Nepal, Grenzgebiet zu Indien. Wenn hier ein Kind in die Sklaverei verschleppt wird, läuft das ungefähr so ab: Eine arme, kinderreiche nepalesische Familie bekommt Besuch von einer freundlichen Inderin. Sie schildert den Eltern überzeugend, wie viel besser es der zehnjährige Sohn in Indien hätte.
Er würde in einer gut situierten Familie leben, zur Schule gehen, leichte Arbeiten verrichten, vom Lohn einen Teil nach Hause schicken können – warum also zögern? Die Frau kommt wieder, irgendwann stimmen die Eltern zu.
Der Sohn wird abgeholt und für den Grenzübertritt gedrillt: Für den Fall, dass das Grenzpersonal misstrauisch Fragen stellt, soll er den Namen einer indischen "Tante" nennen, die er besuchen will. Er kann eine Telefonnummer aufsagen, sein Begleiter sei sein "Cousin". Auch auf hartnäckige Fragen hin wird er standfest bleiben: Ihm gehe es gut, alles sei in Ordnung.
Tatsächlich wird das Kind verschleppt und zur Arbeit gezwungen, in eine Teppichfabrik oder in eine Kohlemine irgendwo in Indien. Von Anfang bis Ende sind die Menschenhändler perfekt durchorganisiert; die Kinder werden von einem Schlepper zum nächsten weitergereicht; oft werden sie dann allein oder in einer Kleingruppe über die Grenze geschickt, wo auf der indischen Seite der nächste "Cousin" wartet.
"Chhatree", ein Hilfsprojekt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, bekämpft diese Art von Menschenhandel. Es unterhält Beratungszentren an acht bemannten Grenzübergängen und hat zusammen mit der Partnerorganisation Manav Seva Sansthan (MSS) in den umliegenden Dörfern 80 Förderzentren eingerichtet.
Hier lernen Grenzbeamte, Kinder und ihre Eltern, wie sie Schlepper und Kinder aus Nepal erkennen, wie sie die Opfer ansprechen müssen, damit sie die Wahrheit erzählen. Mit Ausbruch der Corona-Pandemie wurden viele staatliche Schulen geschlossen, die Förderzentren dienten und dienen oft als Ersatz, auch zum Thema Schutz gegen Corona.
Wichtig ist der lokale Ansatz
Stefan Ernst arbeitet seit 14 Jahren bei der Kindernothilfe in Duisburg. Regelmäßig reist er nach Indien. Die Arbeit von MSS und Chhatree ist ihm vor einigen Jahren positiv aufgefallen. Zum einen hatte MSS mit den Vereinten Nationen kooperiert, wichtiger war ihm aber der lokale Ansatz: "Die Menschen in den Dörfern bestimmen mit, wie die Hilfsgelder eingesetzt werden."
Chhatree heißt auf Deutsch "Schutzschirm". 185 mutmaßlich verschleppte Jungen und Mädchen zwischen sechs und 18 Jahren wurden seit Projektbeginn 2020 befreit. Die Kindernothilfe unterstützt Chhatree für fünf Jahre und rechnet damit, dass in dieser Zeit etwa 2000 Kinder zu ihren Eltern zurückgebracht werden können. Die Menschen in den Dörfern bestimmen mit, wie und wofür die Hilfsgelder eingesetzt werden
Die Kindernothilfe e. V. wurde als christliches Hilfswerk 1959 gegründet. Im Jahr 2021 hat der Verein über 2,3 Millionen Kinder in 36 Ländern mit Hilfe von 346 Partner- organisationen in 530 Projekten gefördert.
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