Soldaten der SS in ihren Uniformen
ASSOCIATED PRESS/picture alliance
Vererbtes Trauma
Ganz zuletzt kam alles Schlimme hoch
chrismon-Leserin Christine Richter fand heraus, dass ihr Onkel in der SS war, bevor er ums Leben kam. Ihre Mutter erlitt dadurch ein Trauma, das sie an ihre Tochter weitergab. Wie kann man mit dieser Last umgehen, ohne sie zu vererben?
Aktualisiert am 17.10.2024
7Min

chrismon: Vor fünf Jahren waren Sie dabei, als Ihre Mutter kurz vor ihrem Tod von ihrem Trauma eingeholt wurde. Wie haben Sie das erlebt?

Christine Richter: Sie war wie weggetreten, wimmerte, schrie. Ich konnte aber nicht verstehen, was sie sagt. Es waren schlimmste Laute, die ich von ihr nicht kannte. Meine Tochter hörte das durchs Telefon und sagte: Was ist das? Das hört sich ja an wie ein Tier, das verletzt wird. Auch die Ärztin hörte das und fragte mich, ob sie Traumata erlebt hat. Das musste ich bejahen.

Trauma ist ein Wort, das teilweise inflationär benutzt wird. Was versteht man darunter?

Ein Trauma wird durch eine schmerzliche Situation ausgelöst, auf die die Psyche nicht vorbereitet ist. Man erstarrt, das Gehirn spaltet die Erfahrung ab und funktioniert nur noch auf Reptilienniveau. Einen Knall verbindet man dann zum Beispiel nicht damit, dass man etwas Schlimmes erlebt hat, sondern nur der Körper reagiert darauf. Ein Trauma, das nur verdrängt wird, kommt irgendwann wieder. Und dann ist es, als wäre man genau jetzt in dieser Situation. Man nennt das auch Gehirnfahrstuhl. Man fährt wie in einen Keller. Wenn über solche seelischen Verletzungen nicht gesprochen wird, können sie sogar über mehrere Generationen weitergegeben werden.

Wie war das bei Ihnen?

Als Kind war Essen für mich ein Ausgleich für die Spannungen, die es in der Familie gab. Essen hat mich beruhigt. Mein Vater hatte eine Essstörung. Er konnte nicht aufhören zu essen und zu trinken. Nur Nudeln gab es nie. Das konnte mein Papa nicht ertragen und wir durften es auch nicht hinterfragen. Das Thema war ein Tabu.

Wie kam es dazu?

Mein Vater war nach dem Zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft in Russland. Wir wussten, dass er dort gehungert hat und zu wenig zu trinken bekam. Er gerade so überlebt mit Nudeln in Wasser.

Was passierte, wenn Sie Fragen gestellt haben, die er nicht beantworten wollte?

Er wurde wütend und damit ging es mir gar nicht gut. Das geht mir heute noch so, wenn ich merke, ich habe den anderen zu sehr angerührt. Dann muss ich schauen, dass ich mich selbst reguliere. Ich habe dann ein großes Schuldgefühl und die Angst, dass mich der andere zurückweist. Traumata sind oft verbunden mit Angst, Schuld und Ohnmacht. Auch von meiner Mutter wurde ich viel kritisiert. Dadurch entwickelte sich bei mir das Gefühl: Ich bin nicht ganz okay, ich bin nicht wirklich liebenswert, sonst würden meine Eltern mich anders behandeln.

Dieser Text ist Teil einer Serie über Familiengeheimnisse. Lesen Sie hier weiter

Warum haben Ihre Eltern nicht über ihre seelischen Verletzungen geredet?

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Bitte sachlich bleiben. Vererben kann man ein Trauma, weil genetisch unmöglich, nicht. Weitergeben wohl. Zeugen und dann vererben (mit Absicht genetische Erkrankung) erzeugt Schuld, ohne dass dann der Empfänger schuldig ist.