Schon als Kind und spätestens seitdem ich lesen konnte, wollte ich schreiben. Von Anfang an war das Schreiben für mich weit mehr als das Aneinanderreihen von Buchstaben oder die faktische Mitteilung meiner eigenen inneren und äußeren Wahrnehmung.
Maike Wetzel
Selbst bei meinem ersten Buch, das ich mit Bleistift in ein Grundschulheft kritzelte und das stark an das Märchen vom Sterntaler erinnerte, fühlte ich, dass da etwas Größeres im Gange war. Und zwar etwas, das über mich hinauswies, das höchstens teilweise mit meinem Geist, Körper oder meiner Umgebung zusammenhing.
Während ich diesen ersten Schreibversuch mit bunten Filzstiften mit eigenen Illustrationen versah, sah ich, dass ich das Märchen nicht einfach nacherzählt hatte, sondern dass es sich verwandelt hatte. Manchmal war ich dem Klang eines Wortes gefolgt, der zum nächsten führte, manchmal einer Erinnerung, einem Duft oder einem Geräusch, manchmal aber wusste ich selbst nicht, woher die Worte kamen. Erstaunt blickte ich auf das, was sich auf dem Papier geformt hatte.
Das linierte Schulheft, in dem ich meine Erzählung festgehalten hatte, war lange in der Rüsselsheimer Stadtbücherei auszuleihen. Als Siebenjährige hatte ich damit an dem Wettbewerb "Kinder schreiben ein Buch" teilgenommen und einen Preis gewonnen. Diesen holte aber niemand ab, denn mein Großvater Jean wurde zum Zeitpunkt der Siegerehrung beerdigt. Ich hörte die Kirchenglocken für ihn läuten, während ich mit meinem Freund Sebastian mit dem Fahrrad Runden auf seinem Hinterhof drehte. Meine Eltern hatten mich nicht mit zum Friedhof genommen.
"Maike Wetzel entpuppt sich als Märchenerzählerin", stand damals in der Lokalzeitung. Vielleicht gilt das bis heute, obwohl mein Schreiben auf den ersten Blick sehr in der faktischen Gegenwart und im Alltag verhaftet zu sein scheint. Es gibt keine magischen Wesen darin oder überirdische Kräfte. Doch selbst in meinem letzten Roman, der tatsächlich mehr als alles, was ich je geschrieben habe, im eigenen Erleben begründet ist, gibt es märchenhafte Motive. Eine spiegelnde Seeoberfläche, die dem gläsernen Schneewittchensarg gleicht, die formelhafte Wiederholung der Farben Schwarz, Weiß, Rot. So weiß wie Schnee . . .
Der traurige Anlass für "Schwebende Brücken"
Märchen ähneln insofern den Texten in der Bibel, dass sie Sinnbilder sind. Weder der biblische Wal, der Jona verschluckt, noch der böse Wolf, in dessen Bauch Rotkäppchen landet, sind real. In "Schwebende Brücken" erzähle ich ein grauenvolles und dennoch Trost spendendes Märchen. Das Grauen kommt daher, dass der Anlass für dieses Buch das tatsächliche Ertrinken meines Mannes war. Mit unseren beiden Kindern stand ich am Ufer, als er in einem scheinbar harmlosen Badesee ertrank.
Es gibt also viel in diesem Buch, das so oder eben anders in der sogenannten Realität geschah. Dennoch steht "Roman" auf dem Buchcover, denn ganz besonders beim Schreiben dieses letzten Buchs erinnere ich mich an die zwar seltenen, aber umso köstlicheren Momente, wenn etwas anderes als pure synaptische Schaltungen beim Schreiben die Führung übernahm. Ich bin geneigt, dieses geheimnisvolle andere etwas unspezifisch als Energie oder Kraft zu beschreiben. Diese Momente jedenfalls, in denen nicht ich schreibe, sondern diese andere Kraft, diese Momente sind mir heilig.
An den Worten, die dann aus mir herausfließen, ändere ich später meist wenig. Das Schreiben ist mir heilig – unabhängig von Preisen oder Honoraren. Diese Erhabenheit besitzt es schon beinahe mein ganzes Leben lang und sie wird hoffentlich bis zu meinem Tod bestehen. Weil mir das Schreiben so viel bedeutet, mag ich auch den Prolog im Evangelium nach Johannes so gern: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott."