Kaleb Erdmann vor der ehemaligen Ausweichschule
Kaleb Erdmann vor der ehemaligen Ausweichschule
Felix Adler
Neues Buch von Kaleb Erdmann
Gewalt ist nicht dazu da, etwas daraus zu lernen
Kaleb Erdmann hat den Amoklauf 2002 in Erfurt überlebt. In seinem autofiktionalen Roman "Die Ausweichschule" schreibt ein Schriftsteller von dem Versuch, über das Massaker zu berichten
Lena Uphoff
03.11.2025
5Min

chrismon: Dem Schriftsteller in Ihrem Roman ist es sehr wichtig, dass er sich korrekt an die Geschehnisse rund um den Amoklauf erinnert. Er war erst elf, als es passierte. Um seiner Erinnerung aufzuhelfen, liest er den Polizeibericht. Warum ist es so wichtig, sich korrekt zu erinnern?

Kaleb Erdmann: Mir war früh klar, dass ich alles, was das Attentat selbst betrifft, nicht fiktionalisieren möchte, aus Respekt den Angehörigen und Opfern gegenüber. Deshalb wollte ich die Umstände des Amoklaufes so genau wie möglich beschreiben. Die Fiktionalisierung passiert eher da, wo es um den nachträglichen Prozess des Schreibens geht.

Jakob Kielgass

Kaleb Erdmann

Kaleb Erdmann (geboren 1991) ist Spoken Word Poet, Dramatiker und Autor. Sein erstes Buch, "wir sind pioniere", gewann den lit.COLOGNE-Debütpreis. Mit seinem zweiten Buch, "Die Ausweichschule", stand er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025.

Ist es möglich, sich korrekt zu erinnern?

Anzunehmen, dass man sich korrekt erinnern kann, ist ein Trugschluss. Das zu vermitteln, ist mir ganz wichtig. Man kann versuchen, sich zu erinnern, aber die Antworten sind immer multiperspektivisch, unklar und vieldeutig. Mein Buch ist ja ein literarisches Werk und kein Sachbuch, das den Anspruch erhebt, letzte Antworten zu geben.

Nach dem Massaker lag ein Kondolenzbuch aus, Reden wurden gehalten und Kränze niedergelegt. Waren diese Rituale für Sie als Fünftklässler hilfreich?

Diese Erwachsenenrituale sind nach dem Amoklauf fast automatisch abgelaufen. Für Kinder sind viele dieser Rituale unverständlich und befremden sie. Kinder haben beim Trauern auch andere Fragen als Erwachsene. Das ist ein Beispiel dafür, dass es kein eindeutiges Erinnern gibt, weil es einen großen Unterschied macht, ob man etwas mit einem kindlichen oder erwachsenen Blick betrachtet.

Welche Trauerrituale wären für Kinder geeigneter?

Dazu kann ich nicht viel sagen, ich bin kein Kinderpsychologe. Aber es hat geholfen, dass auch wir Kinder Therapien machen konnten. Es war bemerkenswert, wie schnell diese Therapiestruktur aufgebaut wurde.

Lesetipp: Wie junge Menschen Trauer erleben

Ihr Protagonist beobachtet, dass Täter oft mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Opfer. Wie ist es Ihrer Familie damals gegangen? Fühlten Sie sich nicht gesehen? Oder vielleicht doch auch bedrängt von Journalisten?

Gerade in den Nullerjahren gab es eine große Zügellosigkeit in der Berichterstattung, Journalisten wollten alles in der Biografie des Täters herausfinden. Damals sind die Opfer an vielen Stellen hinten runtergefallen. Heutzutage hat sich vieles geändert. Nach dem Anschlag von Hanau gab es eine große Bewegung, die Opfer und ihre Geschichten zurück ins Zentrum zu rücken. Bei dem Amoklauf von Graz 2025 fiel mir auf, dass Journalisten nicht mehr den Klarnamen des Täters nannten.

Schreibt Ihr Schriftstellerego das Buch auch, um ein Trauma loszuwerden?

Ich glaube, das Wort "Trauma" wird ein bisschen leichtfüßig verwendet für alle, die etwas Schlimmes erlebt haben. Ich persönlich – und das sagt die Figur im Buch auch – habe kein diagnostiziertes Trauma im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aber was es schon gibt, sind Erinnerungen, die bei jemandem, der direkt betroffen ist, schwerer wiegen.

Die Beschäftigung mit dem Amoklauf für den Protagonisten meines Buches und für mich hat etwas zu tun mit dem Versuch, die Geschehnisse zu ordnen. Nicht unbedingt, um etwas abzuschließen, sondern um für sich selbst noch ein paar Dinge herauszufinden. Mir ging es um die Frage: Was kann Literatur leisten in diesem Komplex von Gewalt, Amokverarbeitung und Therapie?

Der Schulkamerad Ihres Protagonisten, André, möchte nicht mehr an das Massaker zurückdenken. Muss alles aufgearbeitet und analysiert werden? Oder kann es auch eine Strategie sein, nicht mehr an das Geschehene zu denken, um gut weiterzuleben?

Absolut, das wollte ich mit der Figur des André ausdrücken. Diese intellektuelle Herangehensweise, dass man ein Problem aufspannt, es von allen Seiten anguckt und versucht zu durchdringen, ist nur eine Art von vielen, damit umzugehen. Wenn man über etwas nicht spricht, heißt das ja nicht, dass man etwas verdrängt. Man kann so auch einen Abschluss finden, ohne zu verdrängen.

In "Die Ausweichschule" beschreiben Sie, dass es körperlich entlastend sein kann, sich nicht mehr mit einem traumatischen Ereignis zu beschäftigen. Doch am Ende schießt ein Student in der philosophischen Fakultät in Prag um sich. Die Schwester des Erzählers hätte ein Opfer werden können, weil sie zu der Zeit in Prag studierte. Wieso endet das Buch mit einem erneuten Amoklauf?

Weil meine Schwester tatsächlich in Prag studierte, als der Amoklauf passierte. Da realisierte ich, wie schwierig es ist, einen letztgültigen Abschluss zu finden, weil die Voraussetzungen für Gewalt immer noch da sind. Wenn man diese vielfältigen Voraussetzungen nicht angeht, setzt sich die Gewalt fort. Deswegen war es mir wichtig, das an das Ende der Geschichte zu stellen. Auch an ein Ende, an dem der Erzähler vermeintlich mit dem Amoklauf abgeschlossen hatte.

Lesen Sie hier: Kann man ein Massaker künstlerisch gut aufarbeiten?

Was meinen Sie mit "Voraussetzungen für Gewalt"?

Jede Gewalttat besitzt ihre individuelle Motivation und damit ihre eigenen Voraussetzungen -- entsprechend kann es unterschiedliche Strategien geben, die Gewalt an der Wurzel zu packen. Im Fall von Erfurt hieß es zum Beispiel, das Thüringer Schulsystem zu verändern, so dass in Zukunft keine perspektivlosen Situationen mehr entstehen können, wie sich damals der Amokläufer in einer wiedergefunden hat. Oder das Waffenrecht anzupassen, so dass Tötungswerkzeuge nicht mehr in die Hände instabiler Täter gelangen können.

Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule. Ullstein. 298 Seiten, 22 Euro

Kann man den Opfern überhaupt "gerecht" werden, wenn man über sie schreibt?

"Gerecht werden" ist eigentlich eine juristische Kategorie. Als ob man irgendwann sagen könnte: "Jetzt ist rechtgesprochen." Literatur muss keine abschließenden Antworten geben, sie kann verschiedene Perspektiven in aller Unklarheit und Unschärfe nebeneinanderstellen. Sonst wäre es ein Gesetzbuch oder ein Sachbuch.

Darf man den Täter auch in seiner Menschlichkeit beschreiben? Oder Mutmaßungen über das Motiv anstellen? Wo ist die Grenze? Leser haben ja das Bedürfnis, so eine Tat zu verstehen und einzuordnen.

Die Frage ist: Welchen Zweck erfüllt es? Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich den Ablauf des Amoklaufs überhaupt noch einmal nacherzählen soll. Mein Thema ist ein anderes, darum endet meine Erzählung mit dem Zeitpunkt, als der Attentäter die Schule betritt. Für alles Weitere zitiere ich aus dem Polizeibericht.

Ihrem Protagonisten ist es ein großes Anliegen, keine Lehre aus dem Amoklauf abzuleiten. Warum?

Natürlich muss man über die Ursachen von Gewalt sprechen und sich die Frage stellen: Was sind die Hintergründe und wie können wir zu deren Veränderung beitragen? Misstrauisch werde ich aber, wenn ein Kunstwerk aus einer Gewalttat ein konsumierbares Gut macht, aus dem man eine Lehre ableiten soll. Dann tritt das ganz konkrete Ereignis in den Hintergrund. Gewalt wird trivialisiert. Stattdessen wollte ich eine, wenn auch schmerzhafte Offenheit ins Zentrum stellen.

War es schwer, einen Roman zu schreiben ohne Lehre? Einen Roman über die Sinnlosigkeit?

"Sinnlosigkeit" würde ich vielleicht nicht sagen, sondern Unabgeschlossenheit. Es war eine spannende Aufgabe für mich, in der Unabgeschlossenheit zu verharren, ohne beliebig zu werden. Ohne irgendwann zu sagen: "Man kann es eben nicht wissen." Man hat ja immer das starke Verlangen, zu verstehen. Gewalt versimpliziert die Welt und bricht sie herunter. Ich wollte mich von dieser simplen Brutalität der 71 Schüsse entfernen. Ich fand, es war eine lohnende Aufgabe.

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