27.02.2023

Liebe Leserin, lieber Leser,

wer die Vokabel "achtsam" bei Amazon eingibt, bekommt 50.000 Ergebnisse. Das ist kein Witz, obwohl die Titel der Bücher durchaus nach Realsatire klingen. Achtsam schlank werden. Achtsam anziehen. Achtsam Hunde führen. Und natürlich der Bestseller "Achtsam morden" des Juristen Karsten Dusse, der immerhin wirklich witzig ist, ein satirischer Krimi.

Jetzt habe ich einen Podcast gehört, in dem es ebenfalls um Amazon ging – aber das Lachen verging mir fix. Der amerikanische Managementprofessor Ron Purser erzählt darin, dass in den USA Amazon seinen schlecht bezahlten und überlasteten Arbeitern neuerdings Achtsamkeitskurse andient. Anstatt besser bezahlt oder abgesichert zu werden, dürfen sie drei Minuten Pause vom Packen machen und sich in eine Meditationskabine begeben – das Unternehmen nennt das pseudo-buddhistisch "Ama-Zen". Achtsamkeit sei die "neue Spiritualität des Kapitalismus", sagt der Professor, dessen Buch denn auch "McMindfulness" heißt. Seine These: Statt gegen ausbeuterische Verhältnisse anzugehen, macht der moderne Mensch Yoga und optimiert sich so für den Arbeitsmarkt.

Ich mache auch Yoga. Und ich habe unlängst ein Achtsamkeitsseminar besucht. Vieles daran hat mir nicht gefallen, darüber habe ich hier geschrieben. Aber mir hat es immerhin den Einstieg ins Meditieren erleichtert – und das tut meinem überlasteten Kopf tatsächlich gut. Ich verspreche: Dieser Kopf widmet sich weiterhin dem Unrecht der Welt. Dafür muss er aber ab und zu zur Ruhe kommen. Ich habe für den Artikel viele verschiedene Meditationsangebote besucht, in unbeheizten Kirchen und schlecht gelüfteten Fitnessstudios.

Noch bin ich blutige Meditationsanfängerin und gehe nach wenigen Minuten Stille die Einkaufsliste durch. Aber es wird besser. Manchmal bin ich selber verblüfft, wie nach 30 Minuten scheinbarem Nichtstun plötzlich die Lösung für ein Problem auftaucht. Das berichtete gerade auch die WDR-Moderatorin Gisela Steinhauer im chrismon-Webinar über Neuanfänge: Nach drei Tagen im Schweigekloster – eine echte Herausforderung für eine Radiojournalistin – sei ihr klar geworden, dass sie einen beruflichen Neuanfang braucht. Das Webinar können Sie hier anschauen.

Ins Kloster pilgert auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir regelmäßig. Nicht in irgendein Kloster, sondern an den Berg Athos, Sehnsuchtsort vieler Sinnsucher. Unser Autor Gero Günther pilgerte mit - und harrte geduldig auch dann aus, wenn Özdemir drei Stunden Messe absitzen wollte. Mich hat beeindruckt, wie ein säkularer Moslem sich so für Religion begeistern kann und sich im Übrigen auch für religiöse Minderheiten einsetzt. Chapeau.

Gestern wurde die Fastenaktion "7 Wochen Ohne" eröffnet. "Leuchten" heißt dieses Jahr das Motto, und man muss nicht gleich "erleuchtet" sein, um in diesen sieben Wochen ein wenig zur Ruhe zu kommen. Vielleicht hilft Ihnen dabei die Fastenmail meines Kollegen Frank Muchlinsky, die Sie hier abonnieren können.

Ich wünsche Ihnen eine gelassene Woche. Und wenn es stressig wird: einatmen – ausatmen.

 

Ihre Ursula Ott

Chefredakteurin