Als ich alt genug war, erzählte mir meine Großmutter, dass sie und mein Großvater meinen Vater während des Krieges aus einem Kinderheim erst in Pflege genommen und ein paar Monate später adoptiert hatten. Die Ärzte hatten ihnen gesagt, dass sie selbst keine Kinder bekommen könnten.
Das Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in dem mein Vater seine ersten Monate verbracht hatte, wurde kurz nach der Adoption durch ein Bombardement der Royal Air Force in Schutt und Asche gelegt, wie meine Großmutter mir, sichtlich gerührt, berichtete.
Hagen Hoffmann
Den Adoptionsdokumenten aus dem Nachlass meiner Großeltern konnte ich entnehmen, dass es der leiblichen Mutter meines Vaters nicht leichtgefallen sein musste, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Sie erklärte, dass es außerehelich geboren worden war und dass sie wirtschaftlich nicht in der Lage sei, ihren Sohn ausreichend zu versorgen, und mütterliche Liebe allein mache nicht satt.
Nach dem Krieg versuchte sie, den Kontakt aufrecht zu halten. Doch meine Großeltern wünschten dies nicht, denn für sie war es eine mutige Entscheidung, meinen Vater an Kindes statt anzunehmen: Sie mussten nicht nur erklären, selbst bis in den Grad der eigenen Großeltern arischer Abstammung zu sein, sondern auch, dass sie über sämtliche Rechtsauswirkungen eines Kindesannahmevertrages belehrt worden waren.
Vor dem Amtsgericht hatten sie zudem in beiderseitigem Einverständnis zu erklären, dass sie meinen Vater, den sie nun schon ein Jahr in Pflege hatten, endgültig zu adoptieren bereit waren. Meine unbekannte Großmutter musste zuvor ihr unwiderrufliches Einverständnis zur Adoption erklären.
Eine Wahl hatte sie wohl nicht, denn meine Großeltern wurden auch darüber informiert, dass die Kindsmutter vom Amtsarzt als "haltloser Charakter" und erbbiologisch als "unerwünscht" eingestuft wurde. Nach Auffassung des NS-Staates hatte sie deshalb keine Würde mehr und kam daher auch nicht als Erziehungsberechtigte infrage. Meinen Großeltern wurde ferner unmissverständlich dargelegt, dass selbst gegen die Adoption erbbiologische Bedenken erhoben werden, da sich zukünftig "nichtarisches Blut" vermehren könnte. Dennoch entschieden sie sich für meinen Vater. Mit diesem Bekenntnis retteten sie ihn vor den britischen Bomben.
Meine unbekannte Großmutter, eine einfache Frau, gab sich wohl mehr der Not als der Lebenslust folgend dem lockeren Lebenswandel während der Leipziger Messen hin und galt deshalb als "asozial". Eine solche Stigmatisierung konnte dazu führen, dass die Person einen schwarzen Winkel als Kennzeichnung an ihrer Kleidung tragen musste. Ein schwarzer Winkel reichte neben vielen anderen Winkeln und dem Judenstern aus, um in ein KZ deportiert werden zu können.
Um herauszufinden, welches Schicksal die unbekannte Großmutter erleiden musste, aber auch, um etwas Gewissheit über erblich bedingte Gesundheitsrisiken zu erlangen, stellte ich Nachforschungen an.
Der Weg über zahlreiche Nachfragen bei den Einwohnermeldebehörden von Leipzig, Cottbus und Dortmund kam einer Zeitreise gleich, ist aber auch ein sehr gutes Beispiel für deutsche Aktengründlichkeit.
Nach einigen Telefonaten und Schriftwechseln, war ich erleichtert, dass meiner unbekannten Großmutter ein schwarzer Winkel erspart geblieben war und meine Familienanamnese auch keine Besonderheit aufwies.
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Nach dem Krieg verschlug es sie zunächst nach Dortmund, dann nach Cottbus und nach gut einem Jahr wiederum nach Dortmund. Aus der historischen Kreismeldekartei der Stadt Cottbus geht ebenfalls hervor, dass unter der Rubrik Heirat kein Eintrag vermerkt wurde. Auch unter dem Stichwort Kinder findet sich keine Information. Offensichtlich hat meine unbekannte Großmutter nach allem, was sie durchgemacht hatte, ihren einzigen Sohn gegenüber den Behörden nicht mehr erwähnt. Wirtschaftliche Not und die NS-Diktatur hatten ihr das Kind genommen, und sie hatte sich gefügt.
Ihr Lebenskreis schloss sich in Essen, wo sie doch noch geheiratet hat. Ihr Ehemnann war zwanzig Jahre älter, vielleicht ein gute Partie, hoffentlich hat er ihr Geborgenheit geschenkt. Wahrscheinlich hat er sie auch nicht gedrängt, Kinder zu bekommen. Im Jahr 1973 verstarb sie.
Ich wünsche ihr, dass sie noch ein paar gute Lebensjahre hatte und bin mir sicher, dass sie auf ihrem Sterbebett auch an ihr einziges Kind, meinen Vater, dachte.
Von dem Vater meines Vaters weiß ich so gut wie nichts. Ich erfuhr lediglich, dass er ein französischer Geschäftsmann algerischer Abstammung gewesen sein soll, der regelmäßig zu Messezeiten in Leipzig weilte. Der algerischstämmige unbekannte Großvater war in Frankreich verheiratet und hatte zwei Töchter. Für meinen Vater waren diese Halbschwestern nie interessant, ich aber hätte gern mehr über sie erfahren, denn die verschiedenen Linien meiner Herkunft haben mich geprägt.
Meine schlesische Herkunft mütterlicherseits und meine algerisch-deutsche Herkunft väterlicherseits haben mich zu einem Weltbild kommen lassen, welches nicht zu den staatlich verordneten Ansprüchen für ein Aufwachsen in der DDR passte.