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1. Korinther 13,13
Die weiße Meerschaumpfeife mit dem kleinen geschnitzten Pferd und Reiter stand auf dem Kaminsims. "Weiße Göttin" nannten wir sie. Es war verboten, sie zu berühren, aber ich wollte sie mir von Nahem ansehen. Da betrat mein Vater den Raum: "Was habe ich dir gesagt?! Du sollst sie nicht anfassen!"
Ich erschrak über den lauten, herrischen Ton, ließ die Pfeife fallen. Sie zersprang. Und mein Vater geriet in Rage und verpasste mir die schlimmsten Prügel meiner Kindheit. Er drosch mit einem Bambusstab, dem spanischen Rohr, so auf mich ein, dass meine Mutter eingreifen musste.
Albrecht Mayer
Später, da war ich schon als Oboist bekannt, erzählte meine Mutter in einer Talkshow, ich sei nie "bösartig" gewesen. "Blödsinn", den hätte ich durchaus angestellt. Und ich denke auch, dass meine Familie das sozusagen von mir erwartet hat. Das passte ins Muster: Der Albrecht macht alles kaputt, dem gelingt nie was. Man verinnerlicht solche Erwartungen, hält sich selbst für den, als der man gilt. Und irgendwann werden die Zuschreibungen wahr.
Ich versank im Scham
Damals begann ich zu stottern. Ein Mathelehrer in der fünften Klasse nutzte jede Gelegenheit, Schüler bloßzustellen. Er wusste, wie er einen mit einer Frage unter Druck setzen kann. Und wenn dann alle Augen auf mich gerichtet waren, wenn ich die Antwort wusste, die Worte aber nicht herauskamen, und er immer wieder sagte: "Was ist denn los? Es ist so simpel" und die Zunge sich einfach nicht lösen wollte, dann dehnte sich für mich die Zeit ins Unendliche.
Und je länger sie sich hinzog, desto unmöglicher wurde es mir, etwas herauszubringen. Bis sich der Lehrer endlich abwandte und ein lautes Prusten durch das Klassenzimmer schallte. Ich versank in Scham.
"Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen!" (1. Korinther 13,13) Den wenigsten bleibt es im Leben erspart, dass sie eine, zwei oder gar alle diese drei Grundpfeiler des Lebens verloren glauben. Wer sich ungeliebt fühlt, ist oft nur einen kleinen Schritt entfernt, alle Hoffnung fahren zu lassen. Das Letzte, was bleibt, ist der Glaube – nicht nur an ein höheres Wesen, eine höhere Instanz. Auch der Glaube an sich selbst, dass man sich (vielleicht mit göttlichem oder anderem Beistand) quasi Münchhausen gleich am eigenen Haarschopf aus dem Morast des eigenen Lebens zieht.
"Vergiss nicht, dich selbst zu lieben", mahnte der Philosoph Søren Kierkegaard. Um andere wirklich lieben zu können, muss man sich erst mal selbst lieben. Das hört sich reichlich egoistisch an, ist aber in Wahrheit alles andere als das. Selbstliebe war für mich immer ein schwieriges Thema, sicher auch wegen meiner etwas durchwachsenen Kindheit. Wahrscheinlich geht es den meisten Menschen so, einige eingefleischte Narzissten ausgenommen. Natürlich steht und fällt die Liebe zu sich oder die Zufriedenheit mit sich mit der Akzeptanz der anderen.
Wir Künstler und Künstlerinnen brauchen die Anerkennung von anderen wie das tägliche Brot. Wir suchen die Bestätigung auf der Bühne. Unsere Bühne kann überall sein, schon im Kindergarten, in der Schule, auch im vertrauten Umfeld zu Hause oder einfach nur auf der Straße.
Wer Oboe spielt, muss die Atmung kontrollieren
Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, versuche ich, um überzeugend auf die Bühne gehen zu können, mein oft kompliziertes Wesen gut zu finden. Das macht es mir im Alltag leichter, andere anzunehmen, auch schwierige Zeitgenossen ein bisschen zu lieben. Wenn ich dann noch in meinem oft vollgepackten Tagesablauf eine Minute finde, um zu erkennen, wie viel Wunderbares, Schönes, Liebevolles mir Gott an diesem Tag geschenkt hat, dann fühle ich sie wieder, ganz klar und überzeugend, die drei Grundpfeiler meines Lebens: Glaube, Liebe und Hoffnung.
Der Mensch, der nicht ganz unschuldig daran war, dass ich stotterte, legte mir das Instrument in die Hand, das mir mein Selbstvertrauen zurückgab. Mein Vater wollte mich vom Stottern befreien. Er dachte: Wer Oboe spielt, muss die Atmung kontrollieren; gleichmäßiger Atem werde auch meinen Sprachfluss regulieren. Er war eben nicht nur praktisch und lösungsorientiert, sondern auch empathisch und fürsorglich.