Eine Frage stellt sich jedes Jahr aufs Neue: Was feiern wir eigentlich an Weihnachten? Je größer der Festbetrieb gerät, umso unklarer wird, worum es geht. Die klassische theologische Antwort lautet: Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden; am 25. Dezember wird seiner Geburt gedacht. Aber wie kann Gott geboren werden? Wenn es Gott gibt, muss er doch ewig und immer schon da gewesen sein!
Schon die ersten Theologen lehrten, dass Gott in Jesus Christus Menschengestalt annahm. Damit wollten sie deutlich machen, dass Jesus nicht nur ein neues Gottesbild gelehrt und vorgelebt hatte, indem er Kranke heilte, Ausgegrenzten Gemeinschaft schenkte und am Ende sein eigenes Leben hingab. Sie wollten auch klarstellen, dass er selbst, in seiner ganzen Existenz von Geburt bis Tod, sogar mit seiner Körperlichkeit eine unmittelbare Nähe Gottes eröffnet habe: In diesem Jesus war Gott selbst den Menschen als Mensch erschienen.
Gottes Geburt in der Seele
Doch einigen christlichen Denkern genügte nicht, dass Gott einmal vor langer Zeit Mensch geworden war. So entwickelte Meister Eckhart (1260 bis 1328) eine mystische Lehre von der Geburt Gottes in der Seele. Ein Christ solle im eigenen Seelengrund die Gegenwart Gottes erfahren – auf eine so intensive und intime Weise, dass seine Seele mit Gott eins würde.
Für diesen Augenblick überweltlicher Erfüllung deutete Eckhart das weihnachtliche Leitmotiv um: In ihrem Grund gebiert die Seele gemeinsam mit dem Vater den Sohn. Menschwerdung bezeichnet hier kein mythisches Ereignis zu Beginn unserer Zeitrechnung, sondern das höchste, mystische Glaubensglück heute, jederzeit und überall. Beschreiben lässt sich dieser Moment der Erfüllung kaum, er übersteigt die Möglichkeiten menschlicher Sprache.
Johann Hinrich Claussen
Wer einen vertrauteren Eindruck von dem gewinnen möchte, was die Geburt Gottes in der menschlichen Seele bedeuten kann, sollte die alten Weihnachtslieder betrachten. Sie malen die Geburt Jesu in schönsten Farben aus, verbleiben aber nicht in der Rührung, sondern versuchen, das Menschliche und das Göttliche zusammenzudenken. Einige wählen dabei drastische Bilder, etwa wenn Martin Luther in "Vom Himmel hoch, da komm ich her" dichtet: "So merket nur das Zeichen recht: / die Krippe, Windelein so schlecht, / da findet ihr das Kind gelegt, / das alle Welt erhält und trägt." Der göttliche Weltenherrscher ist in schlichte Windeln gewickelt.
Luther: Gottes Größe zeigt sich im Allerkleinsten
Die Pointe besteht für Luther darin, dass sich Gottes unendliche Größe im Allerkleinsten, einem neugeborenen Kind, zeigt. Der Glaube ist für ihn die Kraft, im winzig Schwachen die Gegenwart des allmächtigen Gottes zu erkennen.
Mit zarter Raffinesse versucht es Paul Gerhardt in seinem Choral "Ich steh an deiner Krippen hier": "Da ich noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren / und hast mich dir zu eigen gar, / eh ich dich kannt, erkoren. / Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wolltest werden."
Die Perspektiven von damals und heute werden hier so ineinandergeschlungen, dass Gott und Seele nicht mehr zu trennen sind. Das gläubige Ich tritt ehrfürchtig vor die Krippe und betrachtet das göttliche Du, symbolisch als Kind dargestellt. In der innigen Betrachtung kommen beide einander unendlich nahe – die Geburt Gottes in Jesus Christus und die Geburt des gläubigen Ich.
Weihnachten ist vor allem ein Familienfest
Wer eine Ahnung von dem gewinnen möchte, was sich so schwer in Worte fassen lässt, sollte sich die Geburt eines Menschenkindes vor das innere Auge stellen: das unvergleichliche, erschütternde Glück, die Geburt eines Kindes mitzuerleben. Plötzlich ist es da und stellt alles in ein anderes Licht. Im Allerkleinsten zeigt sich etwas unendlich Großes. Ein unbedingter Lebenssinn liegt vor einem oder in den eigenen Armen, Fleisch und Blut geworden.
Eine bis dahin oft nicht vorstellbare Liebe ist auf einmal da. In der Zuwendung und im Schutzinstinkt der Eltern für ihr Kind schimmert beispielhaft auf, wie Menschen ganz generell bestimmt sind, füreinander einzustehen. Es hat seinen tieferen Sinn, dass Weihnachten weniger ein Theologen- als ein Familienfest ist.