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Bedrückt einen dieses Bild, oder muss es einen amüsieren? Christliche Kunstgeschichte im grauen Schnee. Ein Häuflein Abgehängter, die darstellen, wie Jesus dereinst vom Kreuz genommen wurde. Nur dass der Heiland hier nicht tot ist, sondern sanft lächelt.
Lukas Meyer-Blankenburg
Boris Mikhailov, ein ukrainischer Fotograf, hat die Szene gestellt. Ende der 1990er Jahre porträtierte der Künstler die Menschen seiner Heimatstadt Charkow – ganz in der Tradition der "Indianerfotografie" eines Edward S. Curtis. Dieser hatte Anfang des 20. Jahrhunderts arrangierte und stilisierte Porträts von den Indigenen Nordamerikas angefertigt: bisweilen lächerliche Szenen von Häuptlingen in Kriegsmontur, die unbeholfen vor einer auf Leinwand gepinselten Wildnis einen Speerwurf imitierten.
Auch Mikhailov ließ für seine 400 Bilder umfassende Serie "Case History" Obdachlose, Abgehängte und von der Gesellschaft Vergessene stolz in ehemaliger kommunistischer Uniform Modell stehen. Er lichtete Frauen ohne Zähne ab, die zwischen zerfallenden Hochhäusern Späße treiben, sich ins Bauchfett kneifen oder ihre Brüste zeigen. Oder der Fotograf ließ seine Modelle – immer gegen Bezahlung – im Stile christlicher Bildmotive posieren.
Feixende Obdachlose
Der Titel seiner Serie "Case History" erinnert an das englische Soziologenwort Case Study, "Fallstudie", und ist zugleich der Fachbegriff für die medizinische Krankengeschichte. Nur: Welche Krankheit diagnostiziert Boris Mikhailov in seiner Gesellschaft?
Mikhailov wurde 1938 in Charkow geboren, arbeitete als Elektroingenieur in Fabriken und begann in den 1960er Jahren nebenbei mit der Knipserei. Mal schoss er Porträts seiner Kollegen, mal erotisch angehauchte Bilder seiner Frau. Solche Werke nahm der Geheimdienst KGB zum Anlass, ihn der Pornografie zu bezichtigen und aus dem Job zu werfen. Heute ist Mikhailov einer der bedeutendsten ukrainischen Fotografen. Seine Bilder sind provokant, schmutzig, absonderlich, bedienen nicht selten voyeuristische Triebe. Es ist schwer, den Blick von ihnen zu wenden – eben auch weil im Bilderkanon von Ost und West Fotos feixender Obdachloser so selten sind.
Es bleibt ein Gefälle
Wir sehen Menschen, die von den großen Gesellschaftsutopien des 20. Jahrhunderts ausgespuckt wurden und trotzdem ihre Würde bewahrt haben. Der Künstler spielt dabei gern, wie in diesem Bild, auf die Worte Jesu an, wonach es gilt, sich den Armen und Abgehängten zuzuwenden. Dafür wird er aber auch immer wieder kritisiert: Beutet er die Scham seiner Modelle aus? Macht er Mittellose zu Mittlern seiner Kunst?
Es sind merkwürdig komponierte pseudodokumentarische Fotos. Zwischen den Betrachtenden und den Dargestellten bleibt ein Gefälle, eine positive, aufbauende Botschaft fehlt auch. Das alles kann man gut oder schlecht finden. Vermutlich ist es beides – gute Kunst eben.