Stapel Zeitungen. In der Mitte ist ein Loch in der Form einer Sprechblase herausgerissen
Kritik ist wichtig, aber muss sie verletzen?
Lisa Rienermann
Eine gute Rezension schreiben
Auch der Verriss will gelernt sein
Heute können fast alle ein Kunstwerk bewerten. Das ist basis­demokratisch. Der Schriftsteller Jakob Hein wünscht sich ­trotzdem manchmal den guten alten Kritiker zurück.
Susanne Schleyer
14.11.2023
4Min

Ich bin aufgewachsen mit Rezensionen, Kritiken, Verrissen. Jeden Sonntagmorgen verbrachten wir mit dem Anhören von Radiosendungen, in denen erst auf dem einen, dann auf dem nächsten Sender die aktuellen Premieren besprochen wurden. Sicher wurde auch oft gelobt und gepriesen, aber immer wurde auch verrissen. Dem einen Regisseur wurde sein Verständnis deutscher Sprache überhaupt abgesprochen, dieser Schauspielerin bescheinigt, dass ihr Spiel an Falschheit nicht zu überbieten sei und jenem Autor eine solche Dummheit, dass er vor Scham im Boden versinken müsse, wenn es denn überhaupt eine Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe.

Mir fiel damals nicht auf, dass ich mir die Verrisse ­besser merkte, aber es war eine Tatsache. Keine Ahnung, ob ­diese "Iphigenie" oder jener "Krug" besonders gelungen war, aber der katastrophale Fehlschlag des "Faust" an der Freien Volksbühne mit Minetti blieb in Erinnerung. ­Witzigerweise konnte ich keines dieser Stücke jemals ­sehen, da sie an Westberliner Theatern aufgeführt ­wurden und ich diesen Stadtteil damals noch nicht besuchen durfte. Auch sonst wurden bei uns die Kulturteile der ­Zeitungen intensiv studiert und diskutiert, solche Rezensionen ­spielten damals noch eine wichtige Rolle. Es konnte durchaus passieren, dass eine Kritik an einer bestimmten Rezension und sogar noch eine Antwort darauf in der Zeitung veröffentlicht wurden.

Susanne Schleyer

Jakob Hein

Jakob Hein ist Schriftsteller und Psychiater für Kinder und Erwachsene. Er wurde 1971 ­geboren, sein Vater ist der Schriftsteller ­Christoph Hein. Von Jakob Hein ist zuletzt erschienen "Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der ­Gedanken" (Galiani 2022). Er ist ­Mitherausgeber von chrismon.

Diese Art der Rezensionskultur ist ­heute weitgehend verschwunden. Es gibt nur noch sehr wenige bekannte Rezensentinnen und Rezensenten, und ihr Einfluss auf das ­Kulturleben ist verschwindend gering. Über die Gründe und Zusammenhänge ­möchte ich hier nicht spekulieren, ich kann nur feststellen, dass die Sitte des Kritisierens dadurch keinesfalls abgenommen hat. Im Gegenteil, sie hat sich stark verbreitet.

Doch so wie die Allgegenwart von Fotos die Kunst der Fotografie fast zu ersticken droht, so ist im Zuge der allgemeinen Verbreitung von Rezensionen, Bewertungen und Urteilen für alles und von jedem viel, wenn nicht ­alles von der Kunst der Kritik verloren gegangen, und wir werden erfasst von einer Welle schlecht gemachter Verrisse, die sich beständig selbst verstärkt. Denn negative Bewertungen, Verrisse, schlechte Kritiken sind für fast alle unterhaltsam, außer für die Person, die das Werk in die Welt gesetzt hat, ob es nun ein Foto oder eine kleine Geschichte ist.

Solange es noch hauptberufliche Kritiker (und einige wenige Kritikerinnen) gab, galten ein paar professionelle Grundsätze. Der wichtigste war, dass im Licht des Lobes das Werk erstrahlt, im Licht des Verrisses nur der ­Kritiker zu sehen ist. Das wussten zumindest alle Kollegen, und wenn ­jemand ständig nur Verrisse produzierte, galt das als ­schlechtes Handwerk. War der Autor denn gar nicht in der ­Lage, Goethes grundlegende Unterscheidung ­zwischen einer zerstörenden und einer produktiven Kritik zu beherzigen?

Negative Bewertungen erhalten mehr Aufmerksamkeit als positive Besprechungen

Hinzu kam, dass die beruflichen Kritiker davon ausgehen mussten, die Objekte ihrer Arbeit alsbald wiederzutreffen, auf einer kleinen Feier oder bei der nächsten Premiere, sodass in aller Regel eine gewisse Hemmung der letzten Bösartigkeit gegeben war. Möglicherweise hatte einem die letzte ­Ausstellung nicht gefallen, aber wollte man dafür riskieren, sich ein Jahr lang vor dieser zweifellos bedeutenden Malerin verstecken zu müssen?

Heute sind diese Mechanismen der Beschränkung von zerstörenden Kritiken aufgehoben. Jeder Mensch kann heute fast alles kritisieren und bewerten. Das ist zunächst so basisdemokratisch, wie es klingt. Doch bald wird jeder Rezensent feststellen, dass seine negativen Bewertungen viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als seine positiven Besprechungen. Das ist interessant, lässt einen das eigene Tun signifikanter erscheinen. Das haben auch die uns alle umgebenden sozialen Netzwerke festgestellt. Wenn Sie denken sollten, Sie machen dabei nicht mit, könnten Sie sich täuschen. Die größte Suchmaschine im Internet, der größte Anbieter von Videos und auch der größte ­Anbieter von Kurznachrichten nutzen alle mittlerweile solche ­Mechanismen sozialer Netzwerke. Wenn Sie die nicht benutzen, dann sind Sie eine statistische Ausnahme und außerdem praktisch nie im Internet unterwegs.

Sinn dieser Netzwerke ist es, dass möglichst viel Zeit in ihnen verbracht wird, um in dieser Zeit Werbung zu schalten. Und wenn Nutzer auf einer Seite mehr Zeit verbringen, dann ist das in diesem Sinne gut, diese Seite wird vermehrt präsentiert und weiteren Nutzern gezeigt. Dass darauf enthaltene Rezensionen dann in der Regel negativ sind, ist ein algorithmischer Zufall. Das Programm würde auch produktive Kriti­ken verstärken, wenn diese sich großer Beliebtheit erfreuten. Aber dem ist nicht so. Je nega­tiver, je destruktiver, je stärker persönlich verletzend eine Bewertung ist, desto mehr Reaktionen und Interaktionen löst sie aus. Aus handwerklicher Sicht sind das in der Regel schlecht gemachte, überaus eitle Kritiken, aber dieses Handwerk mit seinen Regeln spielt eben keine Rolle mehr.

Und so überaus wichtig aus meiner Sicht die gesetzliche Regulierung von Internetkonzernen ist, so versuche zumindest auch ich, meinen Teil von Verantwortung zu übernehmen, sei dieser auch noch so verschwindend gering. Ich versuche, auch meine gute Laune im Netz zu teilen, auch positive Bewertungen dort zu hinterlassen, wo sie hinge­- hören, und möglichst selten einen Beitrag zur allgemein Negativität zu leisten, so interessant diese auch sein mag.

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