Höfliche Anrede
Könntest du mich bitte siezen?
Früher siezte man sogar die eigenen Eltern, heute wird unsere Autorin sogar in der Autowerkstatt geduzt. Muss das wirklich sein? Sie hätte da einen Vorschlag
Könntest du mich bitte siezen?
In manchen Bereichen des täglichen Lebens ist es doch noch angebracht: Ein Plädoyer für mehr Siezen im Alltag.
Westend61/Getty Images
Karina ScholzPrivat
19.01.2025
4Min

"War ich mit dir schon Gänse hüten?" Dieses liebevolle Donnergrollen bekam meine Großmutter, Jahrgang 1911, regelmäßig zu hören, wenn ihr ein "Du" als Anrede für ihre Frau Mama herausgerutscht war. Mutter und Vater waren Respektspersonen, die man zu siezen hatte. Zugegeben, die eigenen Eltern zu siezen, kommt mir heute mehr als antiquiert vor. Es erscheint mir wie eine Geschichte aus einer anderen Galaxie.

Im 21. Jahrhundert ist eher das Gegenteil der Fall: Wer am Puls der Zeit ist, sagt "Du". Das ist locker, sympathisch, auf Augenhöhe. Wir brauchen keinen Schnickschnack, keine Umstände. So ein "Du" kann ja auch herrlich unkompliziert sein. Im Yoga-Kurs zum Beispiel. Oder beim Stammtisch mit den Lieblings-Kolleginnen.

Wenn Sie mich allerdings nach meiner ehrlichen Meinung fragen, muss ich zugeben: Insgeheim bin ich ein Fan des Siezens. Also, mal abgesehen von der eigenen Familie und jenseits von Yogamatten und Kneipentischen. In der Arztpraxis zum Beispiel. In der Autowerkstatt. Oder auch beim Gespräch mit Kolleginnen, die ich noch nie zuvor getroffen habe. Bei all diesen Gelegenheiten finde ich es herrlich angenehm, gesiezt zu werden und, sozusagen, unter Erwachsenen die Dinge der Erwachsenen-Welt zu regeln.

Ein Hoch auf das feierliche "Sie"

Ich werde nie vergessen, wie stolz ich mich gefühlt habe, als unser Pädagogik-Lehrer in der Oberstufe feierlich verkündete, dass er ab jetzt "Sie" zu uns sagen würde. Mit Vornamen zwar, aber "Sie". Wir sollten uns an die Welt außerhalb der Schule gewöhnen, in der wir gesiezt werden würden. Ich meine, das Verhältnis zwischen uns Schüler:innen und den Lehrkräften war danach von einem anderen Umgang geprägt. Respektvoller, verbindlicher, wertschätzender. Und trotzdem vertraut.

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Karina Scholz

Karina Scholz ist freie Autorin.

Im Jahr 2025 wirkt diese Haltung wie ein Relikt aus einer Zeit, als es noch Telefone mit Wählscheiben gab. Heute duzen uns die Bedienungen im Café und die Erzieherinnen in der Kita wie selbstverständlich. Und, wie gesagt, selbst in der Autowerkstatt meines Vertrauens und am Empfang in der Hautarztpraxis herrscht die "Du-Casual-Policy". Höflichkeit adé. So kommt es mir vor.

Dabei sollte ich längst daran gewöhnt sein, schließlich bin ich Journalistin. Bei uns in der Medienbranche wird gerne und viel geduzt. Auch wenn wir uns nicht kennen, bei uns herrscht Kumpel-Atmosphäre. "Danke für deine Nachricht, ich bin erst am 12. wieder im Büro", las ich neulich in der Abwesenheitsnotiz einer Redakteurin, die ich noch nie getroffen, geschweige denn je ans Telefon bekommen habe. Auf jedem Netzwerk-Treffen, in jedem Online-Forum ist das "Du" ein ungeschriebenes Gesetz. Wie gerne würde ich bei den meisten Gelegenheiten ein freundschaftliches, aber professionelles "Sie" bevorzugen.

Von Frau Rose und Frau Stockhausen lernen

Neulich musste ich wieder an meine Oma denken. Sie hatte eine Freundin, die sie 40 Jahre lang siezte. Frau Rose wohnte drei Häuser nebenan, kam oft zum Plausch vorbei und drehte meiner Oma samstags die Haare auf Lockenwickler. Vom frisch gebackenen Kuchen bekam sie selbstverständlich ein Stück vorbeigebracht, für uns Kinder hatte sie oft Süßigkeiten in ihrer Kitteltasche. Sie blieb jedoch Zeit ihres Lebens Frau Rose. Und meine Oma Frau Stockhausen. Ist das nicht merkwürdig und wunderbar höflich zugleich?

Hörtipp: Darf man noch "Gastarbeiter" sagen? Ist "Demut" eine Tugend? Warum ist "stiefmütterlich" oft negativ gemeint? Über 30 Folgen lang hat Ursula Ott im Podcast "Sprachstunde" mit Expertinnen und Experten schwierige über Wörter diskutiert - hören Sie rein!

Ich frage mich, könnten wir uns nicht heute eine Scheibe davon abschneiden? Etwas daraus lernen? Könnten wir nicht das Beste aus beiden Welten zusammenbringen – die Einfachheit des Duzens und den Respekt des Siezens miteinander verbinden?

Leider sieht die deutsche Sprache kein so herrlich unkompliziertes Wort wie das englische "you" vor. Eine Wortneuschöpfung, die das Du und Sie verschmelzen ließe, erscheint mir auch wenig praktikabel. Aber ich hätte da einen Vorschlag.

Lassen Sie uns das steife "Sie" doch einfach etwas auffrischen. Mit Humor verjüngen. Wieder alltäglich machen. Wie das genau geht? Reden Sie einfach so, als würden Sie Ihr Gegenüber duzen – nur mit dem kleinen Unterschied, dass Sie "Sie" sagen. Ihnen kommt das komisch vor? Irgendwie cringe? Ich weiß, es klingt verrückt.

Probieren Sie es doch bei mir aus. Ich lade Sie herzlich ein. Sollten wir das nächste Mal miteinander zu tun haben, sei es beim Vorgespräch für eine Magnetresonanztomographie, beim Kauf von Kinderspielzeug auf Kleinanzeigen, in der Warteschlange vor der Supermarktkasse: Siezen Sie mich bitte. Sagen Sie etwas Nettes, Nahbares. Machen Sie einen Witz! Seien Sie lässig. Aber bleiben Sie beim "Sie". Wir müssen es ja nicht ein Leben lang durchhalten.

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