Überall Qualm und schreiende Menschen
Linda Wölfel
Überall Qualm und schreiende Menschen
Viele Männer und Frauen können erst im hohen Alter darüber ­sprechen, was sie im Krieg erlebten. Eine Seelsorgerin im Krankenhaus hat aus den Erinnerungen, die ihr dort anvertraut wurden, Geschichten gemacht – fiktional und doch authentisch
privat
12.09.2019

Eine Mitarbeiterin des Sozial­dienstes bat mich um Kleidung für Herrn Schulze. Der Patient habe niemanden, der ihm einen Schlafanzug bringen könne. Und sein Herz sei so schwach, dass die Stationsärztin es nicht verantworten wolle, ihn nach Hause gehen zu lassen.

Ich packte gespendete Socken, Schlafanzüge 
und Morgenmantel und besuchte Herrn Schulze. Nachdem er die Kleidung genau durchgeschaut und das eine behalten, das andere zurückgegeben hatte, saßen wir noch eine Weile zusammen, wobei Herr Schulze sehr einsilbig auf meine Fragen antwortete. Ich wollte gerade gehen, als er fragte: "Sie halten mich bestimmt für einen komischen Kauz, oder?" – "Na ja", antwortete ich, "eigentlich weiß ich ja nichts über Sie, außer dass sie mittelgroß und dünn sind und Schuhgröße 43 haben."

privat

Karin Lackus

Karin Lackus, Jahrgang 1959, 
hat evangelische Theologie studiert und ist Pfarrerin. Sie ­arbeitet seit zehn Jahren als 
Klinikseelsorgerin in Mannheim. 
2016 veröffentlichte sie zusammen 
mit ihrer Kollegin Christiane Bindseil das Buch 
"Mir geht es gut, 
ich sterbe gerade" in der Neukirchener Verlags­-gesellschaft.

Nach einigem Hin und Her, ob aus ­seinem Leben überhaupt etwas der Rede wert sei, sagte er unvermittelt: "Ich war ver­heiratet, ob Sie das glauben oder nicht." Ich gab zu, dass ich tatsächlich überrascht war, ich hatte ­bislang den Eindruck gehabt, Herr Schulze sei als einsamer Wolf durchs Leben gegangen. "Heute halten mich alle für einen ­verschrobenen Einzelgänger", sagte er verständnisvoll, "aber mit meiner Frau, da war es anders, ich war ganz anders, wir waren wie siamesische ­Zwillinge."

Vor ihrer Ehe seien beide alleine ge­wesen, nicht unglücklich, aber allein. Und dann ­hätten sie sich getroffen, "passenderweise auf dem Friedhof". Seine Frau habe das Grab ihrer Eltern besucht, und er sei einfach nur so da gewesen, weil er gerne auf dem Friedhof sei. Nach wenigen Monaten sei sie bei ihm eingezogen, und die zufriedenste, schönste Zeit seines Lebens habe begonnen. "Wir waren uns beide genug, wir brauchten niemanden, wir verstanden uns blind", sagte Herr Schulze.

Alles mit sich selbst ausgemacht

Vor einem Jahr sei seine Frau ganz plötzlich gestorben. Sie sei krank gewesen, ja, das habe 
er gewusst, aber er hätte doch nicht ahnen können, wie schlimm die Krankheit war. "Warum sind Sie nicht früher gekommen?", hätten ihn die Ärzte im Krankenhaus gefragt, aber er habe dazu nichts zu sagen gewusst. "Wir sind halt einfach so, wir haben beide ­immer alles mit uns selbst ausgemacht", erklärte er sich das.

Nach einer Weile fügte Herr Schulze hinzu: "Ich glaube, das war der Krieg. Ich wäre doch verrückt geworden, wenn ich als Kind bei jeder Kleinigkeit angefangen hätte, mir Sorgen zu machen."

So sei er eben sachlich durch das ­Leben gegangen, ohne Gefühls­duselei, ­ohne viel Aufheben zu machen. Nicht ­einen einzigen Tag im Leben sei er krank gewesen, betonte er, jeden Tag war er an seinem Arbeitsplatz, mal sei es ihm etwas schlechter gegangen, mal besser. Einfach zu Hause bleiben, das könne er sich nicht vorstellen. "Ich kann mir eh vieles nicht vorstellen", sagte er, "vielleicht bin ich ja nicht normal. Aber meine Kindheit war ja auch nicht normal." Herr Schulze erzählte, wie er die Bombardierungen seiner Stadt erlebte. Einmal, ausgerechnet bei dem großen Angriff, sei eine Nachbarin mit ihm in den Bunker gerannt, weil seine Eltern nicht da waren. "Ich ­habe vergessen, wo sie waren, können Sie das ­glauben?", fragte er mich, "und alles andere habe ich nicht vergessen, egal, wie sehr ich es versuche", sagte er kopfschüttelnd, "die Bilder, als wir aus dem Bunker kamen, sehe ich heute noch. Überall Rauch und Qualm und schreiende Menschen; und mitten auf der Straße ein Bein, einfach so, als würde es niemand mehr wollen."

Sowas sollte kein Kind sehen

"Ich habe Dinge gesehen, die kein Kind sehen sollte", sagte Herr Schulze. Dabei habe er insgesamt Glück gehabt, nach diesem Angriff habe er seine Eltern wiedergetroffen, ­die vor Erleichterung laut geweint hätten. Später seien sie zu seiner Tante aufs Land gezogen, und sie seien als Familie gut durch den Krieg gekommen. Trotzdem habe er sich fast immer unverstanden gefühlt. Andere feierten, und er ­mochte das nicht; andere fuhren in Urlaub, und er verstand gar nicht, warum; er sei ­immer froh gewesen, wenn er nicht weg­musste. Er könne sich das auch nicht wirklich erklären, er habe ja nichts Schlimmeres erlebt als andere: "Vielleicht bin ich der geborene Kauz", fasste er zusammen. "Nur für meine Frau war ich kein Kauz, da war ich einfach nur Hermann." Seine Frau habe ihn verstanden. Sie habe ihm zugehört, und er habe gespürt, dass sie wusste, wovon er sprach.

Seine Frau habe nie etwas aus der Zeit des Krieges erzählt. Dabei habe sie die Bombardierungen auch erlebt, die Nächte im Bunker, den Alarm, und anders als er sei sie sogar den ganzen Krieg über in der Stadt gewesen. "Aber wenn ich schlecht träumte und die Bilder hochkamen, dann waren wir nicht zwei Menschen, sondern ein Mensch", beschrieb Herr Schulze die große Nähe der beiden. Und fügte hinzu: "Jetzt bin ich wieder der einsame Kauz, der ich immer war. Jetzt versteht mich keiner mehr."

Mir ist so entsetzlich kalt

Als ich in Frau Zellers Zimmer kam, schlief sie friedlich, und ihre Tochter saß aufmerksam an ihrer Seite. Vorsichtig begrüßte ich die Tochter, die ganz leise zu reden begann. Sie erzählte, wie leid es ihr tue, dass ihre Mutter in einer Senioreneinrichtung wohne. "Ich kann sie nicht zu mir nehmen", sagte sie mit Tränen in den Augen, "ich schaffe das einfach nicht."  Wir sprachen darüber, wie fordernd und belastend Pflege sein kann, und ich merkte an, wie gepflegt und gut frisiert, mit Dauer-­Make-up und frischer Tönung, ihre Mutter im Bett liege. Das spreche doch dafür, dass die Mutter von Pflegeheim und Tochter gut umsorgt sei.

Als ich am nächsten Tag vorbeischaute, traf ich die gleiche friedliche Situation an. "Meine Mutter ist noch nicht wirklich aufgewacht", ­erklärte mir die Tochter auf meinen fragenden Blick, "es sind die Beruhigungsmittel, die ­wurden im Pflegeheim überdosiert. Nach Aussage der Ärzte kann es noch eine ganze Weile dauern, bis meine Mutter wieder ansprechbar ist", fügte sie hinzu. Ich sagte, dann sei es ja kein Wunder, wenn sie die Pflegeeinrichtung ihrer Mutter eher skeptisch sehe. Die Tochter widersprach vehement: "Nein, nein, das sehen Sie ganz falsch, 
die im Heim hatten ihre guten Gründe für 
die vielen Beruhigungsmittel." Sie sei froh über jede Stunde, die ihre Mutter friedlich schlafen könne, sagte sie und begann, von ihrer immer korrekten, immer pflicht­bewussten, aber unnahbaren Mutter zu er­zählen. "Wir hatten es nie einfach mit­einander, zu Hause war immer alles tipptopp, aber ohne Wärme, ohne Nähe." Sie habe ihre ­Mutter nie weinen sehen. "Nicht einmal als mein Vater starb, nicht einmal da."

Alles war tipptopp, aber ohne Wärme

Sie selbst habe sich sehr früh in eine Ehe gerettet. "Ich wollte einfach, dass mich jemand liebhat", erklärte sie sich diesen Schritt. ­"Meine vier Wunschkinder, das fand meine Mutter übertrieben, mein Berufswunsch ­Floristin, das war nicht standesgemäß", sagte die Tochter bitter. "Ihr seid aus gutem Haus, aus sehr gutem Haus, in Schlesien waren wir wer", habe ihr die Mutter immer wieder eingebläut. Bei jedem Besuch habe sie die Enttäuschung der Mutter gespürt, entsprechend sparsam seien die Kontakte zwischen Mutter und Tochter gewesen. Sie habe sich einfach nicht ständig anhören wollen, dass sie ja nur Mutter und Hausfrau sei und noch dazu viel zu dick. Neben ihrer gepflegten und gut gekleideten Mutter habe sie sich auch ohne Worte wie ein hässliches Entlein gefühlt.

Vor ein paar Jahren wurde ihre Mutter 
immer vergesslicher. Zuerst habe Frau ­Zeller vieles überspielen können, aber dann seien immer mehr Dinge heillos durch­einandergeraten. In dieser Zeit seien beide sich nähergekommen. "Meine Mutter hat ­offensichtlich auch manche ihrer Vorwürfe und ­Vorhaltungen einfach vergessen", meinte die Tochter lächelnd. Vieles aus dem Leben ihrer Mutter habe sie da zum ersten Mal gehört, vor allem von der Flucht aus Schlesien. Erst vor wenigen Monaten erfuhr sie, dass die Mutter einen kleinen Bruder hatte. Er sei unterwegs erfroren oder verhungert. "Es ist egal, was es genau war, Hunger oder Kälte, das ist beides einfach unerträglich", habe ­ihre Mutter voller Schaudern gesagt, "beides ist furchtbar."

Der kleine Bruder starb

Frau Zeller habe ihrer Tochter auch erzählt, wie sie und ihr kleiner Bruder auf der Flucht immer versuchten, ganz nah bei der Mutter zu sein, "wegen der Wärme", und immer in der Hoffnung, es gäbe doch noch etwas zu essen. Und dann sei der kleine Bruder plötzlich ganz heiß gewesen. Zuerst habe sie sich sogar noch über die zusätzliche Wärme gefreut, aber nur kurz. Danach erinnere sie sich nur noch an ganz große tiefe Trauer. Jetzt habe es nur noch beißende Kälte gegeben, "auch ganz nah bei der Mutter".

"Ich weiß nicht, ob ich traurig oder froh sein soll, dass meine Mutter mir doch noch etwas erzählte", überlegte die Tochter, "denn dadurch weiß ich jetzt auch, was ich alles verpasst habe, was ich alles nicht weiß." ­Mittlerweile sei ihre Mutter so dement, dass Gespräche nicht mehr möglich seien. "Jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr, etwas zu erfahren", meinte die Tochter, "und jetzt kommt das mit diesem furchtbaren Schreien."

Vor einer Weile habe ihre Mutter im ­Pflegeheim, in dem sie sich bislang eigentlich immer wohlfühlte, angefangen, aus vollem Hals zu schreien. "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sich das anhört", klagte sie, "das ist eine ganz andere Stimme." Am ­Anfang habe sie dabei am ganzen Körper 
gezittert und geschrien: "Ich friere, mir ist so kalt." Man habe versucht, sie warm einzu­packen und gut zuzudecken. Zunächst habe das geholfen, aber dann hätte ihre Mutter sich mit aller Kraft von den Decken und ­Jacken befreit.

"Ich habe mir nicht vorstellen können, meine Mutter jemals so zu hören", sagte die Tochter. Zutiefst peinlich wäre ihrer Mutter im "normalen" Leben dieses haltlose Schreien gewesen, davon war die Tochter überzeugt, ihr als vornehmer Dame, die sich nie habe gehen lassen. "Einfach schreien, das passt doch nicht zu meiner Mutter, undenkbar", sagte sie kopfschüttelnd, "sie müssten sie hören, wie laut sie ist, es gab nur noch Beschwerden von den Mitbewohnern."

Nur noch geschrien

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des ­Pflegeheimes hätten getan, was sie ­konnten, um Frau Zeller zu helfen, davon war die ­Tochter überzeugt. Doch niemand habe eine wirklich gute Idee, was man tun könne. Sobald Frau Zeller auch nur einigermaßen wach sei, fange sie laut und schrill und völlig haltlos an zu schreien, erzählte die Tochter; manchmal rufe sie nach ihrer Mutter, manchmal nach ihrem Bruder und manchmal nur um Hilfe. "Sie hört erst auf, wenn sie nicht mehr kann und die Stimme heiser wird", beschrieb die Tochter die Situation. Dass die Ärzte die Medikamente überdosiert hätten, könne sie nachvollziehen, sie mache niemandem einen Vorwurf. "Letztlich bin ich doch auch nur froh über jede Stunde, die ­meine Mutter ohne ihre furchtbaren Erinnerungen schlafen kann", sagte die Tochter ratlos.

 

Christbäume 
haben wir 
genug

Weihnachten ist im Krankenhaus eine besondere Zeit. Wenn irgend möglich, werden die Patientinnen und Patienten nach Hause entlassen, und es ist daher ungewöhnlich ruhig. Manche Patienten sind froh, das Weihnachtsfest nicht allein zu Hause verbringen zu müssen, aber die meisten trauern dem familiären Weihnachten nach. Fast alle 
erleben Heiligabend im Krankenhaus als ­
eine sehr intensive Zeit voller Gefühle und Erinnerungen. Ich wunderte mich daher nicht, dass Frau Bender anfing zu weinen, als ich mich verabschieden wollte. "Es ist nicht, weshalb Sie wohl denken, ich kann gut allein sein", sagte sie, "es ist wegen Heiligabend, seit dem Krieg weine ich immer an Heiligabend."

Auf meinen fragenden Blick hin begann Frau Bender, von Weihnachten 1944 zu erzählen, als sie gerade mal sieben Jahre alt war. Ihr Vater war im Krieg, und die Mutter lebte mit ihr und ihrer kleinen Schwester den schwierigen Alltag von Tag zu Tag. Von Weihnachten 
wollte ihre Mutter in diesem Jahr nichts ­wissen, "Christbäume haben wir genug", ­habe sie wiederholt bitter geäußert. Christbäume, so wurden die Leuchtbomben genannt, mit denen die Alliierten die Zielgebiete markierten, erklärte mir Frau Bender. Ich nickte, weil mir dieser Ausdruck von meiner Mutter bekannt war.

Die Mutter wollte nicht feiern

Die ganze Adventszeit habe sie die Mutter damit genervt, dass sie Weihnachten feiern wolle; doch die Mutter habe immer nur abgewinkt und auf den Krieg verwiesen. Trotzdem habe sie sich auf Heiligabend vorbereitet und für ihre Mutter und für ihre Schwester Sterne gebastelt. In jeder freien Minute ­habe sie gemalt und ausgeschnitten und heimlich auch einen besonders schönen Stern für ­ihren Vater hergestellt, an den sie sich eigentlich kaum erinnern konnte. Voller Inbrunst ­habe sie gehofft, dass ihr Vater wenigstens an Weihnachten nach Hause käme. Sie solle sich doch bitte nicht künstlich in etwas rein­steigern, habe ihre Mutter sie harsch ermahnt, aber sie habe unverdrossen weitergehofft und an Wunder geglaubt. Entsprechend aufgeregt sei sie dann an Heiligabend gewesen, sie 
habe sich einfach nicht vorstellen können, dass ­ihre Mutter das Fest einfach so ausfallen lassen wollte.

Aber es war so. Heiligabend kam, und nichts war vorbereitet, kein besonderes Essen, kein Weihnachtsbaum, keine Geschenke, nichts. Da es keine Bescherung gab, habe sie gar nicht gewusst, was sie mit ihren liebevoll gebastelten Sternen machen solle, erinnerte sich Frau Bender. Ganz vorsichtig habe sie nach dem schlichten Abendessen gefragt, ob man nicht einfach eine Kerze anzünden könne. Doch die Mutter lehnte selbst das brüsk ab: "Wir brauchen die Kerzen, wer weiß, wozu die noch gut sind." – "Sie glauben gar nicht, wie traurig und enttäuscht ich war", sagte Frau Bender, "aber es war eben nichts zu machen."

Ein ganz besonderer Abend

Und dann sei etwas geschehen, das sie als göttliches Zeichen verstanden habe: Der Strom fiel aus, kein Licht im ganzen Haus! Nach einigen Schrecksekunden im Dunkeln holte die Mutter die gut gehüteten Kerzen und zündete sie an. Dabei habe sie sogar ein wenig gelächelt, da war sich Frau Bender sicher, vielleicht weil sie die aufgeregten Gesichter ihrer Kinder sah.

Es sei eine ganz besondere Weihnachtsstimmung im Kerzenlicht gewesen, ganz besonders, wiederholte Frau Bender. Die Mutter habe nach einer Weile aus einer Ecke sogar ein paar Kekse hervorgezaubert, und sie hätten Weihnachtslieder gesungen. "Du hast ja ganz rote Backen", habe ihre Mutter in vorwurfsvollem Ton zu ihr gesagt, aber man habe gesehen, dass das ganz liebevoll gemeint war. Als dieser wundervolle Heiligabend zu Ende war, die Sterne verschenkt, die Kekse gegessen und die Kinder sich für das Bett fertig machten, habe sie ihre Mutter ganz nachdenklich und in sich versunken am Küchentisch murmeln gehört: "Fürchtet euch nicht" und "Friede auf Erden". Erst heute könne sie verstehen, was dieses Weihnachtsfest wohl für sie bedeutet hat, dieses Weihnachten wider Willen.

Der Vater war schon tot, die Mutter starb bald

Es war mein letztes Weihnachtsfest mit meinen Eltern", fügte Frau Bender hinzu. ­Ihre Mutter sei im Herbst 1945 an Lungenent­zündung gestorben und ihr Vater im Krieg ­geblieben. Wie sie später herausgefunden habe, hatte ihre Mutter vom Tod des Vaters schon an Heiligabend gewusst. "Ich weiß bis heute nicht, warum sie uns Kindern davon nichts erzählt hat", sagte sie, "wir hätten ihre Ablehnung, Weihnachten zu feiern, doch viel besser verstanden." Im Nachhinein denke sie, dass wohl nur so dieser wunderbare Heilig­abend möglich war.

Ihre Erinnerungen an die Mutter seien verblasst, erklärte Frau Bender, sie sei bei ­ihrem Tod ja noch ein kleines Kind gewesen. Aber dieses Bild der Mutter im Kerzenlicht habe sich ganz fest in ihr eingegraben. "An Weihnachten sehe ich meine Mutter ganz deutlich vor mir, jedes Jahr", erklärte sie 
und fügte nachdenklich an: "Das war das schönste Weihnachtsfest meines ganzen ­Lebens, damals 1944."

 

Interview

"Für alte Menschen ist der Krieg sehr zentral"

chrismon: Sie sind Klinikseelsorgerin und sprechen viel mit sterbenden Menschen. Was erzählen die ­Ihnen?

Karin Lackus: Für alte Menschen ist der Krieg sehr zentral. Momentan stirbt ja die Kriegsgeneration. Manchmal bin ich fünf Minuten auf Station, schon erzählen mir Menschen, was sie erlebt haben. Einige fühlen sich ihren Erinnerungen richtiggehend ausgeliefert. Am Ende des Lebens kann an die Oberfläche kommen, was ein Leben lang verdrängt ­wurde. Manchmal sagen die Menschen sogar, dass sie jetzt zum ersten Mal darüber sprechen können.

Leben Frau Zeller, Frau Bender und Herr Schulze noch, die Protagonisten der drei Geschichten?

Die drei hat es nie gegeben, zumindest nicht so, wie ich sie hier schildere. Ich habe Geschichten neu zusammengefügt auf Grundlage meiner alltäglichen Gespräche am Krankenbett und ihnen fiktive Namen gegeben. Als Pfarrerin ist mir das Seelsorgegeheimnis sehr wichtig. Mit meinen Erzählungen will ich weitergeben, was ich in vielen Gesprächen höre. Weil ich möchte, dass wahrgenommen wird, welche Erinnerungen da gerade sterben. Insofern sind die Geschichten authentisch, auch wenn sie Fiktion sind.

Helfen Sie den Patientinnen und Patienten, Frieden zu schließen mit ihren Erfahrungen?

Ich höre nur zu, ich will niemanden therapieren, ich werte auch nicht. Manche erzählen mir von Verbrechen, die sie im Krieg erlebt oder sogar begangen haben. Andere tragen immense Schuldgefühle mit sich herum, auch die Opfer. Extremsituationen im Krieg kann man wohl nur schwer so überstehen, dass man mit sich selbst im Reinen ist. Einmal hat mich ein Mann gefragt: Warum hat Gott mich denn nicht bestraft? Er erzählte, dass nach dem Krieg alle in ihm einen guten Mann sahen, und er wusste, dass er das nicht ist. Damit zu leben, ist eine Strafe. Ein anderer Mann hat Furchtbares erzählt, und als ich ihn zum Gottesdienst einlud, fragte er, ob er das denn dürfe. Wegen des Segens. Weil ich ja jetzt wisse, was er getan hat.

Sie sagen, Sie werten nicht. Ist das schwierig?

Ich kritisiere nicht, aber ich unterdrücke auch nicht mein Entsetzen. Das schlimmste Urteil ist sowieso meist das eigene. Ich glaube, dass der Krieg die furchtbarsten Eigenschaften des Menschen hervorbringt. Wer Krieg erleben musste, hat danach ein anderes Leben. Krieg ist nie vorbei, es bleibt das Erschrecken davor, was man getan und erlebt hat. Ich habe Mitgefühl mit denen, die jetzt mit diesen Erinnerungen sterben. Es wurde ihnen wenig 
Gelegenheit gegeben, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

Die 68er haben ihre Eltern doch gefragt...

Die 68er und wir Nach-68er haben nicht wirklich gefragt, wir haben entsetzt angeklagt. Wir haben das große Schweigen über Faschismus und Krieg bekämpft und ­waren dabei unseren Eltern und Großeltern, Lehrern und Nachbarn gegenüber aus guten Gründen wenig verständnisvoll. Nur, so anklagend gefragt erzählt natürlich kaum jemand etwas freiwillig. Ich weiß so gut wie nichts von den Kriegserlebnissen meines Vaters. Ich habe ihm als Jugendliche vorgeworfen, dass er als 16-Jähriger bei diesem verbrecherischen Krieg mitgemacht hat. Heute verstehe ich, warum er mir danach kaum mehr etwas erzählen wollte.

(Die Fragen stellte Claudia Keller)

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