt die Difunta Correa: eine bunt bemalte Gipsfigur. Unter ­Tränen streicheln die Verehrer – Männer, Frauen, Alte und ­Junge – ihre Nothelferin, küssen sie, geben ihr kleine Schlucke Wasser zu trinken. Die übrigen Kapellen sind ­unterschiedlichen Anliegen gewidmet. Besonders ­bedeutsam ist die Auto-Kapelle. Denn die Difunta ­Correa gilt insbesondere als Patronin der Reisenden und speziell der Lastwagenfahrer. Das ist in ihrer Geschichte ­begründet, aber auch in der Tatsache, dass man ­"Difunta Correa" heute mit "gerissener Keilriemen" übersetzen kann. So gleicht Vallecito einem Autofriedhof.

Volksfrömmigkeit

Als Votivgaben werden Autokennzeichen, ­Felgen und ganze Wagen herangebracht, aber auch Motorräder und Fahrräder in Mengen. Wem ein Hochzeitswunsch in Erfüllung ging, schenkt ein Brautkleid und hängt es in die dafür vorgesehene Kapelle. Sie wirkt mehr wie ein unaufgeräumtes Lager als wie ein Andachtsraum, ebenso wie die mit Uniformen vollgestopfte Kapelle der Polizisten und Sicherheitsleute. Eine andere ist mit Schulzeugnissen bepflastert, eine andere quillt von Fußball­trikots, Boxhandschuhen und Sportpokalen über.

Portugal - Diese kleine Jesusfigur mit puppenhaftem Keramikgesicht, Zylinder und Schärpe steht in einer Vitrine in der Kathedrale von Miranda do Douro und geht auf Legenden und kriegerische Zusammenhänge des 17. Jahrhunderts zurück. Die Mirandesen lieben ihren "kleinen Jungen" sehr und ziehen ihm regelmäßig andere Kleidung an − entsprechend den Farben des Kirchenjahrs

Und wohin man in Vallecito schaut, hängen Plaketten für eine gewährte Genesung, die Rettung aus einem Unfall oder die endlich eingetroffene Rente. Hinter jeder dieser Tafeln, dieser Gaben steht ein Menschenschicksal aus Verzweiflung, Schmerz, Angst, Hoffnung, Heilung und Glück. Das ergibt einen seltsamen Effekt: hier die Leere und Dürre der Landschaft, dort die Überfülle des Dankes.

Der Glaube an die Difunta Correa braucht keine Institution. Ihre Wunder wirken wie von selbst, ihre Botschaft geht von Mund zu Mund, der fromme Handel von Gabe und Gegengabe funktioniert ohne offizielle Vermittler. Wer mitmachen will, braucht nur eine Flasche mit Wasser zu füllen oder in den Norden zu reisen. Inzwischen gibt es in der katholischen Kirche eine Debatte, ob man nicht den kirchenrechtlichen Prozess einer Seligsprechung beginnen sollte. Wunder gäbe es genug. Der Erzbischof von San Juan erklärte, dass er in der Verehrung der Difunta Correa schöne Elemente entdecken könne: die Treue der Ehefrau zu ihrem Ehemann, die Fürsorge der Mutter für ihr Kind oder die Hingabe des eigenen Lebens für andere.

Allein die Wunder zählen

Man mag sich aber fragen, ob die lobenden Worte des Erzbischofs nicht zu spät kommen. Einen Widerspruch zum eigenen Katholizismus dürften wohl die wenigsten ihrer Verehrerinnen und Verehrer empfinden. Auf Youtube finden sich einige Clips, in denen sie ihren Glauben an die Difunta Correa bekennen und von deren Wundern Zeugnis ablegen. Weitergehende Fragen scheinen sie sich nicht zu stellen. Es geht ihnen allein um das Wunder, das die Wahrheit dieser Verehrung beweist. Zudem ist sie eine von ihnen, eine arme Gaucho-Frau, die wie sie unter gewalttätigen Machthabern litt, die wie sie eine gefährliche Reise antreten musste, die wie sie alles für ihre Familie tat.

Hawaii Der Mauna Kea ist für Hawaiianer ein heiliger Berg, ein Ort des Gebets und der Begegnung zwischen Lebenden und Toten, Menschen und Göttern. Aus- gerechnet hier wollen Astronomen das größte Teleskop der Welt errichten. Der Protest dagegen verbindet religiöse und nicht religiöse Hawaiianer und hat jüngere Astronomen ins Grübeln gebracht

Die Difunta Correa wendet sich denen, die zu ihr beten, einzeln zu. Regelmäßig aber werden diese zu einer Gemeinschaft. Zu Ostern oder am Nationaltag der Last­wagenfahrer – fast jede Berufsgruppe in Argentinien hat solch einen eigenen Feiertag – kommen sie in großer Zahl in Vallecito zusammen. In der Kirche wird eine Messe gefeiert und nach draußen übertragen, rote Bänder mit ihrem Namen werden verteilt, Folkloremusik mit Liedern über sie erklingt aus ungezählten Lautsprechern, auf großen Feuern werden erstaunliche Fleischmengen gegrillt – das typisch argentinische "Asado" –, es gibt Autokorsos und Misswahlen. Alles zusammen ergibt das eine spontane, fröhliche Gemeinde der Armen.

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Wie wird es mit der Difunta Correa weitergehen? Die Säkularisierung gewinnt auch in Argentinien an Wucht. Zudem werden hier, wie überall in Südamerika, evangelikale Freikirchen stärker, die in diesem volkstümlichen Kult nur eine unreine Mischung aus Katholizismus und Heidentum erkennen können. Andererseits werden die ­Armen und Hoffnungslosen in Argentinien auch nicht weniger. Vielleicht aber werden sie ­ihre religiöse Sehnsucht in Zukunft jüngeren unheiligen ­Heiligen zuwenden. Erste Anzeichen dafür sind schon bei der kultischen Trauer um den 2020 verstorbenen Diego Maradona zu beobachten.

Religion ist oft "selbst gemacht"

Der Kult um die Difunta Correa in Vallecito steht stellvertretend für das, was man "Volksfrömmigkeit" nennen könnte, wenn dies nicht so herablassend klingen würde. Und sie ist an vielen Orten der Erde sehr lebendig, auch in Süd- und Osteuropa. Religion wird keineswegs nur von Priestern und Theologen und Theologinnen rituell vollzogen, gelehrt, in Ordnung gebracht und verwaltet. Gerade da, wo sie lebendig ist, ist sie "selbst gemacht", und zwar von denen, die sie unbedingt angeht, die in ihr Trost erfahren, aus ihr Kraft schöpfen, durch sie mit anderen Menschen zu einer Gemeinschaft werden.

Mal unter unvorstellbaren Entsagungen, mal mit feinster Kreativität, mal mit beängstigendem Eifer, mal mit schlichter Liebe oder unaussprechlicher Traurigkeit gestalten sie ihre religiösen Orte und nehmen dabei ihre Religion in die eigenen Hände. Das wird in den hiesigen Religionsdebatten viel zu wenig bedacht. Denn in Deutschland ist man daran gewöhnt, Glaubensfragen an kirchliche Großinstitutionen zu delegieren, die man dann kritisiert, weil sie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, oder verteidigt – je nachdem.

Spanien - Seit 1961 baut der ehemalige Mönch Justo Gallego Martínez in einer Stadt bei Madrid an einer eigenen Kathedrale. Mit 95 kann er nicht mehr täglich 12 Stunden auf dem Bau sein, aber Kuppel und Türme sind fertig. Er baue die Kirche, um sich "von allem Weltlichen zu befreien", sagte er in einem Interview

Dabei übersieht man auf beiden Seiten dieses eingespielten "Pro und Kontra", dass die Gretchenfrage nicht auf eine gute oder schlechte Institution zielt, sondern auf den Menschen, der seinen Glauben selbst gestaltet – allein, in der Familie, der Nachbarschaft oder größeren Gemeinschaften. Und wer als wohlhabender, angeblich kritischer Westeuropäer Volksfrömmigkeiten in anderen Ländern betrachtet, kann das Gefühl bekommen, in ­einer wesent­lichen Lebensperspektive selbst etwas ärmlich dazu­stehen.

Kumbh Mela in Indien

Zum Beispiel wenn man wahrzunehmen versucht, was Menschen in Indien dazu bringt, unter ­größten ­Mühen unendlich weite Wege zurückzulegen, um mit über 100 Millionen anderen Gläubigen in einer Weltstadt auf Zeit zusammenzukommen, weil sie hoffen, am Ufer eines heiligen Flusses all ihre Unreinheit abzuwaschen. Natürlich wird man eine Massenwallfahrt wie die hinduistische Kumbh Mela im indischen Allahabad als Westeuropäer nicht wirklich begreifen. Was man selbst unter ­"Pilgern" versteht, ist offenkundig etwas ganz anderes. Aber man kann eine Ahnung davon bekommen, dass es noch vollkommen andere Arten gibt, als Mensch auf dieser Erde zu leben. Vor einigen Jahren ist allerdings die dunkle Seite dieses faszinierenden Spektakels offenkundig geworden, als nämlich die Kumbh Mela zu einem katastrophalen ­"Superspreader-Event" in der Corona-Pandemie wurde.

Doch es sind nicht nur überwältigend große und fremdartige religiöse Orte, die ­einen das Staunen lehren. Man schaue sich nur die ­kleinen, aus einfachsten Mitteln ­geschaffenen Schreine der muslimischen ­Uiguren an. Gibt es zartere, schönere Kunstwerke, mit ­denen man der Leitfiguren des eigenen Volkes gedenken, für sich und die eigene Gemeinschaft Gewissheit und Hoffnung stiften kann? Umso erschütternder ist, mit welch zwanghafter Brutalität das totalitär-atheistische Regime Chinas diese Wunderwerke muslimischer Volksfrömmigkeit auszu­löschen sucht.

Wenn es nicht so tragisch wäre, müsste man darüber lachen, wie hier eine technisch hochgerüstete Supermacht unscheinbare, aber hochästhetische und spirituelle Ast­gebinde einfacher Menschen verfolgt. Womit man bei der politischen Bedeutung religiöser Orte wäre. Oft ist sie problematisch, verknüpft sie doch das Heilige mit der Macht. Manchmal aber entfalten religiöse Orte eine befreiende Kraft, geben sie dem Protest einer lang unterdrückten Bevölkerung Wucht und Sichtbarkeit: So bei den jungen Hawaiianern, die im Kampf um ihren heiligen Berg, den Mauna Kea, uralte, längst vergessene Rituale, Gebete und Gesänge wiederbeleben.

Tierfriedhöfe und Motorradgottesdienst

Hat man sich in der weiten, fernen Welt der ­Religionen halbwegs sattgesehen, dann kann man mit neuem Sinn auch religiöse Orte in der eigenen, scheinbar so säkularen Heimat aufspüren. Manche von ihnen sind keine Unbekannten, weil sie öffentlich stattfinden und ­Medien ­regelmäßig über sie berichten, wie der Hamburger ­Motorradgottesdienst oder der Kirchentag. Aber man muss nur versuchen, sie einmal genauer und zwar mit den Augen eines Ausländers zu betrachten, dann wird einem ­auffallen, wie außergewöhnlich, interessant, diskussionswürdig sie sind.

Berlin (oben) - Auf dem Bethlehemkirchplatz stand früher ein zierlicher Kuppelbau, der 1737 für evangelische Glaubensflüchtlinge aus Böhmen errichtet worden war. Heute erinnert eine Stahlskulptur des spanischen Künstlers Juan Garaizabal an das Gebäude Hamburg (unten) - In Deutschland gibt es keinen Wallfahrtsort für Lastwagenfahrer wie in Argentinien, aber Gottes-dienste nur für Motorradfahrer. Zum Beispiel in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis

Dann gibt es aber auch religiöse Orte, die man hierzulande nie erwartet hätte. Der Tierfriedhof von Hamburg-­Jenfeld oder das EKO-Haus in Düsseldorf-Niederkassel sind stille Orte, die einem trotz aller Befremdung sofort ans Herz gehen. Hier ein Friedhof für Haustiere, in dem sich auf überraschende Weise Trauer, Liebe, aber auch Hoffnung auf ein ewiges Leben ausdrücken. Dort mitten in einer bürgerlichen Wohnsiedlung ein himmlischer Ort des Friedens, wie ihn nur japanischer Schönheitssinn erschaffen kann. Man kommt aus dem Staunen so schnell nicht heraus.

Orte des Friedens

Wenn ich zum Schluss sagen sollte, was mein liebster seltsamer religiöser Ort ist, dann würde ich die unauffälligste Kirche Deutschlands nennen: die Lagerkapelle des Grenzdurchgangslagers Friedland. Sie ist in ihrer äußeren Gestalt nur eine Baracke: ein ­langgestreckter Bau aus weiß getünchtem Holz, eine Notkirche neben Notunterkünften. Aber unfassbare Schicksale hat sie in sich aufgenommen, ein Ort des seelischen Ein- und Ausatmens für vertriebene und geflohene Menschen ist sie gewesen. Zunächst für die Millionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mittel- und Osteuropa kamen. ­Danach für Ungarn, Sinti und Roma, Chilenen, vietnamesische Boat-People, DDR-Flüchtlinge, Russlanddeutsche, jüdische Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, Syrer, Iraker und Afghanen, Sudaner – Frauen, Männer und Kinder.

Immer noch ist das Grenzdurchgangslager Friedland in Betrieb, ebenso wie dessen Lagerkapelle. Zweimal in der Woche hält der Lagerpastor gemeinsam mit einem syrisch-­armenischen Diakon Abendandachten. Christen und Christinnen sehr unterschiedlicher Konfessionen, aber auch Muslime nehmen an ihnen teil in dieser ­armen und doch so wohltuenden Kapelle, einem einzigartigen Ort des Friedens. Denn meines Wissens gibt es in keinem der vielen Flüchtlingslager unserer Zeit etwas Vergleichbares. Wenn man aber bedenkt, dass die Mehrheit der globalen Fluchtbevölkerung – im Unterschied zu den sesshaften Wohlstandseuropäern – sehr religiös eingestellt ist, sollte man darüber nachdenken, ob man nicht auch Lagerkirchen, -tempel und -moscheen errichten sollte – als sichere Orte für Gebet und Seelsorge.

Eine erste Version dieses Textes erschien am 7. Juli 2021.

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