Defne* und ihre Tochter Meliha*
Isabela Pacini
Alleinerziehende Mutter
"Ich bin grunderschöpft"
Sie kümmert sich allein um ihre kleine Tochter. Das Geld ist immer knapp, die Sorgen groß. Wie Defne Can das Leben meistert
09.09.2025
11Min

Wenn sie mit ihrer Tochter an einer Eisdiele vorbeikommt, wird sie nervös. Dann sagt sie: "Eis ist alle" oder "Die machen gleich zu". Noch ist die zweijährige Meliha* in dem Alter, dass sie der Mutter glaubt und sich ablenken lässt. Defne Can* biegt dann schnell zum nächsten Spielplatz ab und verspricht der Tochter zu Hause ein Eis, aus dem Achterpack vom Discounter. Meliha weiß noch nicht, dass die Kugel in der Eisdiele zwei Euro oder mehr kostet, für zwei Kugeln sind das schnell mal fünf Euro. Meliha weiß auch nicht, dass ihre Mutter arm ist. Dass sie im Monat 1369,50 Euro Bürgergeld für sich und die Tochter bekommt, davon gehen rund 770 Euro für die Miete ab. Zum Leben bleiben den beiden gerade mal 600 Euro. Im ersten Jahr ihrer dreijährigen Elternzeit hatte Defne Can noch Elterngeld bekommen, das waren einige hundert Euro mehr.

Eine kleine helle Dreizimmerwohnung in einer ruhigen Wohnstraße, zentral in Hamburg gelegen, um die Ecke ein Park und ein paar türkische Gemüseläden. "Ich würde gern dort einkaufen, aber es kostet viel mehr als im Supermarkt", sagt Defne, "vielleicht später mal, wenn ich wieder Geld verdiene. Oder auch gar nicht mehr." Ab Frühjahr 2026 will sie in Teilzeit arbeiten, im Drogeriemarkt als Verkäuferin, wo sie bereits gearbeitet hat und die Familienfreundlichkeit des Arbeitgebers schätzt.

Die 38-Jährige hat ein offenes Gesicht, spricht schnell, gestikuliert viel. In Jogginghose und weitem Pullover sitzt sie im Schneidersitz auf dem Fußboden, das mache ihr nichts aus, meint sie, der Besuch darf auf dem Sofa sitzen, sonst gibt es keine Sitzgelegenheit im Wohnzimmer. Auch ein Kissen für den Rücken hat sie bereitgelegt, sie ist jemand, der auf andere Menschen achtet.

Sie hätte sich so sehr eine "richtige" Familie gewünscht

Um uns herum liegen bunt durcheinander Kinderklamotten, Stofftiere, Spielzeugautos, in der Ecke steht eine Kinderküche mit kleinen Töpfen und Tellern. Die Küche hat Defne auf eBay gefunden, unter der Rubrik "zu verschenken". Sie sei noch nicht zum Aufräumen gekommen, meint sie. Am Vormittag ist Meliha drei oder vier Stunden in der Kita, nicht viel Zeit für die Mutter für Behördengänge, Wäsche oder mal einen Arzttermin.

Defne Can ist alleinerziehend, seit ihre Tochter ein paar Wochen alt war. Wenige Monate lebte sie mit ihrem Freund zusammen, bevor sie schwanger wurde – Meliha ist das, was man einen Unfall nennt, sie war kein Wunschkind. Bald kam es zu häuslicher Gewalt, ihr Partner schlug sie, so erzählt sie es. Für Defne war das alles dramatisch, sie war wütend, tief enttäuscht von dem Mann, der für sie als Partner und Vater versagt hatte. Sie hätte sich so sehr eine "richtige" Familie gewünscht, wie sie sagt. Defne selbst ist Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Sie kennt das Gefühl, dass da eine Leerstelle ist, jemand fehlt, der einen tröstet, wenn man in der Schule gehänselt wird, oder der einem zärtlich über den Kopf streicht, wenn man nachts aufwacht und weint, weil es so dunkel im Kinderzimmer ist. Jemand, der einfach da ist und Sicherheit gibt.

Defne gehört zu den rund 1,6 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern, in denen die Mutter oder der Vater alleinerziehend ist – fast jede fünfte Familie in Deutschland. Sie sind deutlich stärker von Armut bedroht als andere Familien. Das trifft vor allem die Frauen, sie stellen unter den Alleinerziehenden die Mehrheit, beziehen dreimal häufiger Bürgergeld als die Männer. Wenn ihnen der Vater des Kindes keinen Unterhalt bezahlen kann, so wie in Defnes Fall, ist die Not besonders groß.

Als Meliha noch ein Baby war, ist Defne putzen gegangen, um sich etwas Geld dazuzuverdienen. Das Kind hatte sie im Tragesack vor der Brust hängen, irgendwie ging das, putzen und ein Baby durch die Gegend schleppen. Sie sei nicht zimperlich, meint Defne, laufe nicht so schnell davon, wenn es anstrengend wird. Später wurde ihr Meliha dann doch zu schwer und lag im Kinderwagen. "Sie hat ständig geheult, ich musste den Job aufgeben", sagt die Mutter. Heute würde sie gern wieder putzen gehen, wenn die Tochter in der Kita ist, oder sich eine andere Arbeit suchen. Aber sie sei zu erschöpft, grunderschöpft. Wovon? Ein bisschen Spielplatz, einkaufen und das Kind versorgen, wieso denn erschöpft – das bekomme sie gelegentlich von ihrem älteren Halbbruder zu hören, zu dem sie ein enges Verhältnis hat.

"Ich weiß, das hört sich dumm an, ich bin ja noch jung", sagt Defne und breitet entschuldigend die Arme aus. Meliha sei ein lebhaftes Kind, schlafe abends schlecht ein, sie brauche nicht so viel Schlaf wie andere Kinder, das zerrt an den Nerven der Mutter. Überhaupt sei sie oft nervös, fahre aus der Haut, "ich mag mich dann selbst nicht mehr". Wenn die Tochter ihr Spielzeugauto losfahren lässt, das so schön blinkt, und zwanzigmal hintereinander "Auto" ruft, reagiere sie ungeduldig, anstatt sich mit dem Kind zu freuen. Einmal hat sie sich in der U-Bahn mit einer fremden Frau gestritten, die keinen Platz machte für den Kinderwagen, Defne wurde laut, und Meliha fing an zu weinen.

Als Kind lernte sie, was es heißt, sich durchbeißen zu müssen

"Ich hoffe, dass meine Tochter später, wenn sie groß ist, nicht sagt: Ich hatte eigentlich eine schöne Kindheit, aber warum warst du immer so genervt, Mama?" Defne hat sich ein Buch zum Reinschreiben gekauft, gegen das schlechte Gewissen. Darin will sie festhalten, warum sie oft so gestresst ist. Damit Meliha sie später einmal besser verstehen kann, wenn sie in dem Buch der Mutter liest.

Defne ist in Hamburg geboren und zweisprachig aufgewachsen, ihre Eltern sind Türken, die 1970 nach Deutschland kamen. Ihre Mutter arbeitete als Putzfrau, bekam in erster Ehe vier Kinder, die Beziehung ging in die Brüche. In einer neuen Partnerschaft bekam sie Defne, die Beziehung ging ebenfalls auseinander, als Defne noch klein war. Auch damals war das Geld knapp, die Tochter merkte schnell, dass die Mutter jeden Cent umdrehen musste, kein Geld für die Klassenreise übrig hatte. Aber die Tochter lernte auch, was es heißt, sich durchbeißen zu müssen.

Wenn Briefe von Ämtern kamen, war es Defne, die schon mit zwölf für die Mutter, die nicht gut Deutsch konnte, übersetzte. Sie wusste, zu welchem Bezirksamt sie zu gehen hatten, wenn sie Anträge stellen mussten, zum Beispiel um einen Zuschuss für die Klassenreise zu bekommen. Den Antrag, erinnert sie sich, hatte sie damals per Hand geschrieben. Außerdem sorgte sie dafür, ein bisschen eigenes Geld zu haben, neben der Schule jobbte sie als Apothekenbotin und Zeitungsausträgerin.

Als Kind bekam sie mit, wie gegen Monatsende der Kühlschrank leerer wurde

Nach dem Abitur – Defne war immer eine gute Schülerin gewesen – studierte sie BWL und bekam in der Zeit Bafög, das sie später zurückzahlen musste, die Schulden hängen ihr bis heute nach. Nach dem Bachelor arbeitete sie vormittags in einer kleinen Firma als Personalerin, litt allerdings unter dem schlechten Betriebsklima, nachmittags saß sie im Drogeriemarkt an der Kasse. Also eine Doppelschicht, von der sie recht gut leben konnte. Dann verliebte sie sich in den Mann, der Melihas Vater wurde, und ihr Leben drehte sich. Die Zeiten der finanziellen Sorglosigkeit waren vorbei.

Das Thema Geld hat sich in ihren Kopf eingefressen, sie wird es nicht mehr los. So wie damals, in ihrer Kindheit, als sie mitbekam, wie gegen Monatsende der Kühlschrank immer leerer wurde. Vor kurzem hat Defne für Meliha neue Schuhe gekauft, 60 Euro, ein Vermögen, aber anders ging es nicht, da ihre Tochter einen leichten Innengang hat und spezielle Schuhe braucht. Dafür hat Defne ihre eigenen löchrigen Schuhe weitergetragen, die Tochter geht vor. Regelmäßig geht sie zur Tafel, vor allem gegen Ende des Monats, montags um zehn Uhr, da gibt es Tüten mit Lebensmitteln, Spenden vom Supermarkt für Bürgergeld-Empfänger. Aber man muss schnell sein, der Andrang ist groß.

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"Am Anfang habe ich mich total geschämt, mich gefragt: Wo bin ich bloß gelandet? Jetzt bin ich froh, dass es die Tafel gibt." Mitunter geht sie mit anderen alleinerziehenden Müttern dorthin – "wir stärken uns gegenseitig". Oft schaut sie in die Apps der Discounter, was es an Sonderangeboten gibt. In ihrer Lidl-Filiale ist das Obst ab 20 Uhr billiger, das nutzt sie, wenn sie ihre Tochter überreden kann, noch mal kurz rauszugehen. Urlaub? Kommt für Defne nicht in Frage. Im Sommer fliegt eine Freundin mit ihrem Mann zwei Wochen nach Kos. Davon könne sie nur träumen, sagt Defne. Aber eigentlich erlaubt sie sich solche Träume gar nicht erst.

Was ist, wenn der Kühlschrank oder die Waschmaschine kaputtgeht? Für solche Fälle würde sie im Sozialkaufhaus nachfragen, dort gebe es gute gebrauchte Möbel und Haushaltsgeräte. "Wichtig ist, frühzeitig Strategien zu entwickeln", sagt Defne. Im Notfall könne sie auch ihren Halbbruder fragen, aber eigentlich wolle sie von ihm kein Geld nehmen. "Ich bin 38, eine gestandene Frau und kein Teenie mehr." Defne lacht, als sie das sagt, aber ihr Lachen klingt ein bisschen traurig. Es gebe keinen Tag, meint sie, an dem sie nicht die Münzen in ihrem Portemonnaie zähle. Sie sei schon zufrieden, wenn ihre Tochter einen vollen Magen habe und die Miete bezahlt sei, alles andere ist für sie Luxus. Verzichten und aushalten.

Wenn sie mit Freundinnen oder anderen Müttern draußen unterwegs ist, hat sie ihren Kaffee schon dabei. Sie hat ihn sich zu Hause gekocht und in einen To-go-Becher gefüllt. Im Café kostet er vier oder fünf Euro, das ist nicht drin. Andere Alleinerziehende verstehen sie und machen es oft genauso wie sie. Von Freundinnen, die mehr haben als sie, mag sie sich nicht einladen lassen, "ein bisschen stolz bin ich schließlich auch".

Am schlimmsten seien für Alleinerziehende die Feiertage. Obwohl sie eigentlich ganz gut vernetzt ist. "Ich fühle mich dann mit Meliha sehr allein. Alles ist zu, die Kita, die Geschäfte, die kostenfreien Spielhäuser, wo Eltern mit ihren Kindern hingehen können." Früher, als sie noch gearbeitet hat, freute sie sich auf die Feiertage, konnte endlich abhängen. "Jetzt bin ich immer froh, wenn sie vorbei sind."

Sie muss immer funktionieren: "Das setzt mich total unter Druck"

In dem Buch, das Defne für ihre Tochter schreiben möchte, wird auch stehen, was sie am meisten belastet: das Gefühl, immer zuständig zu sein, dass da keine Arme sind, in die sie ihr Kind legen könnte, oder wenn, höchstens für kurze Zeit, bei einer Freundin, dem Halbbruder. Sie müsse immer funktionieren, sagt Defne, "das setzt mich total unter Druck. Wenn ich Zahnschmerzen habe, ist Ibuprofen mein bester Freund, das werfe ich sofort ein." Nicht krank werden dürfen, das sei in ihrem Kopf wie ein Ohrwurm, den werde sie nicht los. Sie zwingt sich dann, an etwas anderes zu denken, daran etwa, wie sie sich freut, wenn Meliha auf dem Spielplatz strahlend die Rutsche heruntersaust.

Trotzdem kommt die Angst immer wieder. Einmal hatte sie einen Hexenschuss, das sei die Hölle gewesen. Sie hat sich dann mit Meliha zum Arzt geschleppt, der hat ihr Schmerztabletten gegeben, das half. Eine falsche Bewegung, als sie Meliha hochgehoben hatte, dann kam die Hexe. Eine Erinnerung, die Defne am liebsten aus ihrem Kopf ausradieren möchte, eine Grenzerfahrung, sie war vollkommen ausgeknockt, konnte in dem Moment nicht mehr für ihre Tochter da sein.

Was ist, wenn sie sterben würde, bevor ihre Tochter volljährig ist? Eine Schreckensvision, eine bange Frage, die durch ihren Kopf spukt wie ein unheilvoller Gast. Deshalb möchte Defne beizeiten im Freundeskreis nach Paten Ausschau halten, nach einer Familie, die Meliha aufnehmen würde, für den Fall, der niemals eintreten soll.

Meliha ist zu klein, um zu verstehen, dass der fremde Mann ihr Vater ist

Auf ihren Expartner kann sie nicht zählen, der zwar ebenfalls in Hamburg lebt, aber emotional viel zu weit weg ist von seinem Kind. Zu Melihas Geburtstagen melde er sich, erzählt die Mutter, so wie vor kurzem zu ihrem zweiten Geburtstag. Defne hat ihm sein Kind in einem Videochat gezeigt, er sei gerührt gewesen, habe Tränen in den Augen gehabt. Aber dabei blieb es dann auch, so die Mutter. Meliha ist zu klein, um zu verstehen, dass der fremde Mann ihr Vater ist und warum sie keine sogenannte heile Familie sind.

Wie es weitergeht, ob ihr Expartner ihr irgendwann Geld für Meliha überweisen kann, Defne weiß es nicht. Sie ist Mutter und Vater in einem, sie kennt es nicht anders. Sie bleibt allein mit ihrer Freude, wenn Meliha in der Badewanne glücklich vor sich hin plantscht oder auf der Straße aufgeregt "tatütata" ruft, sobald sie eine Feuerwehr sieht.

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Auch auf ihre Eltern kann Defne nicht zurückgreifen, die Mutter ist vor 15 Jahren an Krebs gestorben, zum Vater hat sie keinen Kontakt. Meliha hat ihre Großeltern nie kennengelernt, also auch nicht deren religiöse Traditionen, die sie ihrer Enkelin hätten vermitteln können. Defne ist von ihren Eltern muslimisch erzogen worden, sie glaube an einen Gott, sagt sie, aber der müsse nicht zwangsläufig Allah sein, auch die muslimischen Rituale praktiziert sie nicht. Sie feiert mit ihrer Tochter die christlichen Feiertage, später möchte sie ihr den muslimischen Glauben nahebringen, den Ramadan erklären, wenn Meliha alt genug ist, um das zu verstehen. "Sie soll eines Tages selbst entscheiden, welcher Religion sie sich zugehörig fühlt." Seit letztem Herbst geht Meliha in eine evangelische Kita. Sie sei sehr zufrieden dort, meint die Mutter, es sind nur fünf Minuten zu Fuß dorthin.

Defne steht jetzt auf, zieht ihren weiten Pullover aus und tauscht ihn gegen eine karierte Bluse. "Es ist gut, dass Meliha in der Kita nur Deutsch spricht, zu Hause sprechen wir meist Türkisch", sagt sie auf dem Weg zur Kita. "Meliha soll ja ihre türkischen Wurzeln nicht vergessen, das gehört schließlich zu ihr."

In der Kita wuseln viele Kinder durch den Gemeinschaftsraum, das Mittagessen ist gerade vorbei. Als Meliha ihre Mutter sieht, läuft sie ihr freudestrahlend in die Arme, Defne nimmt ihre Tochter hoch und drückt sie fest an sich. Draußen steht der Kinderwagen, Defne setzt Meliha hinein, die zufrieden vor sich hin brabbelt. Auf dem Weg nach Hause kommentiert Meliha ihre Umgebung, "Auto", "Blume", "Musik". Als sie "Musik" sagt, zeigt sie auf einen Poller, der an der Straße steht. Defne steuert den Kinderwagen auf den Poller zu, Meliha haut mit ihrer kleinen Hand dagegen, es gibt ein sirrendes Geräusch, und das Mädchen strahlt. Dann hält Defne auf ein Fahrrad zu, das an einem Zaun angeschlossen ist. Meliha darf einmal an der Klingel ziehen und ruft glücklich: "Ding-dong, Musik!"

"Meliha findet überall Musik", sagt Defne lächelnd. "Das sind die Momente, in denen ich total dankbar bin, sie zu haben. Meine Tochter ist das Schönste in meinem Leben, auch wenn ich ständig erschöpft bin und selten abschalten kann." Dann zieht sie selbst einmal an der Fahrradklingel, und Meliha lacht. Manchmal kann Glück ganz einfach sein.

* Namen geändert. Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.

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