Es ist das Jahr 1966. In genau einer Woche ist mein Abitur. Ich stehe auf dem Küchentisch, helfe meiner Mutter, Gardinen aufzuhängen. Und dann sagt sie einige Worte, die mich aus der Fassung bringen. Beiläufig teilt mir meine Mutter mit, dass ich einen anderen Vater hätte als den, der mir bisher bekannt war. Und schwieg.
Ich war damals 20 Jahre. Wer ist mein leiblicher Vater? Diese Frage treibt mich nun um. Meine Mutter weicht aus. Meine Herkunft bleibt ein Geheimnis. Phantasien beherrschen mich zunehmend. Eigene Narrative besetzen mich.
Wulf Lothar Köppe
1969 heirate ich. Ich fühle mich wurzellos. Meine Mutter schweigt über meinen leiblichen Vater. Keine Namen, keine Bilder, keine Geschichten.
1999 sterben meine Eltern, Mutter und Stiefvater. In den Zwischenjahren habe ich mehrfach versucht, auf eigene Faust meine Geschichte zu erhellen. Keine Antworten, keine Ergebnisse, meine Geschichte bleibt im Dunkeln, meine Mutter nimmt ihr Geheimnis mit ins Grab.
Im Nachlass finde ich einen ersten Hinweis: In einer Urkunde steht der Namen meines Vaters. Den Moment, als ich ihn gelesen habe, werde ich nie vergessen. Aber ich kann den Namen keiner Adresse zuordnen.
2001 durchblättere ich die Unterlagen noch einmal und stoße zufällig auf eine kleine Nachricht meines leiblichen Vaters an meine Mutter: Am19. Februar 1950 schreibt er, dass "wir morgen die Reise nach Argentinien antreten". Und weiter: "Darf ich Dir und dem Kinde alles Gute für die Zukunft wünschen..."
Er ist nach Buenos Aires ausgewandert. Nachdem ich das wusste, kam ich auf die Idee per Internet im Telefonverzeichnis von Buenos Aires zu blättern und erhielt einen passenden Namen. Aufgeregt rief ich die angegebene Telefonnummer an, ein Anrufbeantworter stellte sich vor - und ich verstand nichts. Spanisch habe ich nicht gelernt.
Anfang 2002. Ich hatte nicht den Mut, mich zu offenbaren, wollte den Kontakt nicht verlieren und bat eine Bekannte, unverfänglich eine Nachricht in Spanisch auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Am Abend meldete sich meine bis dahin mir unbekannte Halbschwester S. bei meiner Bekannten und teilte mit, sie sei die Tochter von K. W. Der Name, den ich im Nachlass meiner Mutter entdeckt hatte. In diesem Augenblick war mir klar, ich hatte meine Wurzel gefunden, das Ziel erreicht.
In einem Brief nahm meine Halbschwester mit mir Kontakt auf, meine Befürchtungen, dass die andere Seite kein Interesse zeigt, waren unbegründet. Wir sind eine große Familie geworden mit regen Kontakten von allen Seiten. Ich kenne meine Wurzeln. Ich erfuhr, dass ich noch zwei Halbschwestern und einen Halbbruder zu meiner Familie zählen kann. Die Orte, die seitdem in meinem Leben eine entscheidende Bedeutung haben, sind Buenos Aires, Eberswalde und Lübben. Irgendwann ließen wir das " Halb-…" aus unserer Geschwisterschaft weg. Und wurden gemeinsam älter.
Jenen Brief, den meine (neue) Schwester in Buenos Aires am 11.01.2002 verfasste, und mit dem alles begann, hüte ich wie einen Augapfel. Der wichtigste Satz, so empfinde ich die Worte, ist heute noch einem Wunder ähnlich: " Ich heiße dich herzlich willkommen und freue mich darauf, mit dir in Kontakt zu kommen..."
Eine erste Version dieses Beitrags erschien am 13.04.2024.