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In den vergangenen Tagen habe ich mich öfter gefragt, ob ich zu wenig wahrnehme, wie viel Glück ich habe. Vielleicht übersehe ich deshalb immer wieder, dass es Menschen ganz anders geht? In meinem keinesfalls kleinen privaten Umfeld habe ich nahezu keine Diskussionen zum Umgang mit der AfD. Auch im beruflichen Kontext hält sich das sehr in Grenzen. Die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, kommen zu ähnlichen Einschätzungen und Vorgehensweisen wie ich.
Anderen geht es anders. Als ich mich bei einer Person bedankte, dass sie ihr Social Media-Profil auch immer dafür verwendet, um aufzuklären und auf Veranstaltungen hinzuweisen, schilderte sie mir, dass das nicht so einfach ist für sie. Denn eine Person in der nahen Familie wähle voller Überzeugung die AfD. Kein Gespräch habe dies bislang ändern können. Nun werde das Thema im Interesse des familiären Friedens ausgespart. Mich beschäftigt, wie sich diese stillschweigende Vereinbarung im Alltag wohl anfühlt: einander verbunden zu sein, doch in grundsätzlichen Haltungsfragen keinen gemeinsamen Nenner zu haben. Was schafft, was nährt diese Verbindung und wie bleibt Vertrauen bestehen – gerade im familiären Kontext?
Großeltern erzählten mir, dass sie einen Kindergeburtstag vorbereiten. Das Geburtstagskind im Grundschulalter fragte, ob es auch jenes Kind einladen dürfe, dessen Eltern die AfD wählen?
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Kinder spüren die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Erwachsenen. Sie ahnen, dass es um Grundsätzliches geht und sorgen sich, ob das eigene Gefühl der Verbundenheit zu anderen in Ordnung ist. Umgekehrt machen sich auch Eltern Gedanken darüber, wie sie damit umgehen sollen, wenn ihr Kind eine intensiv mit einem anderen Kind befreundet ist, dessen Eltern eine grundverschiedene gesellschaftliche Auffassung haben. Angesichts der hohen Zustimmungswerte der AfD bei den zurückliegenden Wahlen dürfte dieser Fall keine Seltenheit sein. Menschen suchen nach Möglichkeiten eines Miteinanders – oder definieren eindeutig Trennendes.
Die Beispiele gehen weiter. Ein Vorstand eines Vereins wollte von mir Rat, wie sie damit umgehen sollen, dass nun im Stadtrat die AfD die meisten Sitze hat. Wie soll die bislang gelungene Zusammenarbeit mit dem Stadtrat weitergehen? Wann geht ein Vorstand auf die Mandatstragenden einer Partei zu, welche die Stadtpolitik maßgeblich mitbestimmt, zugleich aber konträr zu den satzungsgemäßen Grundwerten des Vereins spricht und politisch handelt? Kann es aus vereinsstrategischem Interesse, aber auch in einer moralischen Perspektive überhaupt Verbindendes geben?
Diese Fragen und Beobachtungen gehören zum Alltag - nicht erst seit den jüngsten Wahlen. Sie haben aber wohl eine größere Wirkung, als ich mir bislang eingestanden habe: Vor einigen Tagen moderierte ich in einem anderen Bundesland ein Gespräch mit einer hochrangigen Person in Regierungsverantwortung. Ich bat die Person, mir die größten Herausforderungen für die kommenden Jahre zu nennen. Ich erwartete, dass mein Gegenüber die Themen Armut, Überalterung oder Wirtschaft nennt. Oder dass es ihm um Stadt-Land-Unterschiede, Wohnungsmarkt, Schulen, Klima geht. Aber als Antwort kam: "Die AfD ist mit Abstand die größte Herausforderung, die wir alle miteinander haben." Die Person begründete das mit den rechtsextremen Anteilen, dem demokratiezersetzenden Handeln, den ausgrenzenden und unsozialen politischen Schwerpunktsetzungen der Partei - und beschrieb konkrete Situationen aus dem Landtag, worin sich dieses Verhalten spiegelte.
Die Frage, wie wir mit dem Trennenden umgehen, bewegt Kinder, Familien, Vereine und auch die Politik. Viele sagen, dass sie sich zugleich nach einem guten Miteinander sehnen, nach einer zuversichtlichen und angenehmen Atmosphäre. Es liegt an uns selbst, ob das möglich ist. Jede einzelne Person kann entscheiden, ob sie einen scharfen oder einen versöhnlichen Ton anschlägt, ob sie zu Mitwirkung und Verständigung einlädt oder sich abgrenzt. Wir haben es in der Hand, ob in der Familie, der Nachbarschaft oder im Landtag, "Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!" So steht es in der Bibel, Matthäus 7,12.
Diese Kolumne macht nun eine kleine Herbstpause. Anfang November können Sie meinen nächsten Text lesen.