Antonia Zennaro
Der Horror steckt noch in den Köpfen
Bummeln, skaten, Rad fahren: das sieht alles ganz normal aus. Aber diese jungen Leute in Tripolis haben fast alle Furchtbares erlebt. Wie werden sie die Bilder aus dem Bürgerkrieg wieder los? In einem Jugendzentrum gibt es Hilfe. Nur: Therapie darf man das in diesem Land nicht nennen. . .
27.02.2014

Film ab. Feras sitzt am Steuer. Auf dem Beifahrersitz sein Freund; er blutet aus einer Schusswunde in der Wade. Hinten im Fond der Gefangene. Bewacht vom dritten Freund, mit vorgehaltener Pistole. Sie rasen durch die Straßen. Tripolis, mit mehr als 100 Stunden- kilometern. Hinter ihnen das Auto der Verfolger. Sie schießen. Feras, eine Hand für die Pistole, eine am Steuer, schießt zurück. Sein Auto kommt ins Schleudern, rast auf die linke Straßenseite zu. Filmriss. Dann liegt da dieser Mann. Vor einer Apotheke. Tot. Ein Loch in der Brust. Später stellt sich heraus: ein entfernter Onkel. Feras sieht das Blut den Bordstein herunterfließen. Dann beginnt alles von vorn. Feras sitzt am Steuer. Auf dem Beifahrersitz sein verletzter Freund . . .

Ein Horrorfilm in Endlosschleife. Und nur ein Zuschauer. Der kann nicht fassen, was er sieht. Feras, 26, der Jura studiert ­hat und ein erfolgreicher Autoverkäufer werden möchte. Feras, mit kräftigen Unterarmen und weichen Augen, die er senkt, wenn er erzählt. In seinem Kopf spult er die Sequenz ab, immer wieder. Nicht weil er sie mag. Im Gegenteil. Schuld und Scham quälen ihn. Da liegt der Onkel, da ist die Blutlache. Hat er ihn erschossen?
Hat er seinen Onkel aus Versehen getötet? Hat er Schande auf sich geladen?

Haschisch hilft. Feras raucht. Das löscht die Bilder zwar nicht. Aber sie interessieren ihn in diesen Momenten nicht. Wenn der Rausch weicht, sind die Bilder wieder da. Ganz sicher.

Flashbacks nennt die Traumamedizin, worunter Feras leidet. Ein Erlebnis sprengt das Fassungsvermögen der Psyche. Zu viel, zu gewaltig, zu verstörend. Deshalb kehrt die Erinnerung immer wieder zu diesem Punkt zurück. Wie ein ruheloser Sucher nach Erlösung, der jedes Mal doch nur ­wieder in der Selbstanklage landet. Drei Jahre ist die Verfolgungsjagd durch die libysche Hauptstadt her. Dass Feras überhaupt weiß, was ein Flashback ist und was er seelisch anrichtet, verdankt er Nayla, seiner Psychologin im Libya Youth Center (LYC). Offiziell arbeitet sie in einem ganz normalen Jugendzentrum. Es gehe um Persönlichkeitsentwicklung, steht auf der Facebook-Seite. In Wirklichkeit ist das LYC das einzige Traumazentrum in Libyen. Ein Trauma ist ein Tabu in einer Gesellschaft, die den Patriarchen verehrt, das Starke, den Krieger. Schwachsein ist fast dasselbe wie Schwachsinn. Trauma­geschädigte, die sich dazu bekennen, würden von ihrer Familie wie Verrückte behandelt, sagt Nayla. Also verschweigen sie besser, was sie im Bürgerkrieg von 2011 erlebt haben.

Krieg verstört. Die Abendnachrichten zeigen uns eine Art Totale, die den Zuschauer schont. Die Nahaufnahmen sind quälender. Die Schwester, die auf der Straße von Gaddafis Soldaten entführt wird; das verquollene Gesicht eines Folter­opfers; ein naher Freund, der von einer Granate zerrissen wird. Diese Filme sind nur für die Betroffenen sichtbar. Ihre Erinnerung verwandelt sich in eine Kammer des Schreckens. Äußerlich spielt man Normalität. Beim Mokka im Café reicht jemand sein Smartphone rüber. Es läuft ein Clip, in dem ein Soldat einem gefangenen Revolutionär ­mit einem Messer den Kopf abtrennt. Junge Männer in Libyen haben massenhaft solche Filme auf ihren Handys. „Zeig mir ein schreckliches Video, dann zeig ich dir ein noch schrecklicheres.“ Gestohlene Traumata. Hilflose Versuche der Bewältigung.

Mahmoud zeigt stolz Fotos aus der Zeit in der er und seine Freunde in der Revolution gekämpft haben.
Die Revolution gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi vor drei Jahren schnitt Fronten quer durch Familien, Firmen, Fußballmannschaften. Einst gut gelittene Nachbarn wurden zu Feinden, Studenten bewaffneten sich mit Granatwerfern, Soldaten wurden zu Killern. Mehr als vierzig Jahre Diktatur, Bespitzelung und Willkür reichen aus, um eine ganze Ge­sellschaft zu verstören. In Libyen kam ein blutiger Bürgerkrieg dazu. Niemand traut dem anderen. Viele offene Rechnungen. Und zu viele offene Wunden.

Und was heilt? Das LYC ist ein friedlicher, fröhlicher Ort mitten in Tripolis. Hinter dem Eingangstor liegt ein hellbeigefarbenes, villenartiges Gebäude. Im Garten ist vom Autoverkehr nur noch ein Rauschen zu hören. Auf den Rasenflächen toben Jungen und Mädchen herum. Ein Refugium, wenn auch nur für wenige. 400 Kinder und Jugendliche dürfen pro Saison kommen. „Dabei ist die ganze Gesellschaft schwer traumatisiert“, sagt Nayla. Sonst geradezu professionell optimistisch, wirkt sie einen Moment lang bedrückt. Sie stammt aus dem Libanon, hat mit ihren 32 Jahren vier Kriege erlebt.

Ihre Herkunft sieht sie als Vorteil. „Libyer trauen ihren Landsleuten nicht“, sagt Nayla, „mir als Libanesin öffnen sie sich leichter. Und sie wissen, dass ich ver­stehe, was sie durchgemacht haben.“ Die unverdächtig klingenden Freizeitangebote bilden den Rahmen, in dem die Psychologen des Zentrums seelische Störungen leicht erkennen und unauf­fällig behandeln können, ohne dass Familien oder Nachbarn davon erfahren.

Feras war eines Tages im Zentrum aufgetaucht, um seine Schwester rauszuholen. Sie nahm seit einigen Wochen an den Programmen teil. Zu Hause hatte sie Sachen erzählt, die in Feras’ Ohren merkwürdig klangen. Selbsterfahrung. Rollenspiele. Seine Traumschule malen. Capoeira, die brasilianische Kampfkunst. Über Drogen diskutieren. Vor allem aber eigene Lebens­ziele entwickeln – skandalös in einem Land, wo die Eltern die Lebenswege der Kinder bis ins Kleinste bestimmen.

In Libyen werden Kinder fast nie gelobt

Im Auftrag der Eltern betrat er fest entschlossen das Zentrum. Eine Pädagogin lud ihn ein. Er solle doch einen Nachmittag lang teilnehmen. Und dann entscheiden, ob der Schwester der Besuch verboten wird. Feras hat seitdem keinen Gruppennachmittag verpasst. „Ich fühle mich hier sicher“, sagt er. „Am Anfang fand ich es unfassbar, dass sich die Betreuer zu freuen schienen, allein weil ich da war. Mittlerweile weiß ich: Ihre Freude ist echt. Ich fühle mich einfach willkommen.“ Sein Vertrauen gewannen sie auch, weil sie sich politisch neutral ver­halten. Nicht mal Begriffe wie „Bürgerkrieg“ oder „Revolution“ werden verwendet, weil sie eine Wertung enthalten. Jugendliche aus Pro-Gaddafi-Familien sitzen neben ehemaligen Freiheitskämpfern.

Gut gemacht! Nayla lobt jeden kleinen Erfolg.
Kampfsport und Rhythmusübungen bauen Spannungen ab.
Als besonders heilsam erlebt Feras etwas, was angesichts der kulturellen Traditionen als mittlere Sensation gelten muss: Wertschätzung. In Libyen werden Kinder fast nie gelobt. Fordert man sie auf, in ­Rollenspielen Erwachsene zu imitieren, stellen sie immer gleiche Charaktere nach: den Lehrer, der Schüler schreiend strammstehen lässt; Mütter, deren Lieblingsseufzer „chayatouli rigi“ lautet: „Ihr macht mich krank!“; Väter, die mit dem Stock auf die Hände der Kinder schlagen. Nayla hat mit vielen Eltern gesprochen, erlebt sie in ihrer Gewalttätigkeit vor allem als hilflos: „Ihre Devise ist: Man muss den Willen der Kinder brechen, damit sie einem nicht über den Kopf wachsen.“

Die so Gedemütigten ducken sich. Beißen die Zähne zusammen. Und warten auf den Tag der Rache. Die Revolution gegen Gaddafi war auch eine Auflehnung gegen das Regime des Patriarchats in Libyen.

Wie exotisch mutet in einer solchen Kultur ein Lob an! Und im Zentrum wird eifrig gelobt und gedankt: für ein gemaltes Bild, ein Foto auf Facebook, die Offenheit bei einer Diskussion über Drogenprobleme.

Feras genoss diese Atmosphäre von ­Anfang an. Langsam fasste er Vertrauen zu Nayla. Er willigte ein, Einzelsitzungen zu nehmen. Das Zentrum empfiehlt sie allen, die an bewaffneten Kämpfen teilgenommen haben.
Angeleitet von der Psychologin, sucht Feras mühsam in der eigenen Erinnerung. Jedes Detail an jenem Tag, als er im Auto durch Tripolis raste, könnte der Schlüssel sein, um das Trauma aufzulösen. Welche Farbe hatte das Verfolgerauto? Mit welcher Waffe hat er geschossen? Wie konnte er gleichzeitig steuern und schießen? Welche Kleidung trug der Onkel, der tot auf dem Bürgersteig lag? Sein Film wird bewusst rekonstruiert. Nayla kann beobachten, wie bei jedem Durchgang der Angstpegel ein wenig sinkt.

Die Spuren der Revolution vor 2 Jahren sind immernoch erkennbar.
Eines Tages wird klar: Der tödliche Schuss an jenem Tag muss von einem der Verfolger abgegeben worden sein. Feras kann nicht der Schütze gewesen sein. „Ich fühlte mich, als hätte man einen schweren Stein von meiner Schulter genommen.“ Dennoch, ein Zweifel bleibt. Nach der letzten Sitzung mit Nayla geht er zum Imam seiner Moschee. Der Geistliche hört sich die Geschichte an und bestätigt ihm: „Du trägst keine Schuld.“ Seitdem ist die Erinnerung an jenen Tag zwar noch wach. Aber Angst und Scham können sich nicht mehr dranhängen. Er braucht das Kiffen nicht mehr, um die Bilder in seinem Kopf zur Seite zu drängen. Feras ist auf einem guten Weg.

Die Idee zum Libya Youth Center entstand mitten im Krieg. Die Führung des österreichischen Ölkonzerns OMV, seit Jahrzehnten im Lande tätig, erkannte: Die Traumata, die jetzt entstehen, müssen geheilt werden. Sonst bliebe das „neue Libyen“, für das die Revolutionäre kämpften, eine Illusion. Noch bevor der Sieg über Gaddafi errungen war, wurde das Zentrum geplant und dem Hilfswerk Austria zur fachlichen Betreuung übergeben.

„Kinder wie Khalifa brauchen das Zentrum besonders dringend“, sagt der Betreuer Sala. Welchen Film hat Khalifa im Kopf? Der Junge wälzt sich auf dem Boden. Knufft den Jungen neben ihm, mitten in einer Entspannungsübung. Er schlägt sich auf die Brust, rauft sich die Haare, rennt durch den Raum. In jeder anderen Kita ­wäre er das Enfant terrible. Der Betreuer hat ein gutes Gespür für die inneren Welten der Kinder, versetzt sie in einen Rhythmus von Aktion und Entspannung. Veranstaltet ein Wasserspiel draußen auf dem Rasen, wo überschüssige Kräfte rauskönnen, bevor ­sie zu aggressiver Gewalt werden.

Khalifa war neun Jahre alt, als der Krieg begann. Eines Tages, kurz nach dem Mittagessen, wurde die Tür aufgerissen. Viele gestikulierende Männer stürzten in die Wohnung. Sie hatten eine Leiche dabei, das weiße T-Shirt blutgetränkt. Der Tote war Khalifas älterer Bruder. Er hatte in der Nähe von Tripolis an der Front gekämpft. Wie wird Khalifa diesen Film wieder los?

Kriege stehlen die Kindheit

Die inneren Bilder müssen sichtbar ­werden. Manchmal hilft es, sie zu malen. Heute ist das Thema: „Was wäre mein schönstes Geburtsgeschenk?“ Ein Junge zeichnet einen Panzer, der über und über mit farbigen Schokodrops beklebt ist. Ein anderer wünscht sich ein ganzes Waffen­arsenal, von der Pistole bis zur Panzerfaust, mit exakter Typenbezeichnung. Auf einem Bild ist eine Schießerei zwischen zwei Straßengangs zu sehen, die Menschen als Strichmännchen, die Waffen detailgetreu, dazu hat ein Mädchen seinen Wunsch ­notiert: „Abends keine Schießereien mehr“.

Zerstreuung gibt es auch: Jugendliche am Kicker auf dem Märtyrerplatz.
Ein älterer Teilnehmer hat ein Foto ­von zu Hause mitgebracht. Sein fünfjähriger Bruder liegt halb eingegraben im Sand, die Augen geschlossen. Daneben seine Schwester, in Trauerhaltung. Woanders wird Vater-Mutter-Kind gespielt, um Rollen einzuüben. In Libyen ist „Märtyrer und ­Witwe“ beliebt.

Kriege stehlen die Kindheit. „Vielen ­Heranwachsenden fehlt die Unbekümmertheit“, beobachtet Nayla. Schon Zehnjährige würden gedrillt, sich wie Erwachsene zu verhalten. Diszipliniert, wichtig tuend. Die Jungs beginnen, ihre Schwes­tern herum­zukommandieren. Die Mädchen machen auf züchtige Hausfrau. Das freie Spielen bleibt auf der Strecke. Die Kraft, sich immer neue ­Wel­ten auszu­denken. Wenn Nayla im Kindergarten im heimatlichen Beirut die Kleinen fragte, was der Bleistift in ihrer Hand alles sein könnte, dann kam: Zauberstab, Mond­rakete, Essstäbchen . . . Wenn sie diesen Test im LYC macht, sagen die Kinder: Das ist und bleibt ein Bleistift. Erst nach Wochen im Zentrum wird Fantasie wach.

Ein Programmzyklus im Zentrum dauert neun Monate. Das wichtigste Ziel der fast 20 Sozial­arbeiter, Animateure und Psychologen ist es, Kinder und junge Menschen zu ermutigen, eine eigene Vorstellung von ihrem Leben zu entwickeln. Sie sind sich bewusst, wie spektakulär diese Herangehensweise mit der Tradition und dem Trott einer besonders konservativen Gesellschaft bricht. „Man könnte uns das Wer-bin-ich-und-was-will-ich-Zentrum nennen“, sagt Lamya, die Programmlei­terin. Nach dem Bürgerkrieg ist die Orientierungslosigkeit vieler junger Menschen besonders groß. Sie lassen sich treiben. Die jungen Männer hängen in den Cafés ab, die jungen Frauen zu Hause vor Fernseher oder Computer. Andere Freizeitangebote sind selten. Gute Jobs auch.

Nicht selten entlädt sich der Frust in Schlägereien, die zu Schießereien ausarten. Kleinkriege aus Langeweile. Waffen sind schnell zur Hand. Kaum jemand hat sie nach Kriegsende abgegeben. Aus Ländern wie Israel und Palästina, die über Jahrzehnte einen Bürgerkrieg erleben, weiß man, dass die Fallzahlen von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung deutlich höher sind als in vergleichbaren Ländern ohne kriege­rische Vorgeschichte.

Mahmoud hat den ersten Programm­zyklus im Zentrum absolviert. Mittlerweile assistiert er, betreut Kindergruppen ehrenamtlich. Ein gutaussehender 24-Jähriger, auf dessen ebenmäßigem, bronzefarbenen Gesicht immer ein Lächeln spielt. Wenn er im Gespräch nach einer englischen Vokabel sucht, zieht er die Nase kraus, was ihm etwas Kindliches, Unschuldiges verleiht. Nur manchmal ist ein bitterer Zug um die Augen herum erkennbar.

Viele junge Libyer haben schreckliche Bilder in ihren Köpfen. Nayla hilft ihnen, sie loszuwerden.
Mahmoud fragt, ob er mal ein paar der Videos zeigen solle. Von vor drei Jahren. Gefilmt mit Handys von ihm und seinen Freunden. Er klappt seinen Laptop auf und taucht sofort in einen Kriegsfilm ein. „Hier kämpfen wir eine Straße in Sirte frei“, kommentiert er einen Clip, mehr beflissen als berührt, „wir versuchen, den Panzer zu knacken, der hier rückwärtsfährt. Der gehörte zu Gaddafis Leuten. Wir haben ihn mit einer Panzerfaust erledigt, mit einem guten Schuss.“ Stolz schwingt mit, seine Stimme ist erregt. Auf den verwackelten Handy-Aufnahmen sind er und seine Freunde aus Tripolis zu sehen. Sie tragen T-Shirts, Bermudashorts und Turnschuhe. Sie sehen aus wie Jugendliche, die in ein Ferienlager fahren, damals im Frühjahr 2011, als sie in den Krieg zogen. Einige fuhren direkt aus dem Hörsaal an die Front. Mahmoud studierte Lebens­mitteltechnologie. Kolibakterien waren sein Thema. Nun ging er in den Krieg, zusammen mit seinen Kommilitonen und mit selbst gekauften Waffen. Warum? „Da war echte Action. Der Lärm der Schüsse, die Panzer, die Angst. Das waren einfach krasse Gefühle.“

"Ich will meinem Land dienen. Das ist mein Ziel"

Nach dem Sieg der Revolution kehrt er heim. Zunächst ist seine Familie stolz auf ihren Erstgeborenen, auf den Krieger, den Tapferen. Doch mit der Zeit fällt sein aggressives Verhalten auf. Beim Streit mit einem Freund zückt er eine Pistole, der Schuss geht in den Boden, zum Glück. „In der Familie galt ich plötzlich als ‚al-damawi‘, als blutrünstig.“ Er selbst kann das nicht glauben. „Ich hielt mich für nervös, ja, aber das ist doch normal, das waren meine Freunde auch.“ Er hört vom Zentrum, bewirbt sich und wird aufgenommen. Bei einer der ersten Übungen geht es darum, einen Quadranten zu zeichnen. Vier Felder, über sich, seine Ziele, seine Schwächen, seine Stärken. „Einfache Fragen. Sie haben mich zum ersten Mal dazu gebracht, über mich nachzudenken.“

Dann passiert etwas, das er sich bis ­heute nicht erklären kann. Oktober 2012. Er nimmt schon länger an den Programmen des Zentrums teil, als sich die Stadt Bani Walid, südöstlich von Tripolis ge­legen, gegen die Übergangsregierung erhebt. Mahmoud ist wütend. Die Revolution scheint in Gefahr. Alles, wofür er gekämpft hat, könnte auf dem Spiel stehen. Er ringt mit sich. Seine Mutter bittet ihn inständig zu bleiben. Sein Vater, das unangefochtene Oberhaupt, verbietet ihm streng, nach Bani Walid zu fahren. Zunächst scheint es so, ­als füge er sich. Doch eines Morgens kehrt er nicht aus der Uni heim. Er hat sich wieder ein Maschinengewehr besorgt und schließt sich den Milizen an. Innerhalb weniger Tage „befreien“ sie die Stadt.

Mahmoud und Lamya, Betreuer im Jugendzentrum, verfolgen die Präsentatio der Arbeitsgruppe Sucht.
Diesmal ist die Rückkehr überschattet. Der Vater spricht kein Wort mehr mit ihm. Mahmoud fühlt sich geächtet. Aber auch schuldig gegenüber den Kumpels im Libya Youth Center, mit denen er so leidenschaftlich über eine friedliche Zukunft für das Land diskutiert hatte. Nun sieht er sich als Verräter eines Weges, den er zuvor eingeschlagen hatte. Er hat begonnen, therapeutische Sitzungen bei Nayla zu nehmen. Sie zeigen Wirkung. „Zwar kommt immer wieder Wut hoch, und manchmal weiß ich gar nicht warum. Aber ich habe gelernt, ihr nicht sofort nachzugehen.“ Affektbeherrschung nennt Nayla das.

Mahmoud ist einer der eifrigsten Freiwilligen im Zentrum geworden. Das Stu­dium als Lebensmittelingenieur hat er abgeschlossen. „Ich will im neuen Libyen eine Führungsposition einnehmen, ich will meinem Land dienen. Das ist mein Ziel.“ Sein Gewehr bewahrt er zu Hause im Kleiderschrank auf. Und noch ein paar andere Waffen, über die er nicht sprechen möchte. „Die gebe ich irgendwann ab. Aber nur an eine Behörde, der ich wirklich vertrauen kann.“
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