Ole Wiebe (Jahrgang 2008):
Die Stille fühlt sich nicht richtig an. Ich sitze im Deutschunterricht, soll ein selbst geschriebenes Gedicht vorlesen und kriege kein Wort heraus. Es dauert sekundenlang, bis die ersten Laute kommen. Ich habe eine Blockade. Die letzten Worte spricht mein Lehrer für mich.
Ich stottere immer schon. Es ist eine neurologische Besonderheit, die auch genetisch bedingt ist. Mein Vater und mein Großvater stotterten auch in manchen Lebensphasen. Ich war schon bei vielen Logopäden. Das brachte mir nicht wirklich viel. Irgendwann hatte ich keinen Nerv mehr auf Therapien.
Besonders schlecht lief es bei Referaten. Ich hatte zum Beispiel Blockaden vor harten Konsonanten wie P, T oder K. Manchmal wurde leise gelacht, die meisten Leute in meiner Klasse gingen aber entspannt damit um. Meine mündliche Beteiligung in der Schule war schlechter als mein Wissen.
Letztes Jahr, ich war in der 10. Klasse, wurde es noch schlimmer. Ich musste mündliche Prüfungen bestehen und brauchte statt zehn Minuten doppelt so lang wie alle anderen. Meine Mutter hat dann ganz schnell noch einen Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt, damit ich mehr Zeit bekam. Sonst hätte ich die Prüfung nicht bestanden.
Schlimm war, wenn ich meinen Namen sagen sollte
Um zu verhindern, dass ich stottere, sagte ich oft gar nichts. Oder ich sagte Wörter, von denen ich wusste, die kann ich sprechen. Ich sagte zum Beispiel oft: "Ah, okay, stimmt."
Schlimm waren auch die Momente, in denen mich jemand nach meinem Namen fragte und ich das O für Ole nicht herausbekam. Einmal sagte ich in meiner Not "Felix". Es passierte beim Badmintontraining im Verein. Es war erst die zweite Stunde, und der Trainer hatte meinen Namen vergessen. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sagte schließlich voller Verzweiflung: "Felix." Ein paar Badmintonstunden später sah der Trainer ein von mir ausgefülltes Anmeldeformular für ein Badmintonturnier. Dort stand mein richtiger Name: Ole. Er sagte: "Bist du schizophren?" Das war der absolute Tiefpunkt meines Stotterns. Ich konnte vor Scham keine Erklärung abgeben.
"Das war der Tiefpunkt meines Stotterns"
Ole Wiebe
Es musste etwas passieren. Ich fuhr für zwei Wochen nach Kassel zu einer anerkannten Stottertherapie. Dort lernten wir in der Gruppentherapie eine neue Sprechtechnik: das sogenannte weiche Sprechen mit weichen Einsätzen. Man startet langsam in ein neues Wort und wird allmählich lauter. Bei "Kaffee" zum Beispiel stupst man das K nur ein bisschen an, ohne Druck, und macht dann mit dem A weiter. Und man verbindet die Wörter miteinander, das hat am Anfang fast was von Singen.
Wir mussten in der Fußgängerzone Passanten im weichen Sprechen Fragen stellen. Zum Beispiel: "Können Sie sich einen stotternden Bundeskanzler vorstellen? Oder einen stotternden Partner?" Dabei wurden wir gefilmt. Merkwürdig: Einen stotternden Kanzler können sich viele vorstellen, einen stotternden Partner nicht.
Die Therapie war anstrengend
Jeder Tag begann um halb acht und endete um halb neun Uhr abends. Es war anstrengend. Aber die Gruppendynamik tat mir gut, und ich merkte: Das, was ich gerade lerne, kann ich wirklich gebrauchen. Am letzten Therapietag wurden Videos von unseren ersten und von den letzten Interviews in der Innenstadt vor unseren angereisten Familienmitgliedern gezeigt. Alle applaudierten. Wir konnten jetzt stotterfrei sprechen. Ich fuhr mit meinen Eltern glücklich nach Hause. Ich fühlte mich frei.
Seitdem nehme ich mir mehr Zeit beim Sprechen. Es heißt, Stottern sei nicht heilbar. Das stimmt. Ich muss die weichen Einsätze mit einem Sprachprogramm am Computer üben. Dafür stehe ich morgens eine halbe Stunde früher auf. Es kostet mich noch Überwindung, das weiche Sprechen in der Schule anzuwenden, weil es so ungewohnt klingt.
Meine Lehrerin fragte mich neulich, ob ich vor der Klasse über meine Stottertherapie berichten wolle. Ich wollte, damit alle Bescheid wissen und sich an meine neue Art zu sprechen gewöhnen. Es lief super. Später lobten mich zwei Mädchen und mein Klassenbetreuer schrieb meiner Mutter: "Die Klasse hatte das Gespür dafür, dass hier etwas Bedeutsames geschieht. Ich selbst war baff und gerührt."