Depot der Hoffnung
Ein Moment der Ruhe nach einer vielleicht dramatischen Flucht.
Marta Thor
Depot der Hoffnung
Wie Breslau geflüchteten Ukrainern hilft
In einem früheren Depot in Breslau werden Geflüchtete aus der Ukraine versorgt. Zu Beginn des Krieges kamen täglich 8000 Menschen, jetzt sind es viel weniger
Carsten Selak
20.04.2022
4Min

Jeden Tag um 12 Uhr schwingen die großen grünen Metalltüren des früheren Straßenbahndepots in Breslau zur Seite. Davor warten in einer langen Schlange 3000 bis 4000 Geflüchtete aus der Ukraine mit Kinderwagen, Krücken, Koffern und Taschen. Frauen mit Kleinkindern und behinderte Menschen werden nach der Passkontrolle zuerst eingelassen. Alle hoffen auf Kleidung und so viele andere Dinge, die ihnen fehlen: Babyfläschchen und Schnuller, Windeln, Zahnpasta, Kinderwagen, warme Jacken, Schuhe, Decken - und vor allem auf Essen.

Schon Stunden bevor das Depot öffnet, warten Hunderte Menschen auf Einlass. Patryk Galazka wurde von seiner Firma für das Engagement freigestellt und kontrolliert die Pässe, damit die Hilfsbereitschaft nicht von Betrügern ausgenutzt wird.

An Lebensmitteln fehlt es eigentlich immer, sagt die Hauptkoordinatorin der Halle, Irena Chermoshentseva aus Kiew. Die Ukrainerin hat schon vor dem Krieg einige Zeit in Polen gelebt und gearbeitet und besitzt eine Wohnung in Breslau. Als Russland ihr Heimatland angriff, brachte sie ihre Familie in Sicherheit zu den polnischen Nachbarn. Gleich am nächsten Tag stand sie als freiwillige Helferin vor demselben grünen Tor wie die Flüchtenden.

Das alte Straßenbahndepot im Breslauer Stadtteil Grüneiche, wo viele Studierende wohnen, wird seit einigen Jahren als Kulturzentrum "Czasoprzestrzeń" (dt. Raumzeit) genutzt und gehört zum polnischen Hilfsverein Tratwa (dt. Floß). Dieser versorgt seit Beginn des Krieges in den großen Hallen Menschen aus der Ukraine.

Mütter hoffen auf Babyfläschchen, Schnuller, Beißringe und Spielzeug. Die Kinder interessiert nicht, woher die Kleidung kommt, Hauptsache sie passt und gefällt.

Irena Chermoshentseva ist die einzige Mitarbeiterin, die bei diesem Hilfswerk angestellt ist, alle anderen arbeiten ehrenamtlich. Die ukrainischen Helfer und Helferinnen tragen orangefarbene Westen, die polnischen gelbe. "Wir möchten, dass sich die Helfer untereinander mischen, das ist gut für die Integration", sagt Chermoshentseva. In den ersten Wochen machten täglich bis zu 80 Ehrenamtliche mit, mittlerweile sind es eher 50. Es kommen jetzt auch weniger Lkw mit Hilfsgütern an. Doch der Bedarf ist noch immer groß. Die Arbeit geht nie aus.

Irena Chermoshentseva spricht fließend Ukrainisch und Polnisch und erkundigt sich täglich bei den Helfern, was fehlt und wie es ihnen geht.

"Ich betrete morgens um 6 Uhr die Halle und komme oft Stunden nach Ende meiner Schicht wieder raus."

Irena Chermoshentseva

Im Lager sortieren Ehrenamtliche die neuen Lieferungen gespendeter Güter.

Ein gutes Dutzend ukrainischer Frauen gehört zum festen Kern der Helfenden, sie kommen sogar an Tagen, an denen sie keine Schicht übernommen haben. Sie sind ein eingespieltes Team, sortieren Spenden, geben Lebensmittel, Hygiene- und Putzmittel aus, beschäftigen die ukrainischen Kinder, wenn ihre Mütter in Ruhe in den vielen Kartons nach kleinen Hemdchen, Schuhen oder Kleidchen suchen. Doch es helfen auch ganze Schulklassen und Mitarbeiter von großen Unternehmen wie Google, Volvo oder Credit Suisse.

Der 17-jährige Piotr Łomotowski verbringt fast jede freie Minute im Depot und packt an, wo er kann.

"Wirklich jeder kann hier helfen. Es gibt für jeden, ob alt oder jung, ob er Polnisch, Russisch oder Ukrainisch spricht, eine Aufgabe."

Piotr Łomotowski

Auch Anna Michalczuk hat beim Aktionstag ihrer Schule im Depot das Helferfieber gepackt. Hier sortiert sie Schuhe, am liebsten passt sie in der Spielecke auf die Kinder auf.

Piotr Łomotowski und Anna Michalczuk helfen jeden Mittwochnachmittag mit. Die 17-Jährigen haben die Arbeit der freiwilligen Helfer bei Czasoprzestrzeń durch eine Schulaktion kennengelernt. Ihre Schule, das Stefania-Sempołowska-Gymnasium in Breslau, schickt über mehrere Wochen fast täglich ganze Schulklassen ins Depot, insgesamt beteiligen sich 19 Klassen.

Gerade Schüler, die anfangs keine Lust hatten, fragen später nach, wann sie wiederkommen können, erzählt Piotr. Er ist auch Sprecher der Schülermitverwaltung. "Wir wissen alle, was gerade in der Ukraine passiert und wie schwer es diese Menschen haben. Hier zählt jede Geste", sagt Anna. Anfangs war sie von der Flut an Kartons mit gespendeten Gütern geradezu überwältigt. Jetzt ermutigen die beiden andere Menschen: "Jede Hilfe ist Gold wert. Auch wenn es nur zehn Minuten sind."

Die Menschen kommen aus der ganzen Stadt ins Depot und freuen sich, wenn sie die Waren im Rollkoffer transportieren können.
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