Religion an staatlichen Schulen
Wozu brauchen wir Religionsunterricht?
Religion ist fast überall in Deutschland ordentliches Lehrfach an den Schulen. Aber warum eigentlich – und sollte es nicht lieber Ethikunterricht geben?
Wozu brauchen wir Religionsunterricht?
Lisa Rienermann
Lena Uphoff
14.08.2024
3Min

Im April und Mai 2024 haben auf dem Hamburger Steindamm mehrere Tausend Leute, meist junge Männer, bei einer Demonstration ein Kalifat gefordert. Aber wussten sie eigentlich, wofür sie da demonstrierten? Wussten sie, was ein Kalifat ist? Nein, sagte der Islam-­Experte Mouhanad Khorchide kürzlich im Interview mit chrismon.de. Er hatte bei ähnlichen Demos mit vielen Teilnehmern gesprochen und festgestellt: religiöse Bildung – Fehlanzeige. Dabei wäre es schon gut zu wissen, was man da skandiert. Nämlich den Ruf nach einem islamis­tischen Ab­solutismus mit dem Kalifen als Alleinherrscher.

Die jungen Demonstranten haben ihr Wissen beziehungsweise Un­wissen überwiegend aus den sozialen Medien, erklärte Khorchide. Wenn es einen guten islamischen Religions­unterricht in Deutschland gäbe, ­wären sie vielleicht besser informiert.

Zumindest evangelischen und ­katholischen Religionsunterricht gibt es in fast allen deutschen Bundes­ländern – und auch den islamischen in immer mehr Schulen. Die Regelungen unterscheiden sich, weil Bildung in Deutschland Sache der Bundesländer ist. Dass es den Religionsunterricht an staatlichen Schulen aber geben muss, das regelt bereits das Grundgesetz (GG) in Artikel 7. Dort heißt es, dass der ­Religionsunterricht "ordentliches Lehrfach" ist und dass er unter Aufsicht des Staates und in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften statt­finden soll. Außerdem besagt das Gesetz, dass die Erziehungsberechtigten entscheiden können, ob ein Kind am Religionsunterricht teilnimmt – er darf kein Zwang sein.

Religionsunterricht wird also schon deswegen gebraucht, weil es das Gesetz so will. Und die Regelung des GG ist durchdacht: Weder Staat noch Religionsgemeinschaft alleine können entscheiden, wie der Religions­unterricht abzulaufen hat. Der Staat hat ein Interesse daran, dass die gefährlichen Seiten der Religion im Religionsunterricht eingefangen werden (siehe Kalifat). Die Religions­gemeinschaften hingegen wollen, dass Religion als Angebot für das ­Leben vermittelt wird. Man muss sich also einigen. Was dabei im besten Falle herauskommt: die Vermittlung einer modernen, liberalen Religiosität.

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Sehr geehrter Herr Sacher,
mit Interesse habe ich Ihren Artikel „Wozu brauchen wir Religionsunterricht?“ gelesen.
Als Anwalt des Religionsunterrichts fiel mir auf, dass bei dem Thema „Religion“ die Dimension Gott – Jesus Christus nicht vorkommt.
Religion ohne Gott?
Sie werden Ihre Gründe haben.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Rüß

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Ethik statt Religionsunterricht
Selten habe ich einen dümmeren Satz gelesen als diesen: "Religionsunterricht wird also schon deswegen gebraucht, weil es das Gesetz so will". Nein, dass Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach sei, steht deshalb im Grundgesetz, weil die Väter (und die vier Mütter) unserer Verfassung sich damals dafür entschieden haben, die unheilige Allianz von Thron und Altar zu perpetuieren, die uns aus Kaisers Zeiten überkommen ist. Wenn wir heute etwas brauchen, ist es ein Ethikunterricht für alle (oder wie dieses Schulfach auch immer heißen mag), in dem nicht länger die Vertreter*innen der verschiedenen Konfessionen über ihre Götter (und übereinander) reden, sondern wo alle Schüler*innen gemeinsam etwas über die uns alle verbindenden und für das Fortbestehen unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung bitter notwendigen Wertvorstellungen erfahren (und natürlich auch über die Religionen und ihre Bedeutung unterrichtet werden). Der Religionsunterricht gehört in die Kirche, die Moschee, den Tempel oder – soweit privat gewollt – auch ins Elternhaus, aber nicht in die öffentliche Schule. Die hat nicht "moderne, liberale Religiosität" zu vermitteln (das mag der einzelne Mensch privat für sich entscheiden), sondern freiheitliches, demokratisches Denken und Handeln.
Michael Rux, Freiburg

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Anspruchsvolle Religiosität, die in letzter Konsequenz gleichbedeutend ist mit Philosophie, gibt es heute kaum noch. Bezeichnend hierfür ist nicht nur die Naivität islamistischer Demonstranten mit ihrer Forderung nach einem Kalifat, sondern allgemein der moderne Mensch mit seiner nicht weniger naiven Wissenschafts- und Technikgläubigkeit. Anspruchsvoller Religionsunterricht ist eigentlich Anthropologieunterricht und richtet sich somit an den Menschen als solchen, ist also überkonfessionell. Daneben kann er natürlich immer auch religionswissenschaftlich sein. Entscheidend ist aber der existenzielle Anspruch, das heißt, es geht hier nicht um äußerliches referierbares und abfragbares Wissen, sondern um Persönlichkeitsbildung, und zwar jenseits aller politischen Ideologie. Das heißt, Politik, also das Zusammenleben in der Gemeinde, ist ein wesentlicher Faktor des Religionsunterrichtes, aber nicht derart, dass irgendwelche politischen Körperschaften hier von einer Machtposition herab ihre Vorstellungen vorschreiben, sondern so, dass Politik im Dienst des Menschseins und damit auch im Dienst der Emanzipation des Menschen steht.

Friedhelm Buchenhorst

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Konstantin Sacher arbeitet den einzig legitimen Wesenskern des umstrittensten aller Schulfächer exakt heraus. Kinder und Jugendliche suchen mehr denn je nach Orientierung.Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung und gegenwärtig Digitalisierung stiften Verwirrung, entwurzeln und lassen die wichtigsten Lebensfragen unbeantwortet. "Was soll ich tun?" ist nur eine davon, um die es vor allem in der Ethik geht. Eine verbindliche Antwort auf die Sinnfrage vermag jedoch nur der Religionsunterricht zu geben. Neutrale Religionskunde reicht bei weitem nicht, um vertieftes Verständnis und echte Toleranz für andere Religionen aufzubringen. Der Religionsunterricht dient deshalb der persönlichen Sinnfindung und dem gesellschaftlichen Frieden - wie es das Grundgesetz in der Präambel fordert: "im Bewusstsein seiner Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen".

Thomas Gottfried

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Sehr geehrter Herr Sacher ,

Sie sprechen an, dass in der evangelischen Kirche die Demokratie untergraben wird.
Ich habe es in der Kreissynode oft erlebt, dass sog. "Findungskommissionen" die Wahlfreiheit
der Synodalen einschränkten.
Die anstehende Präseswahl in der EKvW ist dafür ein besonders krasses Beispiel.

In der Ortsgemeinde gab es den Fall, dass das Prsbyterium einem Pastor bedeutete , sich nicht auf eine freigewordene Pfarrstelle zu bewerben, obwohl dieser in der Gemeinde lange gearbeitet hatte und sehr beliebt war.
Es gab Protestveranstaltungen, Briefe nach Bielefeld, eine Gemeindeversammlung.
Die PresbyterInnen haben sich dennoch über das Votum der Gemeinde hinweggesetzt.
So wird die presbyterial-synodale Verfassung
untergraben.
Damals gab es vor Ort viele Kirchenaustritte.

Jedoch: schlimmer als alles Obengenannte ist m.E. , dass die Kirchenleitenden
( Ausnahme Bischöfin i.R. Margot Käßmann)
zum drängenden Thema "Frieden" nichts
Wegweisendes zu sagen haben, sondern trotz erschreckender Militarisierung beredt
schweigen. Das lässt vielen Kirche belanglos erscheinen.

Die obengenannten Themen interessieren ohnehin nur (wenn überhaupt) die kirchlichen "Insider".
Doch finde ich gut, dass Sie das Thema einmal ansprachen.

Mit freundlichen Grüßen !
Helga Warsen, Pfrn.i.R.

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Hallo Herr Sacher,
zufällig las ich Ihren Artikel in Chrismon (Beilage in Berliner Zeitung) zum Religionsunterricht.
Ihr Plädoyer gegen den Ethikunterricht und für den Religionsunterricht mag aus Ihrer Sicht und Interessenlage richtig sein, ich sehe es anders. Sie begründen Religionsunterricht auch mit der Aufklärung über Religionen. Das ist bewusst falsch argumentiert. Als Autor in einem evangelischen Medium wissen Sie genau, dass der konfessionell getrennte Religionsunterricht ein Beknntnisunterricht für die eigene Religion ist und somit in Ihrem Falle den Interessen der evangelischen Kirche gilt.
In einem gemeinsamen Ethik/Philosophie- und Religionskundeunterricht könnten Schüler aller Weltanschauungen (Konfessionlose und verschieden Konfessionen) Wissen und Verständnis für die Weltreligionen erlangen. Das verbindet und trennt nicht.
Bekennender konfessionsbezogener Religionsunterricht gehört nicht in öffentliche Schulen, sondern in Kirchenräume. Selbst im Grundgesetz steht schon: Ausnahme sind bekenntnisfreie Schulen, für die kein Religionsunterricht vorgesehen ist.
mit freundlichen Grüßen
Ehrenfried Wohlfarth

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Guten Tag Herr Konstantin Sacher
Ich stimme Ihnen und natürlich auch unserem GG zu, dass an allen Schulen Religionsunterricht erteilt wird - nur eben nicht wie in meiner Jugend bzw bei meinen Enkelkindern benotet(!) und konfessionsgebunden(!).

Unser Religionsunterricht sollte besser "Religionen" heißen, also Religionen der Welt. Es geht darin - wie Sie schreiben - um denkerische Grenzbereiche des Lebens. Es geht um unsere Seelen; es geht um den Glauben von uns Menschen; es geht um unser irdisches Leben und das "Danach"; es geht um so unsichtbare Dinge wie Gott und das Jenseits oder die Bibel oder den Koran und die Propheten.
So etwas dürfte nicht benotet werden !

Der Religionsunterricht an Schulen sollte sich auf das konzentrieren, was ist oder war und was wir wissen - also auf Fakten - und dieses Fach kann dann auch benotet werden.

Fragen unserer Seele, unseres Glaubens, unseres Gottes, des Lebens "danach", des Verständnisses der Bibel und unserer Konfession gehören in die Hände der Pastoren - z.B. im Konfirmandenunterricht.

Vielleicht, lieber Herr Sacher, schreiben Sie diese kleine Ergänzung zu Ihrem Artikel in der nächsten chrismon-Ausgabe ? Mal sehen,wie die Reaktion darauf ist.

Freundliche Grüße,
Gernot Wißmann

PS: Benoteter konfessionsgebundener Unterricht wie bisher ist die beste Methode, junge Menschen aus der Kirche zu treiben und sie später austreten zu lassen !