Schulddebatte
Ich bin's nicht gewesen!
"Sorry" ist schnell gesagt – und Schuldzuweisungen an "die anderen"sind leicht - wie man auch in der Politik beobachten kann. Doch echte Verantwortung beginnt beim eigenen Ich. Ein Kommentar
Mann vor farbigem Hintergrund zieht die Schultern hoch und schließt die Augen
Ian Ross Pettigrew
22.09.2025
4Min

"Sorry" gehört gegenwärtig zu den Worten mit größtem Gebrauch und geringster Bedeutung. "Sorry" ist der Mundöffner für alle möglichen Unverschämtheiten, Anzüglichkeiten und Dummheiten, die auf der Zunge prickeln und herauswollen. Dabei schwingen im winzigen und weichen "sorry" sämtliche Nuancen von Schuldbewusstsein und Schmerz. "Sorry" ist der kleine Bruder vom zackigen "Tschuldigung". Im ihm ist gänzlich verloren gegangen, was der Bitte um Entschuldigung vorausgehen muss. Die protestantische Theologie nennt es die "contritio cordis", wörtlich: die Zerknirschung des Herzens. Wo "Tschuldigung" herausgebellt wird, knirscht innen gar nichts mehr.

Das Pendant zur großzügigen Selbstentschuldigung ist das unbefangene Austeilen von Beschuldigungen. Ob "die Linken selber schuld" seien, fragte jüngst die Wochenzeitung die "ZEIT" mit großem Aufmacher. Schuld woran? Aufgezählt werden Trump, AfD und Klimakatastrophe – also irgendwie das ganze Elend der Welt. "Sorry, aber geht’s noch", würde jeder brave Sozialdemokrat vermutlich sagen.

Diese Schuldanwürfe zielten auf "die Linken". Aber es kann jede politische Farbe treffen. Keine gesellschaftliche Gruppe kann sich sicher fühlen, unschuldig davonzukommen. Die Linken, die Konservativen, die Grünen, die Liberalen, die Bauern, die Boomer, die Alten, die Eigenheimbesitzer, die Pazifisten, die Reichen, die Transferempfänger, nicht zu vergessen die Geflüchteten und deren Unterstützer. Und wer es bevorzugt, nicht so persönlich zu werden: das Finanzkapital, die Religion, der Sozialismus, die Industrie, die Medien, die Migration, die Eliten. "Merkel ist schuld an der Flüchtlingskrise." "Die Landwirte sind schuld am Wassermangel." Solche jeweiligen Schuldvorwürfe sind in keiner Weise justiziabel. In seltensten Fällen geht es um Schuld, die ein Gericht beschäftigen müsste. Die Schuldsucherei hat bisweilen Züge religiösen Eifers.

Das Schuldbekenntnis hat seinen Raum im Gottesdienst. In ihm wird ausgesprochen, was der Heidelberger Katechismus "das Elend des Menschen" nennt. "Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken", hebt es in Luthers Katechismus an. Und im katholischen Ritus rufen die Gläubigen im Confiteor: "Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld" und schlagen sich zum dreifachen "mea culpa" an die Brust. Klingt aus der Zeit gefallen, sagt aber Wahres. Schuld wiegt schwer und Entschuldigung ist nicht leicht. Sie setzt die Einsicht voraus: Ich habe falsch gehandelt, und das tut mir im wahrsten Sinn des Wortes Leid.

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Manche politischen Debatten wirken wie lustvolle Neuinszenierungen der Schulderkundung, nur eben als umgedrehtes Confiteor. Die Faust, die das eigene Gewissen aufwecken soll, reckt sich zum Zeigefinger, der das Übel dem Gegner reindrücken will: Deine Schuld! Tua culpa, tua culpa, tua maxima culpa! Im Sündenkatalog stehen nicht Stolz, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit. Da stehen, je nachdem, was das eigene politische Credo verlangt, Fleisch essen, Lastenfahrrad fahren, Impfpflicht, Gendersternchen oder Dieselautokauf. Immer dieselben stereotypen Listen. Die säkulare Inbrunst steht der religiösen wenig nach, als ginge es um die letzten Dinge, um Heil oder Unheil, Gut oder Böse, Rechtfertigung oder Verdammnis, Seligkeit oder Verlorenheit.

Im gottesdienstlichen Schuldbekenntnis bekennt der betende Mensch das eigene Versagen und nur dies. Er sagt "ich!", nicht "die da!". Er tut dies ohne Erklärungen, ohne sachliche Distanz, ohne Wenn und Aber, allein im Vertrauen auf Gottes Zusage, dass ihm vergeben wird. Er tut dies in der Gemeinde in dem Wissen, dass kein Mensch ohne Schuld ist.

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Darum Achtung, wenn von "denen" die Rede ist, "den Linken", den, wie auch immer, anderen. Wenn gesichtslose Gruppen unter Anklage gestellt werden, wird es halbseiden, egal wie vollmundig der Ton ist. Entweder werden sie als Vogelscheuche ihrer selbst präsentiert, oder man sucht sich ein besonders kritikwürdiges Gesicht fürs Schuld-bashing heraus. Schuld sind "die Strukturen" oder alle möglichen "-ismen". Über die eigene Verantwortung, die eigenen Versäumnisse und die eigenen Möglichkeiten oder Schwierigkeiten, die Probleme zu lösen, wird im Furor der Beschuldigung nicht geredet. Und das entlastet ungemein.

Der 2020 veröffentlichte Grundlagentext der EKD über Sünde, Schuld und Vergebung beschreibt, warum es so verführerisch ist, Sachdebatten in Schulddebatten zu verwandeln: "Personschuld wird Milieuschuld. Es hat den Anschein, als sei der Mensch in ein Drama voller Schuld, das keine Schuldigen kennt, verstrickt. (...) Das Aufweisen von Schuld wird in dem Maße maßlos, wie es sich mit der Verleugnung eigener Schuld vermischt. Man ist dann nicht mehr in der Lage, die eigene, ganz persönliche Mitverantwortung zu erkennen und macht die wirklichen Opfer unsichtbar. Am Ende stehen die Menschen vor einer riesigen Schuldenlast, aber es gibt niemanden mehr, der für sie verantwortlich zeichnet." Und hier schließt sich der Kreis. Was bleibt da zu sagen als "Sorry, was kann ich denn dafür."

Die Inflation von Schuldvorwürfen und die Banalisierung von Schuld sind zwei Seiten einer Münze. Viele der gegenwärtigen Schulddebatten produzieren keine Lösungen, sie verhindern sie. Dafür produzieren sie jede Menge Selbstgerechtigkeit und Gnadenlosigkeit und Frust. Anders als im Gottesdienst kommt nach dem Schuldbekenntnis nämlich nicht der Freispruch, sondern die Häme.

Nichts dagegen, in den aktuellen Krisen, nach Gründen, Fehlern und Ursachen zu forschen, überhaupt nicht. Im Gegenteil. Das wäre praktizierte Verantwortung und echt mühsam. Daran aber sind die Schuldsucher wenig interessiert. Sie wissen schon, wer’s war. Sie selbst jedenfalls nicht. Was nötig ist, ist nicht Verdammnis, sondern Differenzierung, nicht Vereinfachung, sondern Komplexität.

Was man vom christlichen Schuldbekennen lernen kann: mit "ich" anfangen – da findet sich genug.

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