Musiktipps Oktober 2025
Langes Hinschauen
Dreimal deutschsprachiger Pop aus dem Bereich Alltagsbeobachtungen mit Realromantik
Musiktipps
PR
Tim Wegner
08.10.2025
4Min

Wenn man etwas oder jemanden lange genug anschaut oder hinschaut, offenbaren sich oft interessante Entdeckungen. Dinge treten hervor, die man auf den ersten Blick gar nicht wahrgenommen hat. Manchmal entwickeln sich sogar regelrechte Traum- oder Trugbilder oder es kommen zusätzliche Ebenen und Hintergründiges zum Vorschein. Wer hat nicht schon mal beim Starren in den Wolkenhimmel plötzlich Gestalten, Tiere, ganze Landschaften statt schnöder Ansammlungen von Wasserdampf gesehen? Das hat ein bisschen etwas vom "mit dem Herzen sehen", wie es Saint-Exupérys kleiner Prinz beigebracht bekommt. Genau auf diese Weise scheinen die Künstlerinnen und Künstler dieser drei neuen Alben ihre Umwelt zu beobachten.

Lang gereifte Songs über Beziehungen

Die Höchste Eisenbahn ist eine kleine Supergroup des deutschen Indiepop. Ihr letztes Album liegt sechs Jahre zurück, aber in der Zwischenzeit haben die einzelnen Mitglieder - wie eigentlich immer schon - alleine oder mit anderen zusammen Musik gemacht: Max Schröder mit seinem Freund Olli Schulz, Francesco Wilking mit der Crucchi Gang und Moritz Krämer solo. Felix Weigt hat sich derweil aufs Podcasten verlegt. Aber offenbar hat die Pause nicht geschadet.

Im Gegenteil: Einmal mehr beweist die Höchste Eisenbahn ihre absolute Meisterschaft darin, Alltagsgeschehen und Beziehungsreflexionen präzise in mitreißende Songs zu gießen. Songs, bei denen man oft weinen und tanzen gleichzeitig möchte. Spezialgebiet der vier Berliner ist dabei das Zwischenmenschliche – dort scheinen sie besonders lange und intensiv hinzuschauen. Und das nicht ohne Stirnrunzeln.

Das Album beginnt zum Beispiel mit der Erkenntnis, dass man sich manchmal am meisten liebt, wenn man sich nicht sieht. Es gibt aber auch einen Song darüber, dass, wer nichts zu verlieren hat, in zerbrechenden Beziehungen fein raus ist. Oder einen, der erklärt, dass Unehrlichkeit die fieseste Waffe im ewigen Auf und Ab einer Zweierbeziehung ist. Und auch einen Song, in dem es um die Menschen geht, die warten und die, die zu spät kommen – und darum, dass es viel Kraft kostet, den Nachkommenden zu vertrauen.

Auch beim Entstehen der Stücke hat die Band übrigens lange und genau hingeschaut: Einige Songideen sind bereits zehn Jahre alt, vieles hat sich entwickelt, wurde gemeinsam weiterentwickelt. Die Texte wurden zum Teil miteinander weitergeschrieben, sehr viel Musik und Arrangements entstanden gemeinsam im Proberaum. Das wurde so intensiv, dass die Band schließlich für jeden Song einen Paten aus ihren Reihen bestimmte, der dafür sorgen musste, dass er irgendwann auch fertig und gut wird. Und irgendwie spricht ja auch der Albumtitel bereits Bände: "Wenn wir uns wieder sehen, schreien wir uns wieder an."

"Wenn wir uns wieder sehen, schreien wir uns wieder an" von Die Höchste Eisenbahn auf Spotify anhören.

Vom Risiko, sich verletzlich zu zeigen

Wencke Wollny alias Karl die Große schaut auf ihrem neuen, dritten Album vor allem bei ihren Sorgen und ihrem Scheitern lange und genau hin – um das schließlich in den Griff bekommen und weitermachen zu können. So erzählt sie selbst: "Ich musste in den letzten Jahren fast gezwungenermaßen meine Ängste und Unzulänglichkeiten erforschen. Das ist relativ anstrengend und trotzdem schafft es Verbindung. Ich durfte herausfinden, dass ich nicht alleine damit bin."

Beim Umgang mit diesen Problemen sieht sie zwei mögliche Wege: "Das Risiko eingehen, sich offen und verletzlich zu zeigen, um das Vertrauen ineinander zu stärken oder Macht schüren und ausüben, um sich in vermeintlicher Sicherheit wiegen zu können und sich selbst und alles, was unangenehm ist, nicht spüren zu müssen." Über beide Möglichkeiten singt sie – wobei sie keinen Zweifel lässt, welche sie bevorzugt: "Ich entscheide mich für ersteres: fürs Risiko. Wie schon so viele Menschen um mich herum."

Und davon erzählt sie auf ihrem neuen Album, in dem sie eben lange und genau hinschaut, was das mit sich bringt und daraus dann brillante Geschichten, Texte und Musik entstehen lässt, die nachvollziehbar und anschlussfähig werden. Der Sound ist dabei der einer Gegenwartsliedermacherin: Zart und verspielt, aber auch stellenweise bedrohlich, akustische Gitarren, aber auch Keyboardflächen und elektronische Beats, irgendwo zwischen Dota Kehr (mit der sie auch auf Tour war), Nadia Reid und Billie Eilish. Singer/Songwriter-Kollegin Sarah Lesch beschreibt es so: "Ihre Musik nimmt einen an der Hand und führt in Räume im Inneren eines Selbst, in die man sich alleine nicht trauen würde – ja vielleicht noch nicht mal von ihnen gewusst hätte." Man fühlt sich – so der Titel des Albums – "Aufgehoben".

"Aufgehoben" von Karl die Große auf Spotify anhören.

Musik wie ein sonniger Herbsttag

Das Paradies schließlich ist das Projekt von Florian Sievers. Auf seinem ebenfalls dritten Album macht er Musik, ein bisschen wie ein sonniger Herbsttag: Bittersüß, leicht und nach dem "Weiter" suchend. Wärmende Melodien und schwebende Arrangements begleiten zweifelnde Zeilen und fragende Gedanken. Das ist im besten Sinne romantisch – alltags- oder realromantisch.

Auch Sievers schaut lange und intensiv hin. Das zeigt sich schon an Songtiteln wie "An einem Kirschbaum im Sommer", "Das Leben fühlt sich endlos an" oder "Wenn der Staub sich legt". Oder auch "Der Spuk, der uns verbindet", in dessen Text der "Morgentau als Zuckerguss" erscheint. Die Erde ist ein Würfel, erklärt Florian Sievers: "Und wenn wir uns wundern, dann erwürfeln wir uns dafür den Grund." Auch bei ihm braucht es das lange Hinschauen schon durch den Entstehungsprozess seiner Stücke.

An denen bastelt er nämlich eingeschlossen in seinem Studio immer dann, wenn er zwischen seinen anderen Projekten - dem Produzieren von Theatermusiken oder Alben anderer Künstler*innen - Zeit dafür findet. Danach erst kommen Gäste und zusätzliche Arrangements dazu. Und schließlich zeigt auch bei "Das Paradies" der Albumtitel schon an, wo es sich lohnt, lange hinzuschauen. Nämlich: "Überall, wo Menschen sind". Oder, vielleicht sogar noch besser: lange hinhören!

"Überall, wo Menschen sind" von Das Paradies auf Spotify anhören.

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