In meinem Leben hat sich völlig unvermittelt eine Lücke geschlossen. Wie groß diese Lücke war, ist mir gar nicht bewusst gewesen. In einem gemütlichen Café kamen drei Freundinnen und ich auf das Thema "Geschwister" zu sprechen. Sehr bewegt erzählte Regina von ihrer Schwester. Sie war eine Woche vor dem Geburtstermin im Bauch ihrer Mutter verstorben. Ihre Eltern hätten den Tod des ersten Kindes nur schwer verkraftet und untereinander oder später in der Familie Gespräche darüber vermieden.
Heike Pfingsten-Kleefeld
Immerhin hatte meine Freundin erfahren, wo der verstorbene Säugling damals beerdigt worden war. Die Grabstelle gab es nach mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr, aber vor kurzem besuchte Regina zum ersten Mal den Friedhof, legte Blumen nieder, begrüßte die tote Schwester als Teil ihrer Familiengeschichte und nahm gleichzeitig bewusst von ihr Abschied. Mit Tränen in den Augen hörte ich zu. Alles in mir begann zu vibrieren. Meine Freundin hatte noch ein älteres, ganz früh verstorbenes Geschwisterkind – genau wie ich.
Ich bin Drilling. Wir kamen zwei Monate zu früh zur Welt. Das erste Baby hat die Frühgeburt nur wenige Minuten überlebt. Weil die Ärzte von Zwillingen ausgegangen waren, war kein Kaiserschnitt gemacht worden - und den Strapazen einer natürlichen Geburt war es nicht gewachsen.
"Für Trauer war kein Platz in meiner Familie"
Irgendwann hatte ich zwar erfahren, dass ich kein Zwilling war, sondern Drilling, aber mehr wurde darüber nie gesprochen. Für Trauer war kein Platz in meiner Familie, in der über Gefühle nie geredet wurde. Auf die Tränen meiner Mutter über ihr totes Baby reagierte die Hebamme im Kreißsaal mit barschen Worten: "Was wollen Sie denn, Sie haben doch zwei!" Damit war alles gesagt. Von Kindheit an hatte ich auf die Frage nach Geschwistern geantwortet: "Ich habe eine Zwillingsschwester." Wir waren damals die Sensation im Dorf. Für unseren großen Kinderwagen wurde extra der Einlass in den Bürgerwald versetzt und die Brücke über die Beeke verbreitert. Lange waren wir gleich angezogen und überall nur "die Zwillinge".
Zumindest aber hatte ich in den letzten Jahren schon gesagt: "Ich bin Drilling, das erste Kind ist kurz nach der Geburt gestorben." Aber weiter hatte ich mich nicht damit befasst – mein totes Geschwisterkind war mir genauso fern wie irgendeine lange verstorbene Urgroßtante. Erst im Café mit meinen Freundinnen wurde mir klar, wie viel sich für mich ändert, wenn die Erinnerung an das verstorbene Kind aus dem lange verschlossenen emotionalen Fundus unserer Familie geholt wird: Ich bin nicht die älteste von zwei, sondern die mittlere von drei Schwestern, ich habe neben der jüngeren noch eine ältere Schwester. In diesem Moment wurde mir warm im Bauch. Es fühlte sich an, als sei in meinem Inneren etwas endlich an die richtige Stelle gerutscht, als könnte ich mich endlich niederlassen auf den Platz, an den ich gehöre.
Einige Tage später stand mein Entschluss fest: Ich wollte zum Friedhof fahren, die Stelle besuchen, an der meine Drillingsschwester beerdigt worden ist und ihr erzählen, dass sie von jetzt an einen festen Platz in meinem Leben hat. Aber vorher musste ich mich auf die Suche begeben. Ich wusste nur, dass das erstgeborene Baby zu Füßen meiner Urgroßmutter begraben worden ist, aber dieses Grab war schon vor langer Zeit eingeebnet worden.
Am meisten trieb mich eine Frage um: Hat meine verstorbene Schwester offiziell überhaupt existiert oder ist sie still verscharrt worden, ohne Spuren in irgendwelchen Dokumenten zu hinterlassen? Wurde sie beim Standesamt angemeldet? Steht sie in den Kirchenbüchern? Wenn ja, in welchen? Wann ist sie beerdigt worden? Ich kannte nur den Namen der Kleinstadt, in der der Friedhof liegen sollte.
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Wie konnte ich diese Informationen bekommen? Mein leiblicher Vater ist lange tot. Die beste Quelle für Informationen wäre sicherlich meine Mutter gewesen. Aber ich hatte Zweifel. Durfte ich sie fragen oder würde ich damit alten, unbewältigten Schmerz wecken? Von Kind an hatte ich verinnerlicht, meine Mutter, das emotional belastete Kriegskind, zu schonen. Mein bisheriges Leben lang hatte ich - wie alle in der Familie - emotionale Gesprächsthemen vermieden. Ich entschied mich, unser altes Muster zu durchbrechen, und fragte sie, ob ich mit ihr über meine tote Schwester sprechen dürfte. Zu meiner großen Erleichterung war sie einverstanden.
Über das Gesicht der Mutter ging ein Leuchten
Als ich meiner Mutter von meinen Plänen erzählte, zum Friedhof zu fahren, geschah etwas völlig Unerwartetes. Über ihr Gesicht ging ein Leuchten, das ich so vorher noch nie gesehen hatte. Auch wenn wir uns früher nie darüber unterhalten hatten, glaube ich seit diesem Moment, dass meine Mutter ihr totes Erstgeborenes immer in ihrem Herzen hatte. Ich wollte von ihr wissen, ob das gestorbene Baby einen Namen bekommen hatte.
Leider ist das nicht so gewesen. Es gab keine Nottaufe, die Umstände der Geburt waren dramatisch und voller Hektik, die beiden ausgesuchten Namen hatten meine lebende Schwester und ich bekommen. Meine Mutter befand sich in einem Ausnahmezustand. Sie musste eine traumatische Geburt verkraften, hatte ein Kind verloren und zwei Kinder bekommen, deren Leben mit 1100 und 1600 Gramm Gewicht am seidenen Faden hing. Aus all diesen Gründen ist meine Schwester namenlos geblieben. Vielleicht war es aber auch damals einfach nicht üblich, toten Neugeborenen einen Namen zu geben.
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Meine Mutter erzählte, sie sollte Kleidung abgeben, damit das tote Baby angezogen werden konnte. Es ist für mich ein tröstlicher Gedanke, dass meine winzige Schwester es – auch wenn sie tot war – zumindest ein wenig kuschelig hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren führten meine Mutter und ich ein intensives Gespräch, in dem es nicht nur um Verwandte, Krankheiten oder Nebensächlichkeiten ging. An diesem Nachmittag waren wir uns nahe wie selten.
Ich war sehr aufgewühlt in diesen Tagen und in meinen Gedanken hatte wenig anderes Platz als die Suche nach Spuren meiner verstorbenen Schwester. Gespannt und innerlich zittrig wählte ich die Telefonnummer des Gemeindebüros und erkundigte mich nach meiner Schwester. Von der sehr hilfsbereiten Mitarbeiterin erfuhr ich, dass in den Kirchenbüchern fünf Tage nach meiner Geburt die Beerdigung eines Kindes verzeichnet ist. Allerdings ohne Vornamen, nur unter unserem gemeinsamen Familiennamen "Kleefeld". Immerhin – das kurze Leben meiner Schwester ist dokumentiert und sie ist nicht ganz namenlos begraben worden. Völlig unerwartet und zu meiner großen Freude konnte mir die Gemeindemitarbeiterin auch den genauen Platz der ehemaligen, mittlerweile neu vergebenen Grabstelle nennen.
Die Schwester bekam einen Namen: Elisabeth
Neben dem Grab wollte ich für meine Schwester einen kleinen Stein mit ihren Geburts- und Sterbedaten in die Erde legen. Ich ging durch unseren Garten und mir fiel sofort ein sandfarbener, handtellergroßer, herzförmiger Stein ins Auge. Ich wollte ihn beschriften, aber die Beschriftung nur mit dem Nachnamen wäre karg gewesen. Vielleicht konnte das verstorbene Kind doch noch zu einem Vornamen kommen? Da meine Mutter 160 Kilometer entfernt im Pflegeheim wohnte, konnte ich nicht persönlich mit ihr sprechen, also rief ich sie an. Ich erzählte ihr von dem Stein, den ich gefunden hatte und dass ich ihn beschriften wollte. Als ich sie fragte, ob sie einen Vornamen aussuchen möchte, wurde es eine Weile still. Plötzlich hörte ich aus meinem Handy: "Elisabeth". Mehr als sechs Jahrzehnte nach ihrer Geburt hatte meine Drillingsschwester endlich einen Namen. Nun konnte ich mit goldenem Lackstift schreiben: Elisabeth Kleefeld *23.04.1961 †23.04.1961.
Auf dem Friedhof wurde es noch mal unerwartet herzerwärmend für mich. Als ich von zu Hause losgefahren war – an einem Novembertag im Nieselregen – hatte ich einen Film vor Augen: Niemand außer mir ist bei diesem Wetter auf dem Friedhof, ich lege neben dem Grab Blumen und mein Steinherz ab, mache ein Foto, vergrabe das Herz und halte stille Zwiesprache mit meiner Schwester. Ich erzähle ihr, dass unsere Mutter ihr einen Namen gegeben hat und dass sie ab jetzt in meinem Leben eine Rolle spielt. Hätte der Film eine Hintergrundmusik gehabt, wäre sie sanft gewesen – Flöten und vielleicht zarte Klaviertöne, ziemlich idyllisch. Das war meine Vorstellung.
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Und das war die Realität: Ungefähr zehn Meter vom Grab entfernt standen zwei Friedhofsgärtner im grünen Overall, neben ihnen zwei orange Rasenmäher und ein kleiner Trecker mit Anhänger.
Ich hätte fast direkt vor den Füßen der beiden Männer meinen Stein vergraben müssen. Das traute ich mich nicht, ohne es zu erklären. Also sprach ich einen von ihnen an – Mitte dreißig, ein Kerl wie ein Baum. Als er von meinen Plänen hörte, einen Stein zu vergraben, hatte der Friedhofsgärtner Sorge, später dadurch Probleme beim Rasenmähen zu bekommen. Ich zeigte ihm den Stein und versprach, ihn tief genug in die Erde zu legen. Weil ich dachte, er würde mir die Erlaubnis eher geben, wenn er den Hintergrund kennt, fragte ich ihn, ob er die Geschichte dazu hören möchte. Zu meinem großen Erstaunen wollte er - und hörte mir ruhig und aufmerksam zu.
Anschließend wollte er wissen, wo ich den Stein vergraben möchte. Mir war die Stelle egal, Hauptsache, irgendwo neben dem Grab. Nach einem Blick auf den Grabstein meinte der Friedhofsgärtner, der Platz sei schon sehr lange belegt und die Grabstelle würde bald erneut eingeebnet werden. Dann kämen Urnengräber an diese Stelle und mein Stein würde im Rahmen der Umbauarbeiten wahrscheinlich ausgegraben werden. Ich sagte ihm, dass ich das nicht so schlimm fände, mir sei vor allem das Ritual wichtig. Er hob die Hand. "Warten Sie mal!" Nach diesen Worten maß er in ausholenden Schritten den Rasen rechts neben der Grabstelle ab, kam zurück und stellte sich mit seinen großen Füßen auf eine Stelle gleich neben mir. "Hier kommt später der Weg hin, da wird nicht gegraben. Wenn Sie den Stein irgendwo auf dieser Linie in die Erde legen, wird er dort bleiben." Mir schossen die Tränen in die Augen. Was für ein Herz steckte in diesem großen Mann und wie wunderbar, dass jemand wie er die Gräber betreute!
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In meinem Garten hatte ich außer dem Herzstein zwei Heckenrosenzweige mit leuchtend roten Hagebutten gefunden, die der Kälte der Novembernächte getrotzt hatten. Meine Mutter hatte mir die Pflanze vor Jahren geschenkt. Die Zweige nahm ich mit zum Grab, als Gruß von ihr an Elisabeth. Mein kleines Ritual wollte ich nur für mich abhalten, ohne meine lebende Drillingsschwester. Aber auch von ihr nahm ich etwas mit – zarte weiße Lisianthusblüten, die ich neben den Heckenrosen und dem Stein auf die Erde legte. Nach einigen Momenten stummer Zwiesprache vergrub ich den Herzstein in der Erde. Währenddessen standen die beiden Friedhofsgärtner still neben ihren Arbeitsgeräten. Erst als ich Richtung Ausgang ging, schoben sie ihre klappernden Rasenmäher zum nächsten Arbeitsplatz. Ihr respektvolles Verhalten berührte mich sehr.
Ein Foto von meiner Schwester gibt es nicht, aber an meiner Wohnzimmerwand mit den Familienbildern hängt jetzt unter der Fotografie unseres verstorbenen Vaters ein kleiner weißer Rahmen mit einem Schriftzug: Elisabeth. Meiner Mutter zeigte ich bei meinem nächsten Besuch das Foto vom golden beschrifteten, von Blumen umgebenen Herzstein. Wieder ging ein Leuchten über ihr Gesicht und sie rief voller Wärme und Freude: "Ach, die Kleine!" Ich hatte das Gefühl, dass sich auch in ihr eine große Lücke endlich geschlossen hat.
Eine erste Version des Textes erschien am 24. November 2023.