Film ab. Feras sitzt am Steuer. Auf dem Beifahrersitz sein Freund; er blutet aus einer Schusswunde in der Wade. Hinten im Fond der Gefangene. Bewacht vom dritten Freund, mit vorgehaltener Pistole. Sie rasen durch die Straßen. Tripolis, mit mehr als 100 Stunden- kilometern. Hinter ihnen das Auto der Verfolger. Sie schießen. Feras, eine Hand für die Pistole, eine am Steuer, schießt zurück. Sein Auto kommt ins Schleudern, rast auf die linke Straßenseite zu. Filmriss. Dann liegt da dieser Mann. Vor einer Apotheke. Tot. Ein Loch in der Brust. Später stellt sich heraus: ein entfernter Onkel. Feras sieht das Blut den Bordstein herunterfließen. Dann beginnt alles von vorn. Feras sitzt am Steuer. Auf dem Beifahrersitz sein verletzter Freund . . .
Ein Horrorfilm in Endlosschleife. Und nur ein Zuschauer. Der kann nicht fassen, was er sieht. Feras, 26, der Jura studiert hat und ein erfolgreicher Autoverkäufer werden möchte. Feras, mit kräftigen Unterarmen und weichen Augen, die er senkt, wenn er erzählt. In seinem Kopf spult er die Sequenz ab, immer wieder. Nicht weil er sie mag. Im Gegenteil. Schuld und Scham quälen ihn. Da liegt der Onkel, da ist die Blutlache. Hat er ihn erschossen?
Hat er seinen Onkel aus Versehen getötet? Hat er Schande auf sich geladen?
Haschisch hilft. Feras raucht. Das löscht die Bilder zwar nicht. Aber sie interessieren ihn in diesen Momenten nicht. Wenn der Rausch weicht, sind die Bilder wieder da. Ganz sicher.
Flashbacks nennt die Traumamedizin, worunter Feras leidet. Ein Erlebnis sprengt das Fassungsvermögen der Psyche. Zu viel, zu gewaltig, zu verstörend. Deshalb kehrt die Erinnerung immer wieder zu diesem Punkt zurück. Wie ein ruheloser Sucher nach Erlösung, der jedes Mal doch nur wieder in der Selbstanklage landet. Drei Jahre ist die Verfolgungsjagd durch die libysche Hauptstadt her. Dass Feras überhaupt weiß, was ein Flashback ist und was er seelisch anrichtet, verdankt er Nayla, seiner Psychologin im Libya Youth Center (LYC). Offiziell arbeitet sie in einem ganz normalen Jugendzentrum. Es gehe um Persönlichkeitsentwicklung, steht auf der Facebook-Seite. In Wirklichkeit ist das LYC das einzige Traumazentrum in Libyen. Ein Trauma ist ein Tabu in einer Gesellschaft, die den Patriarchen verehrt, das Starke, den Krieger. Schwachsein ist fast dasselbe wie Schwachsinn. Traumageschädigte, die sich dazu bekennen, würden von ihrer Familie wie Verrückte behandelt, sagt Nayla. Also verschweigen sie besser, was sie im Bürgerkrieg von 2011 erlebt haben.
Krieg verstört. Die Abendnachrichten zeigen uns eine Art Totale, die den Zuschauer schont. Die Nahaufnahmen sind quälender. Die Schwester, die auf der Straße von Gaddafis Soldaten entführt wird; das verquollene Gesicht eines Folteropfers; ein naher Freund, der von einer Granate zerrissen wird. Diese Filme sind nur für die Betroffenen sichtbar. Ihre Erinnerung verwandelt sich in eine Kammer des Schreckens. Äußerlich spielt man Normalität. Beim Mokka im Café reicht jemand sein Smartphone rüber. Es läuft ein Clip, in dem ein Soldat einem gefangenen Revolutionär mit einem Messer den Kopf abtrennt. Junge Männer in Libyen haben massenhaft solche Filme auf ihren Handys. „Zeig mir ein schreckliches Video, dann zeig ich dir ein noch schrecklicheres.“ Gestohlene Traumata. Hilflose Versuche der Bewältigung.
Und was heilt? Das LYC ist ein friedlicher, fröhlicher Ort mitten in Tripolis. Hinter dem Eingangstor liegt ein hellbeigefarbenes, villenartiges Gebäude. Im Garten ist vom Autoverkehr nur noch ein Rauschen zu hören. Auf den Rasenflächen toben Jungen und Mädchen herum. Ein Refugium, wenn auch nur für wenige. 400 Kinder und Jugendliche dürfen pro Saison kommen. „Dabei ist die ganze Gesellschaft schwer traumatisiert“, sagt Nayla. Sonst geradezu professionell optimistisch, wirkt sie einen Moment lang bedrückt. Sie stammt aus dem Libanon, hat mit ihren 32 Jahren vier Kriege erlebt.
Ihre Herkunft sieht sie als Vorteil. „Libyer trauen ihren Landsleuten nicht“, sagt Nayla, „mir als Libanesin öffnen sie sich leichter. Und sie wissen, dass ich verstehe, was sie durchgemacht haben.“ Die unverdächtig klingenden Freizeitangebote bilden den Rahmen, in dem die Psychologen des Zentrums seelische Störungen leicht erkennen und unauffällig behandeln können, ohne dass Familien oder Nachbarn davon erfahren.
Feras war eines Tages im Zentrum aufgetaucht, um seine Schwester rauszuholen. Sie nahm seit einigen Wochen an den Programmen teil. Zu Hause hatte sie Sachen erzählt, die in Feras’ Ohren merkwürdig klangen. Selbsterfahrung. Rollenspiele. Seine Traumschule malen. Capoeira, die brasilianische Kampfkunst. Über Drogen diskutieren. Vor allem aber eigene Lebensziele entwickeln – skandalös in einem Land, wo die Eltern die Lebenswege der Kinder bis ins Kleinste bestimmen.
In Libyen werden Kinder fast nie gelobt
Im Auftrag der Eltern betrat er fest entschlossen das Zentrum. Eine Pädagogin lud ihn ein. Er solle doch einen Nachmittag lang teilnehmen. Und dann entscheiden, ob der Schwester der Besuch verboten wird. Feras hat seitdem keinen Gruppennachmittag verpasst. „Ich fühle mich hier sicher“, sagt er. „Am Anfang fand ich es unfassbar, dass sich die Betreuer zu freuen schienen, allein weil ich da war. Mittlerweile weiß ich: Ihre Freude ist echt. Ich fühle mich einfach willkommen.“ Sein Vertrauen gewannen sie auch, weil sie sich politisch neutral verhalten. Nicht mal Begriffe wie „Bürgerkrieg“ oder „Revolution“ werden verwendet, weil sie eine Wertung enthalten. Jugendliche aus Pro-Gaddafi-Familien sitzen neben ehemaligen Freiheitskämpfern.
Die so Gedemütigten ducken sich. Beißen die Zähne zusammen. Und warten auf den Tag der Rache. Die Revolution gegen Gaddafi war auch eine Auflehnung gegen das Regime des Patriarchats in Libyen.
Wie exotisch mutet in einer solchen Kultur ein Lob an! Und im Zentrum wird eifrig gelobt und gedankt: für ein gemaltes Bild, ein Foto auf Facebook, die Offenheit bei einer Diskussion über Drogenprobleme.
Feras genoss diese Atmosphäre von Anfang an. Langsam fasste er Vertrauen zu Nayla. Er willigte ein, Einzelsitzungen zu nehmen. Das Zentrum empfiehlt sie allen, die an bewaffneten Kämpfen teilgenommen haben.
Angeleitet von der Psychologin, sucht Feras mühsam in der eigenen Erinnerung. Jedes Detail an jenem Tag, als er im Auto durch Tripolis raste, könnte der Schlüssel sein, um das Trauma aufzulösen. Welche Farbe hatte das Verfolgerauto? Mit welcher Waffe hat er geschossen? Wie konnte er gleichzeitig steuern und schießen? Welche Kleidung trug der Onkel, der tot auf dem Bürgersteig lag? Sein Film wird bewusst rekonstruiert. Nayla kann beobachten, wie bei jedem Durchgang der Angstpegel ein wenig sinkt.
Die Idee zum Libya Youth Center entstand mitten im Krieg. Die Führung des österreichischen Ölkonzerns OMV, seit Jahrzehnten im Lande tätig, erkannte: Die Traumata, die jetzt entstehen, müssen geheilt werden. Sonst bliebe das „neue Libyen“, für das die Revolutionäre kämpften, eine Illusion. Noch bevor der Sieg über Gaddafi errungen war, wurde das Zentrum geplant und dem Hilfswerk Austria zur fachlichen Betreuung übergeben.
„Kinder wie Khalifa brauchen das Zentrum besonders dringend“, sagt der Betreuer Sala. Welchen Film hat Khalifa im Kopf? Der Junge wälzt sich auf dem Boden. Knufft den Jungen neben ihm, mitten in einer Entspannungsübung. Er schlägt sich auf die Brust, rauft sich die Haare, rennt durch den Raum. In jeder anderen Kita wäre er das Enfant terrible. Der Betreuer hat ein gutes Gespür für die inneren Welten der Kinder, versetzt sie in einen Rhythmus von Aktion und Entspannung. Veranstaltet ein Wasserspiel draußen auf dem Rasen, wo überschüssige Kräfte rauskönnen, bevor sie zu aggressiver Gewalt werden.
Khalifa war neun Jahre alt, als der Krieg begann. Eines Tages, kurz nach dem Mittagessen, wurde die Tür aufgerissen. Viele gestikulierende Männer stürzten in die Wohnung. Sie hatten eine Leiche dabei, das weiße T-Shirt blutgetränkt. Der Tote war Khalifas älterer Bruder. Er hatte in der Nähe von Tripolis an der Front gekämpft. Wie wird Khalifa diesen Film wieder los?
Kriege stehlen die Kindheit
Die inneren Bilder müssen sichtbar werden. Manchmal hilft es, sie zu malen. Heute ist das Thema: „Was wäre mein schönstes Geburtsgeschenk?“ Ein Junge zeichnet einen Panzer, der über und über mit farbigen Schokodrops beklebt ist. Ein anderer wünscht sich ein ganzes Waffenarsenal, von der Pistole bis zur Panzerfaust, mit exakter Typenbezeichnung. Auf einem Bild ist eine Schießerei zwischen zwei Straßengangs zu sehen, die Menschen als Strichmännchen, die Waffen detailgetreu, dazu hat ein Mädchen seinen Wunsch notiert: „Abends keine Schießereien mehr“.
Kriege stehlen die Kindheit. „Vielen Heranwachsenden fehlt die Unbekümmertheit“, beobachtet Nayla. Schon Zehnjährige würden gedrillt, sich wie Erwachsene zu verhalten. Diszipliniert, wichtig tuend. Die Jungs beginnen, ihre Schwestern herumzukommandieren. Die Mädchen machen auf züchtige Hausfrau. Das freie Spielen bleibt auf der Strecke. Die Kraft, sich immer neue Welten auszudenken. Wenn Nayla im Kindergarten im heimatlichen Beirut die Kleinen fragte, was der Bleistift in ihrer Hand alles sein könnte, dann kam: Zauberstab, Mondrakete, Essstäbchen . . . Wenn sie diesen Test im LYC macht, sagen die Kinder: Das ist und bleibt ein Bleistift. Erst nach Wochen im Zentrum wird Fantasie wach.
Ein Programmzyklus im Zentrum dauert neun Monate. Das wichtigste Ziel der fast 20 Sozialarbeiter, Animateure und Psychologen ist es, Kinder und junge Menschen zu ermutigen, eine eigene Vorstellung von ihrem Leben zu entwickeln. Sie sind sich bewusst, wie spektakulär diese Herangehensweise mit der Tradition und dem Trott einer besonders konservativen Gesellschaft bricht. „Man könnte uns das Wer-bin-ich-und-was-will-ich-Zentrum nennen“, sagt Lamya, die Programmleiterin. Nach dem Bürgerkrieg ist die Orientierungslosigkeit vieler junger Menschen besonders groß. Sie lassen sich treiben. Die jungen Männer hängen in den Cafés ab, die jungen Frauen zu Hause vor Fernseher oder Computer. Andere Freizeitangebote sind selten. Gute Jobs auch.
Nicht selten entlädt sich der Frust in Schlägereien, die zu Schießereien ausarten. Kleinkriege aus Langeweile. Waffen sind schnell zur Hand. Kaum jemand hat sie nach Kriegsende abgegeben. Aus Ländern wie Israel und Palästina, die über Jahrzehnte einen Bürgerkrieg erleben, weiß man, dass die Fallzahlen von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung deutlich höher sind als in vergleichbaren Ländern ohne kriegerische Vorgeschichte.
Mahmoud hat den ersten Programmzyklus im Zentrum absolviert. Mittlerweile assistiert er, betreut Kindergruppen ehrenamtlich. Ein gutaussehender 24-Jähriger, auf dessen ebenmäßigem, bronzefarbenen Gesicht immer ein Lächeln spielt. Wenn er im Gespräch nach einer englischen Vokabel sucht, zieht er die Nase kraus, was ihm etwas Kindliches, Unschuldiges verleiht. Nur manchmal ist ein bitterer Zug um die Augen herum erkennbar.
"Ich will meinem Land dienen. Das ist mein Ziel"
Nach dem Sieg der Revolution kehrt er heim. Zunächst ist seine Familie stolz auf ihren Erstgeborenen, auf den Krieger, den Tapferen. Doch mit der Zeit fällt sein aggressives Verhalten auf. Beim Streit mit einem Freund zückt er eine Pistole, der Schuss geht in den Boden, zum Glück. „In der Familie galt ich plötzlich als ‚al-damawi‘, als blutrünstig.“ Er selbst kann das nicht glauben. „Ich hielt mich für nervös, ja, aber das ist doch normal, das waren meine Freunde auch.“ Er hört vom Zentrum, bewirbt sich und wird aufgenommen. Bei einer der ersten Übungen geht es darum, einen Quadranten zu zeichnen. Vier Felder, über sich, seine Ziele, seine Schwächen, seine Stärken. „Einfache Fragen. Sie haben mich zum ersten Mal dazu gebracht, über mich nachzudenken.“
Dann passiert etwas, das er sich bis heute nicht erklären kann. Oktober 2012. Er nimmt schon länger an den Programmen des Zentrums teil, als sich die Stadt Bani Walid, südöstlich von Tripolis gelegen, gegen die Übergangsregierung erhebt. Mahmoud ist wütend. Die Revolution scheint in Gefahr. Alles, wofür er gekämpft hat, könnte auf dem Spiel stehen. Er ringt mit sich. Seine Mutter bittet ihn inständig zu bleiben. Sein Vater, das unangefochtene Oberhaupt, verbietet ihm streng, nach Bani Walid zu fahren. Zunächst scheint es so, als füge er sich. Doch eines Morgens kehrt er nicht aus der Uni heim. Er hat sich wieder ein Maschinengewehr besorgt und schließt sich den Milizen an. Innerhalb weniger Tage „befreien“ sie die Stadt.
Mahmoud ist einer der eifrigsten Freiwilligen im Zentrum geworden. Das Studium als Lebensmittelingenieur hat er abgeschlossen. „Ich will im neuen Libyen eine Führungsposition einnehmen, ich will meinem Land dienen. Das ist mein Ziel.“ Sein Gewehr bewahrt er zu Hause im Kleiderschrank auf. Und noch ein paar andere Waffen, über die er nicht sprechen möchte. „Die gebe ich irgendwann ab. Aber nur an eine Behörde, der ich wirklich vertrauen kann.“