Ausflüge in ferne Länder - die kann oder mag nicht jeder unternehmen. Doch es gibt einen altbewährten, die Umwelt schonenden Ersatz, um seine Weltneugier zu befriedigen: über fremde Länder lesen und dann die eigene Umgebung mit neuen Augen betrachten. Dabei wird man vieles entdecken, was einem neu, überraschend, erschreckend oder anrührend erscheint.
Schaut man genauer hin, können einem sogar kleine Offenbarungen widerfahren. Denn die Welt ist voller Religion, ob es einem nun gefällt oder nicht. Der westeuropäische Blick ist gefangen in der Vorstellung, dass es nur religiöse Traditionsabbrüche und kirchliche Bedeutungsverluste zu verzeichnen gäbe. Wer sich aber in anderen Weltgegenden umtut, dem dürften die Augen übergehen angesichts der vielen und vielfältigen Gestalten von Religion. Das ist zum Staunen, manchmal auch zum Erschrecken. Und wie ist das zu Hause? Sogar dort wartet manche religiöse Überraschung.
Religion gibt es nicht an und für sich, sondern immer nur in einer konkreten Gestalt, und das heißt nicht zuletzt: an diesem oder jenem Ort. Protestanten meinen, der Geist des Glaubens könne überall wehen, wo er nur will. Dabei übersehen sie, dass Religionen sich immer beheimaten, ohne eigene Land- und Ortschaften nicht zu denken sind: Berge, auf deren Gipfeln die Götter wohnen, Flüsse, deren Wasser ewiges Leben spendet, riesige Steine, die vom Himmel gefallen sein müssen, Quellen, die Sünden abwaschen, Gräber, an denen man Heilung erfährt.
Solche religiösen Orte erscheinen einem zunächst schlicht als "seltsam". Doch was ist damit gemeint? In diesem alltäglichen Adjektiv schwingt vieles und Widersprüchliches mit: eine touristische Verwunderung, ein exotischer Reiz, eine kulturelle Verstörung, aber nicht selten auch eine tiefere Faszination. Es lohnt, sich mit Zeit und Geduld auf solche "seltsamen" Orte einzulassen, nicht gleich eine Meinung zu äußern oder ein Urteil zu fällen. Denn dumm ist, wer sich über Fremdes, das er oder sie nicht versteht, nur empören oder amüsieren kann. Interessant wird das Leben, Reisen und Lesen erst, wenn man anderes wirklich wahrnimmt und dabei sich selbst infrage stellt. Es ist zwar allzu menschlich, dass man sich für normal und nur die anderen für seltsam hält. Aber wer sich mit religiösen Orten beschäftigt, dem kann dieser irritierende, heilsame Gedanke aufgehen: "Vielleicht verhält es sich ja andersherum, und ich selbst bin der Seltsame."
4 Wochen gratis testen, danach mit 10 € guten Journalismus und gute Projekte unterstützen.
Vierwöchentlich kündbar.