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Sardanapal hat das Image des fiesen Raffzahns unter den antiken Königen. Ob es ihn wirklich gegeben hat, spielt keine Rolle. Die Botschaft, für die einer der letzten Herrscher des assyrischen Reiches seit Jahrtausenden steht, hat überlebt. Sie lautet: Den Reichen und Mächtigen ist selbst alles noch nicht genug. Als Sardanapal, so die Legende, vom Feind besiegt ist und sein Schicksal besiegelt scheint, versammelt der Herrscher all seinen Besitz in einem großen Raum seines Palastes und lässt ihn verbrennen. Dazu zählt er auch Menschen und Tiere.
Am prominentesten hat der französische Maler Eugène Delacroix diese Legende auf die Leinwand gebracht. Man würde heute sagen, er hat ein Skandalbild angefertigt, für das er einen gehörigen Shitstorm einstecken musste.
Denn sein "Tod des Sardanapal" von 1827 sorgte in Paris für so viel Empörung, dass der Künstler auf Jahre hin keine Abnehmer mehr für seine Werke fand.
Delacroix’ Riesengemälde feiert geradezu überbordend Tod und Erotik am Hofe Sardanapals. Der Künstler paart orientalische Exotik mit Prunksucht und ästhetisierter Gewalt, muskulöse Sklaven, die schöne Frauen und Pferde erstechen, umgeben von Gold und Schmuck, umhüllt vom Rauch der Flammen. Das stößt Betrachtern heute noch auf. Aber Delacroix ist längst rehabilitiert, sein Bild hängt im Louvre.
Lukas Meyer-Blankenburg
Und was haben Sardanapal und Delacroix mit dem hier abgedruckten Bild zu tun? Den englischen Fotografen Tom Hunter interessieren die kleinen Details in den Bildern der großen Meister. In diesem Fall gilt seine Aufmerksamkeit einer der todgeweihten Konkubinen des Königs, die bei Delacroix mit ausgebreiteten Armen und abgewandtem Gesicht auf der Matratze des Despoten liegt. Hunter hat nach eigenem Bekunden von Delacroix die Pose der Frau übernommen und sie, anstatt auf assyrische Seide im Palast, auf ein verschlissenes Laken gebettet.
Erwartet auch sie ihr Ende? Eher nicht. Es ist ein seltsam in sich gekehrter Blick, der hier in die Verlassenheit des Zimmers ragt. Hunters Fotografie (2009) zeigt die Londoner Wohnung der gerade verstorbenen Signora Coltelli. Ihr Porträt steht auf dem Kaminsims. Eine italienische Einwanderin, Cafébesitzerin im Viertel, kein sehr erfolgreiches Geschäft, wie das Interieur des Raumes beweist. Vom Luxus des Sardanapal ist die Szene weit entfernt, ebenso von der rauschhaften Todesorgie, die Delacroix malte.
Mehr Hingabe als Selbstaufgabe
"The Death of Coltelli", wie das Bild heißt, zeugt von einem anderen Reichtum: der stillen Würdigung einer Verstorbenen. Auch hier ist unwesentlich, ob Coltelli eine Person aus dem echten Leben ist oder – wie der assyrische Großkönig – eine Legende, nur eben von heute. Doch während es Delacroix um Sardanapal geht, einen raff- und verschwendungssüchtigen Herrscher, der selbst im Angesicht der Niederlage weder seinem Hofstaat noch seinem angehäuften Tand eine weitere Existenz gönnt, konzentriert sich Hunter ganz auf die todgeweihte Konkubine und verwandelt das Motiv in eine Auseinandersetzung mit menschlicher Trauer, die hier den ganzen, das Bild füllenden Reichtum ausmacht.
Der Blick der Frau auf dem Bett bleibt uneindeutig, doch ihre Pose scheint in einer besonderen Verbindung zum an der Wand hängenden Heiland zu stehen – mehr Hingabe als Selbstaufgabe. Nicht mit Prunk und Protz, sondern extrem reduziert und mit einem klaren Fokus aufs Detail schafft Hunter Bilder, deren Wirkung ähnlich stark ist wie die der opulenten Riesenschinken alter Klassiker. Und immer schwingt dabei ein bisschen was von Selbstermächtigung oder gar Sozialkritik mit.
Kein Liebesbrief, sondern eine Räumungsklage
Berühmt wurde der englische Künstler in den 90er Jahren mit einer anderen Fotografie. Oder man muss schon fast sagen: mit einer Fotoaktion. Als Hausbesetzern in seiner Nachbarschaft die Räumung drohte, fotografierte Hunter eine junge Frau, die an einem Fenster stehend einen Brief liest – ganz so, wie der große niederländische Maler Vermeer im 17. Jahrhundert eine Frau mit Brief am Fenster gemalt hatte. Nur dass die junge Frau bei Hunter keinen Liebesbrief, sondern ihre Räumungsklage in den Händen hält. Das Bild machte selbst bei den Londoner Kommunalpolitikern derart Eindruck, dass sie die Räumung abwendeten. Sage noch einer, Kunst könne nichts bewirken. Tut sie doch! Und sei es, dass sie – wie hier im Bild – Tod und Trauer einen Raum gibt.