Wenn sie mit ihrer Tochter an einer Eisdiele vorbeikommt, wird sie nervös. Dann sagt sie: "Eis ist alle" oder "Die machen gleich zu". Noch ist die zweijährige Meliha* in dem Alter, dass sie der Mutter glaubt und sich ablenken lässt. Defne Can* biegt dann schnell zum nächsten Spielplatz ab und verspricht der Tochter zu Hause ein Eis, aus dem Achterpack vom Discounter. Meliha weiß noch nicht, dass die Kugel in der Eisdiele zwei Euro oder mehr kostet, für zwei Kugeln sind das schnell mal fünf Euro. Meliha weiß auch nicht, dass ihre Mutter arm ist. Dass sie im Monat 1369,50 Euro Bürgergeld für sich und die Tochter bekommt, davon gehen rund 770 Euro für die Miete ab. Zum Leben bleiben den beiden gerade mal 600 Euro. Im ersten Jahr ihrer dreijährigen Elternzeit hatte Defne Can noch Elterngeld bekommen, das waren einige hundert Euro mehr.
Eine kleine helle Dreizimmerwohnung in einer ruhigen Wohnstraße, zentral in Hamburg gelegen, um die Ecke ein Park und ein paar türkische Gemüseläden. "Ich würde gern dort einkaufen, aber es kostet viel mehr als im Supermarkt", sagt Defne, "vielleicht später mal, wenn ich wieder Geld verdiene. Oder auch gar nicht mehr." Ab Frühjahr 2026 will sie in Teilzeit arbeiten, im Drogeriemarkt als Verkäuferin, wo sie bereits gearbeitet hat und die Familienfreundlichkeit des Arbeitgebers schätzt.
Die 38-Jährige hat ein offenes Gesicht, spricht schnell, gestikuliert viel. In Jogginghose und weitem Pullover sitzt sie im Schneidersitz auf dem Fußboden, das mache ihr nichts aus, meint sie, der Besuch darf auf dem Sofa sitzen, sonst gibt es keine Sitzgelegenheit im Wohnzimmer. Auch ein Kissen für den Rücken hat sie bereitgelegt, sie ist jemand, der auf andere Menschen achtet.
Sie hätte sich so sehr eine "richtige" Familie gewünscht
Um uns herum liegen bunt durcheinander Kinderklamotten, Stofftiere, Spielzeugautos, in der Ecke steht eine Kinderküche mit kleinen Töpfen und Tellern. Die Küche hat Defne auf eBay gefunden, unter der Rubrik "zu verschenken". Sie sei noch nicht zum Aufräumen gekommen, meint sie. Am Vormittag ist Meliha drei oder vier Stunden in der Kita, nicht viel Zeit für die Mutter für Behördengänge, Wäsche oder mal einen Arzttermin.
Defne Can ist alleinerziehend, seit ihre Tochter ein paar Wochen alt war. Wenige Monate lebte sie mit ihrem Freund zusammen, bevor sie schwanger wurde – Meliha ist das, was man einen Unfall nennt, sie war kein Wunschkind. Bald kam es zu häuslicher Gewalt, ihr Partner schlug sie, so erzählt sie es. Für Defne war das alles dramatisch, sie war wütend, tief enttäuscht von dem Mann, der für sie als Partner und Vater versagt hatte. Sie hätte sich so sehr eine "richtige" Familie gewünscht, wie sie sagt. Defne selbst ist Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Sie kennt das Gefühl, dass da eine Leerstelle ist, jemand fehlt, der einen tröstet, wenn man in der Schule gehänselt wird, oder der einem zärtlich über den Kopf streicht, wenn man nachts aufwacht und weint, weil es so dunkel im Kinderzimmer ist. Jemand, der einfach da ist und Sicherheit gibt.
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