Wann können wir zurück?
Wann können wir zurück?
Gordon Welters
Wann können wir zurück?
Die Mutter von Oleksandr und Anna starb vor drei Jahren. Der Vater kämpft in der Ukraine. In Berlin kümmern sich nun zwei Tanten um die Kinder. Ein Leben im Schwebezustand.
Kristin KastenKathrin Harms
Ines John
08.06.2022

Oleksandr will nicht aufstehen. Über den Plattenbauten von Marzahn scheint die Sonne, doch die bodentiefen Lamellenvorhänge sperren das Licht aus. Der 12-jährige Junge liegt auf einer rostroten Aufklappcouch und starrt auf sein Tablet, eine ­Leihgabe des Berliner Gymnasiums, das er seit einigen Wochen besucht. Seine Tante Nataliya redet ihm gut zu; sie will, dass er mit seiner kleinen Schwester Anna auf den Spielplatz hinter dem Haus geht. Doch Oleksandr bleibt liegen, sagt, er will seine Ruhe haben. "Wie viel Kilo hat er jetzt zugenommen?", fragt Nataliyas Ehemann Bernd, der in der Küche an einem langen Tisch sitzt. "Ich weiß es nicht", sagt sie, setzt sich zu ihm und atmet schwer aus, "jede Woche ein paar."

Kristin KastenKathrin Harms

Kristin Kasten

Kristin Kasten, freie Journalistin, hat als Kind ­ebenfalls ihre Mutter verloren. Der Gedanke, sie hätte damals auch noch den Vater und die ­Heimat zurück­lassen müssen – ­unvorstellbar.
Ines John

Gordon Welters

Gordon Welters ­fotografiert seit 2014 Geflüchtete. Mitzuerleben, wie der Alltag des 12-jährigen ­Oleksandr vom Takt der Smartphone­Nachrichten aus der Heimat bestimmt wird, war für ihn schwer auszuhalten. Er wünscht dem Jungen wieder festen Boden unter den Füßen.

Seit zwei Monaten wohnt Oleksandr mit seiner ­Schwes­ter und acht weiteren Menschen in der Gäste­wohnung eines wohltätigen Vereins in einer Berliner ­Platten­bau- siedlung. Sie sind zusammen aus der westukrainischen Stadt Kalusch vor dem Krieg geflohen. Sein Vater Roman musste zurückbleiben. Seine Tante Nataliya und ihr Mann Bernd haben die Wohnung organisiert, kaufen Kleidung, Essen, Spielzeug und zahlen die Miete. Wie es weitergeht? "Wir wissen es nicht", sagen sie, "alle verlassen sich auf uns." Die Verantwortung lastet schwer auf ihren Schultern. "Manchmal zu schwer", wie Bernd sagt, "aber was sollen wir machen?" Und über allem schweben die Angst um Vater Roman, die Sorge um Oleksandr. Der Schmerz über den Abschied von seinem Vater, das Vermissen der Heimat, die ungewisse Zukunft belasten den Jungen – sie lassen seine T-Shirts zu eng werden, hindern ihn am Aufstehen und Losrennen. "Wir kennen das schon", sagt Nataliya, "nach dem Tod seiner Mutter war es dasselbe."

Oleksandr, Lena (hinten, am Kühlschrank) und Anna(zweite von rechts) beim Abendbrot mit Verwandten in der Gästewohnung.
Lena und Nataliya auf dem Balkon.

Das war vor drei Jahren. Oleksandrs Mutter starb mit 28 Jahren am Steuer ihres Autos. "Ich hatte eine Stunde vorher noch mit meinem Bruder und ihr telefoniert", erzählt Nataliya. "Sie waren glücklich, hatten am Tag zuvor ihr zehnjähriges Hochzeitsjubiläum gefeiert." Sie holt ihr Handy heraus, zeigt alte Fotos der Familie. Darunter eins von Oleksandr und seiner Mutter im Schnee. Sie lächelt, hält ihren Sohn fest im Arm. "Sie war so hübsch", sagt Nataliya und blickt auf die blonde Frau, "ein Engel." Nataliyas Stimme bricht. Eins der nächsten Fotos zeigt die junge Mutter im Sarg, aufgebahrt am Tag ihrer Beerdigung.

"Ich hatte ein gutes Leben. Ich habe meiner Großmutter beim Saubermachen und Kochen geholfen" - Oleksandr, 12

Nataliya, 42, hat ihre Heimatstadt Kalusch vor acht ­Jahren verlassen und mit Bernd ein neues Leben in der deutschen Hauptstadt begonnen. Bernd ist Geschäfts­führer eines Berliner Unternehmens, das arbeitslose Menschen unterstützt, sie arbeitet in einem Sozialkaufhaus. Ihre blonden Haare trägt sie meist als Pferdeschwanz zurückgebunden, die künstlichen Fingernägel sind frisch lackiert, die Wimpern schwarz geschminkt. Sie ist eine Frau, die gern lacht, ein Familienmensch. Ihre beiden ­Kinder haben in Deutschland Abitur gemacht, gehen jetzt ihre eigenen Wege. Das Leben hat es gut mit ihr gemeint.

Bis zum Unfall. "Es war für uns alle ein Schock." Die Schwägerin tot, ihr Bruder Roman schwer verletzt. Bilder zeigen tiefe Wunden, die sich über sein Bein und die Hüfte ziehen. Er hinkt seitdem, kann seinen Beruf als Polizist nicht mehr ausüben. Zwei Monate nach dem Unfall holten Bernd und Nataliya seine Kinder für einige Wochen zu sich nach Berlin. "Oleksandr kam nicht aus dem Trauma heraus, hat sich versteckt, extrem zugenommen", erinnert sich Nataliya. Ein Arzt habe Alarm geschlagen, "es war die letzte Stufe vor dem Zucker". In Berlin sei er aufgetaut, habe das Trampolinhüpfen für sich entdeckt, war im Kino, lachte wieder mehr.

Oleksandr mit seiner Mutter

Die dunkelsten Zeiten hatten sie hinter sich gelassen. Dachten sie. Dann brach der Krieg aus. Heute teilen sich Oleksandr und die 6-jährige Anna ihr Zimmer mit Lena, ihrer Tante mütterlicherseits. In einer großen Vitrine sitzen Kuscheltiere ordentlich aufgereiht, andere liegen auf den improvisierten Betten. Die bunten Plüschtiere sind der einzige Hinweis darauf, dass hier Kinder leben. In Oleksandrs Zimmer zu Hause in Kalusch hängen Anime-­Poster und Sticker an der Wand, stehen Tassen mit seinen Lieblingsfiguren. Seine Augen leuchten, wenn er von dem Haus spricht, in dem er mit seinem Papa, seiner ­Schwester und der Oma bis vor zwei Monaten gelebt hat. Zur ­Schule ist er immer gelaufen. Auch der Friedhof, auf dem ­seine Mutter begraben liegt, war nah. "Ich hatte ein gutes ­Leben", sagt Oleksandr, "ich habe meiner Großmutter beim Saubermachen und Kochen geholfen." Nachmittags sei er oft mit seinem besten Freund auf dem Fahrrad durch die Nachbarschaft gefahren.

In Berlin gibt es keinen Freund, der klingelt und ihn abholt, kein Fahrrad, das vor der Tür auf ihn wartet. Auf der Flucht konnte er nur einen Rucksack mitnehmen, alles musste schnell gehen. Er packte seinen Laptop ein, das Aufladekabel für sein Handy und sein Lieblingsspielzeug: eine lilafarbene Stofffigur von einem ukrainischen Cartoon. ­ Jede Nacht schläft er damit ein. Was er am meisten vermisst? "Alles."

"Wir waren nicht auf den Krieg vorbereitet" - Lena, die Tante

An die Flucht erinnert er sich nicht gern. "Es hat so lange gedauert, war so anstrengend." Am 24. Februar wird die Familie von der Kriegsnachricht geweckt. Roman ruft seine Schwester Nataliya in Berlin an. "Kommt zu uns", sagt sie, "zögert nicht." Am nächsten Tag bricht der Vater mit den beiden Kindern auf. Doch da ist es schon zu spät. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat die Generalmobilmachung angeordnet. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Grenze nicht passieren. Ausnahmen sind Väter mit drei oder mehr Kindern und alle alleinerziehenden Väter. Aber Roman ist Reservist. Für ihn gilt das nicht. Trotzdem starten sie ihre Reise, die Kinder sollen in Sicherheit sein. In einem weißen Van fährt Roman mit den beiden los. Sie holen ihre Tante Lena und deren Nichte ab, die nicht weit entfernt wohnen. Auch eine Cousine von Nataliya mit ­ihren zwei Kindern und Nataliyas Freundin mit ­ihrem jüngeren Bruder und ihrem kleinen Sohn fahren mit. ­Sieben Kinder, drei Frauen und der Vater.

"Wir waren nicht auf den Krieg vorbereitet", sagt Lena. Sie sitzt in dem Zimmer, das sie mit den Kindern teilt, am Tisch, wirkt verloren. Ihre rotblonden Locken hat sie zu einem Zopf zusammengebunden, aus dem sich einzelne Strähnen herausgewunden haben. Sie ist ungeschminkt, dunkle Schatten liegen unter ihren großen grünbraunen Augen. Nataliya ruft die Kinder in die Küche, schließt die Tür. "Wir sind aufgewacht, und da waren plötzlich diese schrecklichen Nachrichten. Ich habe gezittert vor Angst", sagt Lena mit leiser Stimme in die Stille des Zimmers.

Er ist kein Kämpfertyp. Und er hat eine kaputte Hüfte. Trotzdem musste Vater Roman als Reservist in der Ukraine an die Front

Oleksandr auf dem Schulweg

Ihre größte Sorge galt den Kindern. Ihr war klar, dass sie Oleksandr, Anna und auch ihre Nichte Maria an einen sicheren Ort bringen muss. Also ließ sie ihr altes Leben zurück, ihren Job als Verkäuferin in einer Drogerie, ihren Ehemann, der sich um ihren kranken Vater kümmert, ihr gemeinsames Haus. Der Tod der Schwester vor drei Jahren zerrt noch heute an ihr. "Es war so hart, ohne sie weiterzuleben." Und nun: der Abschied von ihrem Mann, ihrem Zuhause, die Reise ins Ungewisse. "Ich habe mich entsetzlich gefühlt, als würde mein Herz zerreißen." Trotzdem stieg sie in den Van, der vor der Haustür auf sie wartete.
Das Ziel der elf Menschen war der polnische Grenzübergang Krakowez. Dort zogen sich die Autoschlangen viele Kilometer ins Landesinnere. Drei Tage mussten sie in dem Van ausharren. Wasser und Essen wurden knapp. Die nahe gelegene Tankstelle war schon nach wenigen Stunden leergekauft. "Freiwillige Helfer, die dort leben, haben uns und die anderen Menschen in den Autos mit Wasser, Tee und Essen versorgt." Trotzdem haben sich die anstrengenden Tage tief in Lenas Gedächtnis gebrannt. "Wir mussten alle zusammen im Auto ­schlafen, niemand konnte sich richtig hinlegen. Die Kinder waren müde." Und keiner wusste, ob der Ort, an dem sie standen, überhaupt sicher war. Welche Nachrichten als Nächstes auf ihren Handys als Eilmeldung aufploppen würden. "Wir konnten einfach nur dort sitzen und warten."

"Ich verstehe nicht, dass sie ihn genommen haben. eigentlich ist seine Hüfte kaputt" - Bernd, der Schwager

Nataliya kommt ins Zimmer, drückt Lenas Kopf an ihre Brust, legt ihr eine Hand auf die ­Wange und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Einen Moment ­verharren die Frauen so, dann gucken sie sich an und lächeln. ­Nataliya öffnet ein weiteres Foto auf ihrem Handy. Es zeigt den Vater mit Oleksandr und Anna auf dem Boden im ­Kofferraum des Vans, eingekuschelt unter einer ­dicken roten ­Decke. Er hat den Arm um beide Kinder gelegt. Annas kleine Hand ruht auf seinem Kopf. Sie wirken erschöpft, lächeln schwach. Es ist das letzte Foto, das die drei zusammen zeigt. "Mein Bruder wollte mitkommen, nicht kämpfen", sagt Nataliya. Roman sei kein Held, der sich für das Land opfern wolle. "Ich verstehe nicht, dass sie ihn genommen haben", sagt Bernd in der Küche, "eigentlich ist seine Hüfte kaputt." Doch ein Behindertenausweis, der ihm eine Ausreise ermöglicht hätte, wurde ihm verwehrt, "weil er noch laufen konnte", sagt Nataliya, "und wer laufen kann, haben sie gesagt, der ist nicht behindert."

Roman trägt jetzt Uniform, ist in einem Ort nahe Kiew stationiert. Als Nataliya den Namen des Ortes nennt, sagt Bernd: "Eigentlich sollten wir das nicht sagen." Wer wisse schon, bis wohin die Abhörgeräte der Russen reichen. Sie wollen Roman nicht zusätzlich in Gefahr bringen.

Gleich am Tag nach Kriegsausbruch hat Bernd die Wohnung organisiert, kümmert sich um alle Behördengänge. "Die machen dort Bürokratie nach Vorschrift", sagt Bernd, der Krieg spiele keine Rolle, nur die Dokumente zählten. "Für eine Person ist das schon viel Papierkram, aber für zehne", sagt er und schnauft. Immer wieder fehlt etwas, eine Geburtsurkunde hier, ein Pass dort. "Wenn die hier allein wären, würden sie jämmerlich untergehen." Auch jetzt, zwei Monate nach Kriegsbeginn, sei noch kein Geld vom Amt geflossen. "Wir sterben nicht dran", sagt er, "aber richtig ist das nicht." Heute koordinieren Nataliya und er die Termine für die nächste Woche. Die jüngeren ­Kinder müssen zum Gesundheitsamt, für die Schule, auf die sie bald gehen sollen. Bernd hat alle Termine auf einem ­kleinen Zettel notiert. Er übernimmt den Fahrdienst, wie so oft in den vergangenen Wochen.

Und im Matheunterricht der fünften Klasse mit seinen Freunden Robert und Fedir

Der Start in Berlin war für alle nicht leicht, doch Oleksandr musste besonders kämpfen. "Die Flucht war schlimm, aber das Ankommen hier war noch schlimmer", sagt er. Lieber wäre er in der Ukraine geblieben. Auch wenn er heute dankbar für das Leben in Sicherheit ist, will sich der Alltag nicht recht einstellen. Viele von seinen Kleidungsstücken sind aus dem Sachspendenlager der Arche in Hellersdorf. In den ersten Tagen hat Bernd ihn zur Schule gefahren, mittlerweile kennt er den Weg und läuft die zwei Kilometer allein. Was der Lehrer vorn an der Tafel sagt, versteht er nicht. Zwei Mitschüler helfen ihm, übersetzen. Einer von ihnen hat ukrainische Wurzeln, der andere eine russische Mutter. Doch die Freundschaft, die sich unter den Jungs entwickelt hatte, bröckelt. "Wir sagen den ­Kindern immer, dass sie keinen Hass auf die Leute der anderen Seite empfinden sollen. Dass es nur irgendwelche bösen Männer sind", sagt Nataliya. Aber Oleksandr bekommt schon zu viel mit vom Krieg und distanziert sich. Für seine kleine Schwester Anna scheint alles noch ein großes Abenteuer zu sein. Nur, dass sie nicht in die ­Schule gehen kann, ärgert sie. In der Ukraine hat sie bereits die erste Klasse besucht. Doch Anna ist erst im November sechs Jahre alt geworden und in Berlin noch zu jung für den Schulbesuch.

"Wenn meinem Bruder was ­passiert, dann fahre ich los. Egal, wie das endet" - Nataliya, die Tante

Sirenenheulen, Bombeneinschläge, Nächte im ­Keller. Die Geräusche und das Gesicht des Krieges mussten die Kinder nicht kennenlernen. "Aber glücklich kann ich ­darüber nicht sein", sagt ihre Tante Lena, "denn zu viele ukrainische Kinder hatten dieses Glück nicht." Immer wieder betonen alle in der Familie, wie dankbar sie für das Leben in Deutschland sind. Doch das Land bleibt ­ihnen fremd. Sie verstehen die Sprache nicht, haben ­keine Freunde gefunden, verlassen die Wohnung nur selten. "Wir machen Frühstück, putzen die Wohnung, gehen mit den Kindern auf den Spielplatz", sagt Lena. Ein trauriger Schwebezustand. Ob ihr nicht manchmal langweilig ist? "Nein", sagt sie, "ich kann mich nicht gelangweilt fühlen." Es klingt so, als dürfe sie es nicht, weil sie es sich selbst nicht erlaubt – nicht, so lange in ihrer Heimat Menschen im Krieg sterben. Sie sei doch in Sicherheit, sagt sie, habe nichts auszustehen, müsste sich einfach gedulden. Auf Jobsuche ist Lena nicht, obwohl sie in Deutschland arbeiten dürfte. Ein neues Leben anfangen – für Lena unvorstellbar. Sie hofft auf eine schnelle Rückkehr. Am liebsten ­würde sie sofort nach Hause fahren. "Ich vermisse das Leben ­ohne Krieg. Es tut weh, so weit weg zu sein von meiner Familie. Ich möchte einfach mein altes Leben zurück."

Anna, 6, auf dem Spielplatz. Für sie ist alles noch ein Abenteuer

Nataliya hält ihr Handy fest in der Hand. Sie möchte keine Nachrichten aus der Heimat verpassen, hat täglich Kontakt mit ihrem Bruder. Über den Krieg redet sie mit ihm selten. "Er hat uns erzählt, dass das, was er in den Dörfern gesehen hat, katastrophal ist." Sie verstummt. Details, sagt sie ihm immer wieder, möchte sie nicht hören. "Wozu auch? Sonst kann ich nachts nicht mehr schlafen." Sie muss sowieso ständig an die Familie in der Ukraine denken, den Bruder, ihre kranke Mama, ihre Oma. "Wir können nur zugucken. Was kann ich tun?", fragt sie und hebt hilflos die Hände. "Ich habe jeden Tag Angst vor schlechten Nachrichten." Die Frage, was passiert, wenn ihr Bruder stirbt, treibt ihr Tränen in die Augen. "Was soll ich dann den Kindern sagen? Jetzt habt ihr auch keinen Papa mehr? Wenn ihm was passiert, dann fahre ich los", sagt sie.

"Ich habe gesagt, sie fährt nicht", sagt Bernd. Aber Nataliya schüttelt sofort den Kopf, "doch, ich fahre. Egal, wie das endet." Die Bilder von Leichen, die tagelang in den Straßen lagen und nicht abtransportiert werden konnten, verfolgen sie. "Ich werde meinen Bruder nirgendwo liegen lassen. Wenn ihm etwas passiert, muss er nach Hause gebracht und ordentlich begraben werden." Natürlich hofft sie, dass es nicht so weit kommt. "Aber ich muss bereit sein im Kopf."

"Ich fühle mich erleichtert, wenn ich mit ihm sprechen konnte" - Oleksandr

Plötzlich rennt Oleksandr mit seinem Handy durch das Zimmer, hält es in einiger Entfernung vor sein Gesicht. Sein Lachen ist breit und offen. Auf dem Bildschirm lässt sich das Gesicht seines Vaters erkennen. Auch er lacht. Der Junge geht auf den Balkon, die kleine Schwester folgt ihm. "Wir wissen nie, wann Roman anruft", sagt Nataliya, "aber einmal am Tag schafft er es immer." Anna redet aufgeregt, lacht und winkt, dann geht sie zurück ins Zimmer, ­während Oleksandr die Tür hinter ihr schließt. Er will allein sein mit seinem Papa. Die zwei Minuten, die der Anruf dauert, sollen nur ihm gehören.

"Ich fühle mich erleichtert, wenn ich mit ihm sprechen konnte", sagt er später. Oleksandr sitzt auf dem Spielplatz auf einer Bank. Seine Tanten konnten ihn schließlich doch überreden, rauszugehen. Seine Schwester Anna rennt ­direkt zu einem gelb-roten Schaukelhasen und schwingt ausgelassen vor und zurück. "Ich vermisse ihn so sehr", sagt Oleksandr. "Krieg ist das Schlimmste auf der Welt."
Anna entdeckt zwei große Steine. Springt von einem Stein auf den anderen. Oleksandr guckt zu. Dann rafft er sich auf. Und springt hinterher.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
zu Ihren Berichten über den Ukrainekrieg: In der Schule las ich einst „Krieg und Frieden“; heute lese ich als Lehrerin diesen Essay und bin weiterhin erschrocken darüber, dass wir eine Zeitreise in meine Schulzeit zurück erleben: Wenn ich eine Zeitung aus dem Kalten Krieg neben eine heutige lege, erkennen meine Schüler kaum einen Unterschied. Wahnsinn pur. Das macht Angst; und Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Wer wirbt für verstärkte Schul- und Jugendpatenschaften mit Russland bzw. für sogenannte Workcamps mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge? Denn unter dem Krieg leiden zeitgleich unsere jungen Freunde in Russland immens - ihnen wird die Zukunft geraubt hinsichtlich Freiheit und Verwirklichung ihrer Menschenrechte.
Gern pflegen wir den Brauch, in jeder Klasse der Sankt - Paulus- Schule in Billstedt eine Weltkarte aufzuhängen, um in all die Länder eine bunte Stecknadel zu stechen, in die hinein wir durch die Stammbäume der Schulkinder Beziehungen haben. Mit meiner jetzigen Klasse 9b gehen wir deshalb einen „Projektweg der Orientierung“, an dessen Ende wir - wenn die Schrecken des Ukrainekriegs vorbei sein mögen - nach Sankt Petersburg reisen werden, dann auch in Folge die russischen Schüler zu uns einladen und wiederum selbst alle zwei Jahre nach St. Petersburg aufbrechen werden, so dass eine feste Schulpartnerschaft entsteht.
Die Vereinbarung einer Städtepartner¬schaft zwischen Hamburg und Leningrad war keineswegs selbst-ver¬ständlich gewesen. Die Freundschaft der beiden größten Metropolen im Norden Europas wurde 1957 von einem CDU-Senat unter Bürgermeister Kurt Sieveking besiegelt. Erst zwei Jahre zuvor hatte die Bundesrepu¬blik diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen. Am 27. März 1957 wehte daher die rote Fahne der Sowjetunion mit Hammer und Sichel über dem Eingang des Hamburger Rathauses. Die beispiellose Hamburger-Abendblatt-Hilfsaktion „Ein Paket für Leningrad“, gestartet im November 1990 gemeinsam mit dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), war ein emotionaler Höhepunkt der deutsch-russischen Freundschaft. Es erschreckt mich, dass niemand die Heranwachsenden um ihre politische Meinung bittet; bereits beim Klimaschutz, aber auch in der Pandemie und nunmehr in der Inflation vergessen wir diejenigen, die später einmal die Hauptlast der heutigen Konfliktherde zu tragen haben: Die kommenden Generationen! Wo bleibt ein Essay, geschrieben von einer Schulklasse, werbend für neue, vertiefende West-Ost-Freundschaften und Patenschaften von unten? Meine Schüler sind überzeugt, dass es einen roten Faden gibt von der Friedlichen Revolution 1989 über Sri Lanka heute bis hin nach Russland; wir müssten die jungen Russen gezielt durch die neuen Medien stärken darin, ihrem Freiheitswillen (bis hin zu einer Revolution) Ausdruck zu verleihen; denn nur die Heranwachsenden von heute werden diesen Krieg beenden können, indem sie Panzer in Freundschaftsbänder tauschen.
Mit freundlichen Grüßen
Bettina Meinert