"Kirchen-WG?" – ein bisschen komisch gucken würden die Leute schon, wenn Katarina Toft Christensen ihnen erzählt, wo sie gerade lebt: in einer WG in den Räumen der dänischen "Benediktekirken" in Hamburg.
22 Jahre ist die Studentin alt. Seit Februar 2023 lebt sie in Hamburg und absolviert im Rahmen ihres Studiums der Wirtschaftskommunikation ein Auslandssemester. Als sie anfing, nach einer Unterkunft in Hamburg zu suchen, erzählte ihr jemand von der dänischen "Kirchen-WG". Katarina bewarb sich und bekam das Zimmer. "Besonders religiös" sei sie nicht. Zum Gottesdienst sonntags um elf Uhr im Stockwerk unter ihrer Wohnung im Kirchenraum geht sie nicht immer, doch den ganz besonderen Zusammenhalt an diesem ganz besonderen Wohnort, den schätzt sie sehr: "Hier herrscht schon ein bestimmter Spirit."
Die Ditmar-Koel-Straße, Adresse der Benediktekirche, ist das Herzstück vom "Portugiesenviertel", ein Ausgehquartier direkt hinter den Landungsbrücken am Hafen. In den 1970er Jahren fanden hier vor allem Menschen aus Portugal eine neue Heimat; heute ist es in jedem Reiseführer Hamburgs als Highlight vermerkt.
Weniger bekannt ist, dass ebenfalls in dieser Straße vier nordische Länder mit eigenen Kirchen vertreten sind. Neben Dänemark noch Norwegen, Finnland und Schweden.
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Dass alle vier Seemannskirchen hier stehen, ist kein Zufall. Ende des 19. Jahrhunderts boomte die Schifffahrt. Tausende Seemänner aus Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden brauchten Betreuung und Hilfe; alle vier Länder bauten Seemannskirchen. Als Erstes 1907 die Schweden, als Letztes 1936 die Norweger. Nur die schwedische Kirche überlebte den Feuersturm im Sommer 1943, die anderen drei wurden neu gebaut, in der direkten Nachbarschaft.
Zurück zu Katarina. Gerade haben die jungen Leute zusammen mit anderen dänischen Gemeindemitgliedern im lauschigen Gemeindegarten das Mittsommerfest gefeiert. "Sankt Hans Aften" heißt das in Dänemark. Über einem Lagerfeuer haben sie symbolisch eine Strohhexe verbrannt und dänische Lieder gesungen. Natürlich war Katarina dabei.
Das Wort "Kirchen-WG" ist ein kleines bisschen geschummelt. Tatsächlich wohnen die sieben jungen Leute nicht in einer großen WG, sondern verteilen sich über vier Wohnungen auf unterschiedlichen Stockwerken in dem Rotklinkerbau aus den 1950er Jahren. Katarina bewohnt zusammen mit einer anderen jungen Frau eine der größeren Wohnungen. Sie teilt sich mit ihr Bad und Küche und zahlt dafür 600 Euro inklusive aller Kosten wie Heizung, Strom und sogar der Waschmaschinen. Die Gruppe kann alle Räume nutzen. Bei schlechtem Wetter spielen sie Tischtennis im Erdgeschoss, chillen im Gemeinderaum im ersten Stock oder kochen gemeinsam in der riesigen Küche.
Verantwortlich dafür, dass das Leben von Katarina und ihren Mitbewohner*innen möglichst reibungslos läuft, ist Sune Haubek: Gemeindepfarrer, Hausmeister, Seemannspastor, Müllmann – alles in einer Person, ein "multifunktionaler" Job, wie er es gern beschreibt.
Seit 2020 lebt Sune ganz oben im Haus der Benediktekirche, zusammen mit Ehefrau Änne und ihren zwei jüngsten Söhnen. Änne ist die Organistin der Gemeinde. Musik spielt in der Liturgie der dänischen evangelischen Kirche eine wichtige Rolle: Wer gut singen kann und sich für die WG bewirbt, hat immer die besten Chancen.
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18 Jahre lang war Sune als Militärpfarrer tätig. Er betreute dänische Soldaten im Irakkrieg und musste inmitten einer wild wogenden öffentlichen Debatte im Land über Dänemarks Auslandseinsatz immer neutral bleiben. Ein Balanceakt. Da ist er heute froh, wenn es im Alltag mit seinen Student*innen "nur" um nicht weggebrachten Müll im Keller geht.
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2007 wurde die Benediktekirken komplett renoviert. Der Kirchenraum ist seither ein selbst für Hamburg ganz außergewöhnliches Raumkunstwerk. An der Front ein riesiger Spiegel, Kunst an den Fenstern, Kunst an den Wänden und schwebende Lampen. Geschaffen hat all dies der in seiner Heimat bekannte dänische Künstler Erik A. Frandsen.
Der besondere "Spirit", den Katarina in ihrer Kirchenwohnung spürt, der herrscht auch, wenn sich die Vertreter der vier nordischen Kirchen mehrmals im Jahr zum gemeinsamen Frühstück treffen. Alle kennen sich bestens, Worte in unterschiedlichen Sprachen fliegen hin und her. Dänisch, Norwegisch, Schwedisch und Finnisch, Englisch, hin und wieder auch Deutsch.
Alle vier Kirchen und ihre Pastor*innen sind Gesandte ihrer Länder, in jeweils unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen zu ihren Landeskirchen. Alle vier Kirchen finanzieren sich weitgehend selbst, durch Spenden, Mieten, Sauna, Shops und vor allem anderen durch zwei große gemeinsame Basare pro Jahr: im Frühjahr und vor Weihnachten.
Und: Alle vier Kirchen sind auch im Alltag offen für Gäste, die der Finnen sogar täglich. Dort lockt ein Kiosk mit finnischen Spezialitäten kleine wie große Gäste: Piroggen mit Butter und Ei und original Korvapuusti – "Ohrfeigen" –, wie die Finnen ihre Zimtschnecken nennen.
Der kantige Rotklinkerbau gilt unter Kennern als klassisches Beispiel finnischer Nachkriegsmoderne und steht unter Denkmalschutz. Pastorin Katri Oldendorff ist Hausherrin und führt mit kaum hörbarem Akzent auf Deutsch souverän durch das Gebäude, in dem es nicht nur einen weiteren schönen, durch seine Schlichtheit bestechenden Kirchenraum im Erdgeschoss gibt, sondern im Keller noch eine finnische Sauna und im Anbau Gästezimmer: "Wir wollen auch kirchenfremde Menschen zu uns holen", sagt sie.
Das dadurch eingenommene Geld hilft der Gemeinde bei der Finanzierung ihrer Aufgaben, die auch hier vielfältig und deutschlandweit sind. 46 Jungen und Mädchen aus allen Ecken des Landes gehören in diesem Jahr zu ihrer Konfirmandengruppe, mit denen sie auch auf Reisen geht.
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Sonntags um elf ist Gottesdienstzeit, dann klingeln in der Ditmar-Koel-Straße die Glocken, auch in der norwegischen "Sjømannskirken" mit ihrem Glockenturm am Eingang. Für Pastor Dag Eidhamar symbolisiert die Glocke den "Ton des Lebens": "Ohne eine Schramme", so berichtet er, lag sie auf dem Schutthaufen des im Krieg zerstörten historischen Vorgängerbaus. Mit dem Neubau 1959 bekam sie ihre Aufgabe zurück und ruft sonntags um elf Uhr mit tiefem Klang zum Gottesdienst.
Seit acht Jahren lebt Dag in Hamburg, spricht fließend Deutsch und trägt im Alltag gern einen Norwegerpullover. Auch in seiner Kirche gibt es einen offenen Caféraum, eingerichtet mit typisch skandinavischen Holzmöbeln. Offen dahinter der Kirchenraum, ebenfalls mit Kunst, hier in Form einer bläulich schimmernden Glassteinfront. Wie seine Kollegen und Kolleginnen ist Dag vielfältig in Hamburg unterwegs: Er ist Seemannspastor und Seelsorger für über 1000 Menschen mit norwegischem Pass im norddeutschen Raum, betreut aber auch Konfirmanden in Berlin oder Düsseldorf.
Eine Ausnahme unter den drei Kirchenbauten aus der Nachkriegszeit ist die schwedische "Gustaf-Adolfskyrkan". Als Einzige im Krieg nicht zerstört, liegt hier der klassische Kirchenraum mit Kirchenbänken, Altar und Orgelempore im zweiten Stock des historischen Baus inmitten eines historischen Ensembles etwas weiter weg von den drei anderen, ganz am Anfang der Ditmar-Koel-Straße.
Gut 20 Gäste kommen sonntags im Schnitt zum Gottesdienst. Pastorin Christina Eriksson trägt einen prachtvollen weißen Talar mit grüner Schärpe. An diesem Tag sind auch ihre Konfirmandinnen und Konfirmanden dabei und zwei junge Musikerinnen am Klavier und an der Querflöte. "Hallelüja", erklingt es auf Schwedisch, die Konfirmanden singen mit. Auch hier spielt, wie in allen vier Kirchen, die Musik eine wichtige Rolle.
Mit dabei ist Gemeindevorsteherin Kristina Ekelund, sie hält die Bibellesung. Seit Jahrzehnten macht sie das, und wenn es die Gesundheit zulässt, soll es noch ein paar Jahre so weitergehen. Seit einigen Jahren gehört das Gebäude einem schwedischen Privatmann, der die öffentlichen Räume an die Kirchengemeinde zurückvermietet hat, mit garantierter Mietdauer in die Zukunft.
Ein ganzes Buch hat Kristina über die reiche Geschichte der schwedischen Gemeinde an der Elbe geschrieben. Nach dem Gottesdienst geht es zwei Etagen herunter in das Gemeindecafé. Die Konfirmanden und Konfirmandinnen futtern Köttbullar. Bei duftenden Zimtschnecken und Kaffee erzählt Kristina zum Beispiel aus der Nachkriegszeit, als die schwedische Gemeinde mit Notrationen auch hungernden Hamburger*innen half. Im Jahr 2023 liegt all dies in weiter Ferne. Es ist Spätsommer und schon laufen die ersten Vorbereitungen für den großen Adventsbasar der vier nordischen Kirchen. Nach zwei harten Corona-Jahren soll jetzt alles so wie vorher sein.
Gut 30.000 Menschen erwarten sie an den zwei Wochenenden vor dem ersten Advent von Freitag bis Sonntag. Bis auf die schwedische Kirche, in der dann große gemeinsame Gottesdienste stattfinden, werden die Kirchenräume gefüllt sein mit Kerzen, Kunsthandwerk und landestypischen Spezialitäten. Aus Finnland kommen zwei riesige Kühlcontainer, bis oben hin gefüllt mit Piroggen und Co. Und die, so hofft Katri Oldendorff, werden dann am Ende vor allem eines sein: "Leergeputzt!"
Eine erste Version dieses Textes erschien am 30. August 2023.