Menschenrechtsanwalt und Aktivist Colin Gonsalves auf dem Weg zum Gericht in Delhi
Friedensnobelpreistraeger Kailash Satyarthi im Mukti Ashram in Delhi
Kathrin Harms
Lob der Unruhe
Sie kämpfen gegen Kinderarbeit, Armut und Ungerechtigkeit. Sie wollen Indien 
besser machen – und alle drei wurden mit bedeutenden Preisen belohnt. Seit Jahrzehnten 
arbeitet Brot für die Welt mit ihnen zusammen
Tim Wegner
Privat
22.11.2018

Kailash Satyarthi

Sie kommen unangekündigt in der Nacht, oft ohne Begleitung der örtlichen Polizei, denn die könnte bestochen sein. Sie retten Kinder, die wie Sklaven gehalten werden. Diese Kinder knüpfen Teppiche, putzen Toiletten oder schuften in Großküchen. Sie wurden verkauft, entführt, oder sie sind "freiwillig" da, weil sie schon als Vierjährige gelernt haben: Du bist auf die Welt gekommen, um deine Familie zu ernähren.

Kailash SatyarthiKathrin Harms

Kailash Satyarthi

Kailash Satyarthi, geb. 1954, lebt als Kinderrechtsaktivist in Indien. Er gründete die Organisation "Global March Against Child Labour" und ist seit 1982 Partner von Brot für die Welt. 2014 erhielt er den Friedensnobelpreis.

Bachpan Bachao Andolan (Bewegung zur Rettung der Kindheit), die Hilfsorganisation von Kailash Satyarthi, hat sie befreit. Wenn der Gentleman den Besuchern die Schicksale dieser Kinder schildert, dann merkt man, wie die Empörung in ihm hochsteigt: "Kinder­arbeit ist in Indien verboten – doch immer noch schuften Hunderttausende von Kindern täglich bis zum Umfallen. Darüber soll ich nicht wütend sein?"

"Die Verweigerung der Kindheit ist ein Fluch"

Heute ist er nicht wütend, sondern lacht und spielt mit den Kindern. Das von seiner Organisation geführte Kinderdorf Mukti ­Ashram am Rande der indischen Hauptstadt Delhi bietet traumatisierten Kindern vorübergehend eine neue Heimat, bis man ihre Eltern gefunden hat oder einen anderen sicheren Aufenthaltsort. Wenn Kailash Satyarthi in Delhi ist, wohnt er mit seiner Frau oft in einem kleinen Haus auf dem Gelände.

Kailash Satyarthi, seine Hilfs­organisation befreit Kinder,  die wie Sklaven gehalten werden

Tim Wegner

Dorothea Heintze

chrismon-Redakteurin Dorothea Heintze war schon mehrmals in Indien. Jedesmal kam sie 
positiv eingestimmt zurück. Trotz der bitteren Armut im Land traf sie dort auf Lebensfreude, die sie im saturierten Deutschland oft vermisst.
Privat

Kathrin Harms

Die Fotografin ­Kathrin Harms kennt Indien ­ebenfalls. Auf ­dieser Reise hat sie besonders ­Colin Gonsalves beeindruckt – mit seiner herzlichen Art nahm er sich viel Zeit für die Gäste aus Deutschland. 
So, wie er sich Zeit nimmt für seine Klienten, oft bis spät in die Nacht.

Schon als Junge war Kailash empört, wenn er seinen Vater fragte: "Wieso gehe ich zur Schule und der Junge, der da gerade Steine schleppt, nicht?" Das sei eben so in einer grundsätzlich ungerechten Welt, beruhigten ihn Eltern und Lehrer. Unbefriedigend! Mit elf Jahren sammelte Kailash Geld für Kinder, deren Eltern sich die Schulbücher nicht leisten konnten: "Von dem Moment an, als ich dem Schuldirektor einen ganzen Karren voller gespendeter Bücher auf den Schulhof schob, wuchs ein neues Selbstbewusstsein in mir. Ich hatte gemerkt, dass ich andere Menschen anstecken kann mit meinen Ideen."

Er gründete eine Zeitung, schrieb über das elende Leben von Rikschafahrern und Bettlern – damals ein Tabubruch in einer Gesellschaft, die sich über Karma und Kastenwesen definiert. Das Leben ist vorherbestimmt? 
Kailash Satyarthi sieht das anders. Immer mal ­wieder putzt er im Mukti Ashram demons­trativ die Toiletten: "Das stellt die Welt der ­Kinder auf den Kopf." Mit 26 Jahren gründete er die Kinderhilfsorganisation, die mittlerweile 
mit über 470 Partnerorganisationen weltweit kooperiert. Seit 1982 ist er Partner von Brot für die Welt. Gemeinsam mit anderen Organi­sationen entwickelte man ein Teppichsiegel. Wer heute einen Teppich kauft, hat es dank dieses Siegels schwarz auf weiß: Dieser Teppich ist ohne Kinderarbeit entstanden.

Endlich frei sein: Im Mukti Ashram  von Kailash  Satyarthi gehen die Kinder zur Schule, sie spielen, singen, tanzen – und kommen so über das Erlebte hinweg

Die nächste Idee hieß "Global March Against Child Labour": Tagelang saßen er und seine Mitstreiter in einer extra angemieteten Wohnung, schrieben an 22 000 Unterstützer in der ganzen Welt, um sie für den Marsch gegen Kinderarbeit zu aktiveren. Es war eine "Wahnsinnszeit", sagt er: "Allein Briefkästen zu finden, die noch Platz für unsere Briefe hatten..." 1998 führte der erste Marsch durch 103 Länder. Im Oktober 2014 wurde Kailash Satyarthi zusammen mit der pakistanischen Kinderrechtlerin Malala Yousafzai der Friedensnobelpreis zuerkannt.

Was hat sich durch den Nobelpreis ge­ändert? Alles und nichts, sagt er: "Ich bin der gleiche Mensch wie vorher, doch die Menschen hören mir jetzt zu." Dafür ist er viel unterwegs. Mit der Kampagne "100 Million for 100 Million" spricht er jetzt gezielt junge Menschen an: "Privilegierte Jugendliche aus reichen Ländern setzen sich ein für ihre armen Altersgenossen." Junge Menschen wissen, dass sie die Welt verändern können, "und in diesem Glauben müssen wir sie bestärken". Sonst verliere man die Jugend in allen Ländern – die einen an die Armut, die anderen an den Konsum: "Verantwortung entsteht durch Mitgefühl."

Vandana Shiva

Was ist Gerechtigkeit? Vandana Shiva hat eine konkrete Antwort auf die Frage: Die Gerechtigkeit ist ein gutes Stück vorangekommen, wenn sich die Karotten­samen auf diesem Feld vermehren. Ohne Patent und zum Wohle der Bauern, die sie gesät haben. Nebenan sprießt Fenchel, und eine Raupe kriecht den langen Stängel hoch – die Naturschützerin freut sich darüber und erklärt, wie alles zusammenhängt. Dass der Fenchel Raupen anziehe, die wiederum die Blattläuse fräßen, die sich sonst über die Karottenpflanzen hermachen würden: "Sehen Sie, Pflanzenschutz geht auch ohne Chemie."

Vandana ShivaKathrin Harms

Vandana Shiva

Vandana Shiva, geb. 1952 in Indien, ist Wissenschaftlerin und Umweltaktivistin. Mit der von ihr gegründeten Organisation Navdanya kämpft sie seit Jahrzehnten um den Erhalt alter Saatgutsorten. Seit 1987 ist sie Partnerin von Brot für die Welt. 1993 erhielt sie den "Right Livelihood Award".

So wie sie da im Feld steht – mit ihrem Sari in leuchtendem Pink und Orange, dem weinroten Bindi auf der Stirn, könnte man sie auch für eine romantisch veranlagte ältere Dame halten, die sich für die Natur begeistert. Weit gefehlt. Dr. Vandana Shiva ist Physikerin, mit Herz, Kopf und Lebenserfahrung. Schon als Mädchen las sie Albert Einstein und wusste: "So eine Person möchte ich sein, Wissenschaftlerin mit einem sozialen und ökologischen ­Gewissen."

Vandana Shiva. Die Wissenschaftlerin bewahrt und vertreibt alte Getreidesorten  – und kämpft gegen C

In ihrem Engagement für den Umweltschutz nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Das Geschäftsmodell der Saatgutproduzenten nennt sie "infam", den kürzlich erfolgten ­Zusammenschluss von Bayer und Monsanto vergleicht sie mit einem "Giftkartell": "Es kann nicht sein, dass alle Macht darüber, was zuge­lassen und angebaut wird, bei einigen ­wenigen Weltkonzernen vereint ist."

Die Rettung von Saatgut wurde ihr Lebensthema: "Als junge Mutter nahm ich mein Kind, ging von Dorf zu Dorf und sammelte altes Saatgut." Doch bald spürte sie, die Aufgabe war zu groß für sie allein. Sie gründete ihre eigene Organisation, Navdanya. Seit 1987 ist Vandana Shiva Partnerin von Brot für die Welt. 1993 erhielt sie den "Alternativen Nobel­preis", den "Right Livelihood Award".

"Pflanzen sind Lebewesen – und nicht patentierbar"

Die Region rund um ihre Versuchsfarm in Dehradun an den Ausläufern des Himalaya ist ihre Heimat. Hier ist sie aufgewachsen als Kind eines Forstbeamten und einer ehemaligen Schulinspektorin, die nach ihrer Flucht aus Pakistan Bäuerin wurde. 18 Hektar groß ist die Versuchsfarm, Tausende von Samen ­aller Art lagern geschützt hinter dicken Lehm­mauern. Hier kann Vandana Shiva beweisen, dass ihre Theorien vom Schutz der Natur durch die Natur funktionieren: "Wir betreiben seit Jahrzehnten ökologische Landwirtschaft – mit dem Effekt, dass unser Grundwasserspiegel viel höher liegt als auf den herkömmlich betriebenen Flächen."

Als Ende 2004 der Tsunami wütete, sandte man von Dehradun aus salzresistente Reissamen in von Meerwasser überschwemmte Regionen. Die alten Sorten, so Vandana ­Shiva, "wuchsen nicht nur an, sie sorgten auch ­dafür, dass die kaputten Böden sich schnell erholten".

Wer der Kraft der Natur vertraut, kann die Welt verändern, davon ist Vandana Shiva überzeugt. 127 Saatgutbanken nach dem ­Vorbild von Navdanya gibt es heute in ganz Indien. Immer mehr Bauern schließen sich den örtlichen Initiativen an, die demokratische Widerstandskraft im Land ist groß. Vandana Shiva erinnert an den Salzmarsch von Mahatma Gandhi. Dessen Geist, so weiß sie, lebt noch heute in vielen indischen Bürger­bewegungen fort. Als junge Frau war sie ­Anhängerin der Chipko-Bewegung: Aus Protest gegen die drohende Abholzung hielten sich Bäuerinnen an großen alten ­Bäumen fest. Bilder dieser symbolischen Umarmungen gingen um die Welt: "Diese Frauen", so er­innert sich Vandana Shiva, ­"haben mir gezeigt, dass auch der schwächste Mensch sich widersetzen kann."

Widerstand 2.0: Auf der Musterfarm von Vandana Shiva lernen Bäuerin­nen nicht nur, wie sie Web­kampagnen  anstoßen, sondern auch, wie sie sich besser ernähren können

Am Morgen spricht sie mit Bäuerinnen aus der Region über Linsen. Die Frauen kennen nur eine Sorte aus Kanada, längst haben die ausländischen Saatguthersteller die lokalen Märkte erobert. Dabei enthält die kanadische Linse nur sieben Prozent Protein, die in Dehra­dun angebaute indische Sorte dagegen 34 Prozent: "Nahrungsmittel verschwinden von unseren Feldern und damit von den ­Tellern der Armen." Die alten Saaten, so ­Vandana Shiva, bergen Kräfte, mit denen nicht nur die Inder, sondern alle Menschen auf der Welt ernährt werden könnten.

Colin Gonsalves

Colin Gonsalves verklagte die indische Regierung, weil die ihre ­Bevölkerung hungern ließ. Das war im Jahr 2000. Hundert­tausende Inder starben damals, während in den staatlichen Getreidesilos die Vorräte verrotteten – wegen Misswirtschaft und Korruption. Der Menschenrechtsanwalt zog vor das höchste Gericht und gewann. Dank ihm gibt es heute für Millionen indischer ­Kinder eine kostenlose Schul­speisung, schwangere Frauen bekommen Ergänzungsnahrung, arme Bauern er­halten subven­tioniertes Saatgut. Der "Right to Food Case" machte den Anwalt Colin Gonsalves in Indien berühmt.

Colin Gonsalves Kathrin Harms

Colin Gonsalves

Colin Gonsalves, geb. 1952, lebt als Anwalt und Menschenrechtsaktivist in Neu-Delhi. Er ist Gründer des "Human Rights Law Network" und seit 2000 Partner von Brot für die Welt. 2017 erhielt er den "Right Livelihood Award".
Auch an diesem Sonntag stehen vor ­seinem Büro in Delhi Menschen. Darunter eine Frau, die von ihrem Mann mit Säure verätzt ­wurde: Er wollte sie loswerden, um seine jüngere ­Geliebte heiraten zu können. Fälle wie dieser gehören zum Alltag, kein Mensch werde abgewiesen, sagt Colin Gonsalves. Erst gestern Abend ist er aus Brüssel und Berlin zurück­gekommen. Seit er 2017 den "Alternativen Nobelpreis" bekommen hat, ist er auch im Ausland ein gefragter Gesprächspartner. 

Colin Gonsalves hat ein Menschenrechtsnetzwerk gegründet – damit die Schwachen ihr Recht bekommen Patente

Es ist heiß, drinnen im Großraumbüro ­summen die Ventilatoren. An die 40 junge Juris­ten, Männer wie Frauen, beugen sich über die Akten. Colin Gonsalves eilt von Tisch zu Tisch, bespricht hier einen Fall, guckt dort in die Akten: "Wir briefen ihn für die an­stehenden Fälle, gleichzeitig trainiert er uns, indem er uns seine Taktik erklärt", berichtet Swati, 25. Direkt nach der Uni machte sie hier im Büro ein Praktikum und blieb. Was sie am meisten an Colin Gonsalves beeindruckt? "Niederlagen stoppen ihn nicht."  

Am Tag darauf sitzen alle im Auto und ­fah­ren zum Supreme Court. Montags ist Gerichtstag in Indien. Das junge Kollegium, in der Mehrheit Frauen, ist nervös. Gonsalves lacht und scherzt mit ihnen: "Ich möchte jungen ­Menschen eine Perspektive zum Kämpfen geben", erläutert er später. "Zu uns kommen Menschen, die etwas verändern wollen. Wir sind eine Organisation der unruhigen ­Geister."

Als junger Mann studierte er Ingenieurswissenschaften. Es war die Zeit der großen ­politischen Unruhen unter Indira Gandhi. Wie Kailash Satyarthi und Vandana Shiva ­politisierte sich Colin Gonsalves in diesen ­Jahren. Er studierte neben der Arbeit Jura, wechselte zur Gewerkschaft. Die Erfahrungen, die er dort machte, bestimmen sein ganzes Leben: "Ich verließ die eigene Perspektive und sah die Welt mit den Augen der Armen."

Eine  Organisation der unruhigen Geister – so nennt Colin Gonsalves stolz sein "Human Rights Law Network"

Seit 2000 ist er Partner von Brot für die Welt: "Dort hat man mir geholfen, meinen Blick zu erweitern, auf die ganze Welt. Es geht nicht nur um Nahrung, es geht um Er­nährungssouveränität." Das Recht auf ­Wasser, das Recht auf Land, das Recht auf Wald. "Human Rights Law Network" hat Colin ­Gonsalves seine Hilfsorganisation genannt, mittlerweile hat sie in Indien 24 Büros mit über 250 Mitarbeitern.

"Ich verließ die eigene Perspektive und sah die Welt mit den Augen der Armen"

"Public Interest Litigation" ist seine stärkste Waffe, Prozessführung im öffentlichen Interesse. Gemeint ist die Möglichkeit, dass eine Person im Namen einer anderen oder der Allgemeinheit vor Gericht gehen kann. So wie Gon­salves im "Right to Food Case": Obwohl er selbst nicht hungerte, konnte er die Regierung verklagen, im Namen all der Menschen, die selbst zu schwach waren, um vor Gericht zu ziehen. Der Westen mit seiner starken Be­tonung des Individuums kenne bisher nur Individualklagen, bedauert Gonsalves. Aller­dings: Vor kurzem entschied auch die EU, derartige Mus­terklagen im Verbraucherschutz zu erproben. 

Seit 2014 regiert in Indien die hindu­nationalistische Partei von Premierminister Narendra Modi. Seither werden Minderheiten, vor allem die muslimische, stärker verfolgt; regierungskritische Stimmen haben es schwer. Doch noch, so betont Colin Gon­salves immer wieder, sei Indien ein funktionierender Rechtsstaat, noch gibt es Gerichte und Tausende von guten Anwälten. Also macht er weiter, kämpft für Gerechtigkeit in Indien, in der Welt: "Die Wut habe ich bei den Gewerkschaften gelernt, und sie hat mich nie ver­lassen." Das sei gut so, denn: "Ohne Emotionen gibt es kein soziales Engagement."

 

 

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Zu Ihrem sehr informativen Artikel "Lob der Unruhe" in Chrismon spezial möchte ich bemerken, dass ich es doch befremdlich finde, wenn Sie die Verfolgung "vor allem" muslimischer Minderheiten in Indien erwähnen, und dabei mit keiner Silbe auf die grausamen Gewalttaten eingehen, denen christliche Familien ausgesetzt sind. Ich kann nicht verstehen, weshalb häufig in kirchlichen Medien die Verfolgung von Christen verharmlost oder unter den Teppich gekehrt wird. Mit Verschweigen der Situation dürfte ihnen kaum geholfen sein, und als christliche Geschwister sind wir es ihnen schuldig, auch ihr Leiden an die Öffentlichkeit zu bringen.