"Dann haben wir moralisch verloren"
"Dann haben wir moralisch verloren"
Axel Bueckert/iStockphoto
"Dann haben wir moralisch verloren"
Am Dienstag beraten Bund und Länder über Verschärfungen des aktuellen Lockdowns. Die Initiative #ZeroCovid fordert stattdessen einen Shutdown - auch für die Wirtschaft. Das Ziel: Die Zahl der Corona-Neuinfektionen soll - europaweit koordiniert - auf null sinken. Danach könne sich das Leben der Menschen schrittweise wieder normalisieren.
Tim Wegner
18.01.2021

Sie schlagen mit Ihrer Initiative vor, die Zahl der Corona-Neuinfektionen auf null zu senken, und zwar mit Hilfe eines solidarischen europäischen Shutdowns. Was ist damit gemeint?

Sebastian Schuller: Wir leben nun schon sehr lange in einer Art Dauer-Lockdown, der fast ausschließlich auf Einschränkungen im Privatleben von uns Menschen abzielt. Aber das reicht nicht, wie wir an den Infektions- und Todeszahlen sehen. Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir auch das Wirtschaftsleben so weit wie möglich stilllegen. Europäisch heißt: Wir orientieren uns am internationalen Aufruf für die konsequente Eindämmung der Covid-19 Pandemie in Europa, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor Weihnachten initiiert haben, weil es in international vernetzten Gesellschaften nur Sinn macht, die Infektionszahlen überall zu senken. Solidarisch bedeutet: Wir können den Menschen natürlich nicht zumuten, in der Zeit eines Shutdowns ohne Einkommen zu sein. Keinem Menschen darf ein Einkommensausfall entstehen, niemand darf seine Wohnung verlieren. Um das zu verhindern, braucht es Geld, dafür sind Vermögenssteuern unabdingbar. Auch in Zukunft müssen Reiche einen Beitrag leisten, damit wir den Gesundheits- und Pflegebereich aufwerten können.

Sebastian SchullerPrivat

Sebastian Schuller

Dr. Sebastian Schuller, 30, lebt in München und ist Literaturwissenschaftler. Derzeit arbeitet er an einem Postdoc-Projekt zu Antisemitismus und Verschwörungsideologie. Schuller ist im Sprecher:innen-Team von "#ZeroCovid".

Wie stellen Sie sich einen Shutdown konkret vor – was dürften wir noch, was nicht?

Shutdown heißt: Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz! Es gibt natürlich Arbeit, die notwendig ist – die Versorgung mit Lebensmitteln zum Beispiel. Andere Arbeit kann man problemlos im Homeoffice erledigen.

Aber eine Arbeiterin in der Automobilindustrie kann nicht zu Hause arbeiten ...

Dann schaltet man das Band für eine Weile ab. Wenn die Bänder laufen und die Büros geöffnet sind, bedeutet das für Familien ja auch immer, dass Eltern eine Betreuung für ihre Kinder brauchen. Und dort passieren Infektionen. Das sind regelrechte Brutstätten für Corona. Letzten Endes bleibt also nur der Shutdown des Wirtschaftslebens.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, warnt: Wer die Industrie vier Wochen anhalte, brauche nochmals vier Wochen, um sie wieder hochzufahren. Es drohe ein großer volkswirtschaftlicher Schaden, der uns alle betreffe.

Wirtschaftlichen Schaden kann man beheben, aber das Leben der Corona-Toten ist für immer verloren. Wenn wir anfangen, wirtschaftliche Kerndaten gegen Menschenleben aufzurechnen, haben wir moralisch verloren. Dann können wir unser Gemeinwesen dichtmachen.

Wie lange soll ein umfassender Shutdown Ihrer Auffassung nach dauern?

Wir fordern, dass der Shutdown so lange dauert, bis die Infektionszahlen auf null sind – deswegen ja auch "Zero Covid", null Infektionen. Die Erfahrungen aus Ländern wie Neuseeland, die eine ähnliche Strategie verfolgt haben, zeigen, dass das eine Angelegenheit von drei bis vier Wochen ist. Aber eine konkrete Zahl für Deutschland möchte ich nicht nennen.

Neuseeland ist eine Insel, Deutschland liegt mitten in Europa.

Es gibt auch das Beispiel Vietnam, die nur sehr wenige Corona-Tote haben. Aber dann heißt es schnell, der vietnamesische Erfolg hänge mit einer anderen Mentalität zusammen, die es in Asien gebe. Seit Monaten suchen wir nach Entschuldigungen, warum Maßnahmen anderswo auf der Welt erfolgreich sind, aber bei uns nicht. Dabei braucht es einzig und allein den politischen Willen, sich an positiven Beispielen zu orientieren, von ihnen zu lernen und einen temporären Shutdown umzusetzen, statt auf unbestimmte Zeit im Lockdown gefangen zu sein.

Derzeit liegen wir laut RKI im deutschlandweiten Durchschnitt bei einer Inzidenz von 134,4 Neuinfektionen in sieben Tagen auf 100.000 Einwohner:innen – und Ihrer Idee nach wäre diese Zahl dann Null?

Genau.

Der Epidemiologe Klaus Stöhr, ehemals Leiter des "Global Influenza Program" und SARS-Forschungskoordinator der WHO, sagt: Im Winterhalbjahr ist das bei einer Atemwegserkrankung nicht zu schaffen, man brauche realistische Ziele. Was erwidern Sie?

Selbst wenn man nach einer Weile feststellen würde, dass die Null im Winter nicht erreichbar ist, hätte ein Shutdown auf jeden Fall trotzdem einen positiven Effekt. Die Infektionszahlen würden so extrem sinken, dass das Sterben, das wir gerade erleben - wir beklagen bereits mehr als 46.000 Tote - so nicht mehr weitergeht.

Mehr als 80 Prozent der Menschen, die bisher an oder mit Covid-19 verstorben sind, waren nach Erkenntnissen des RKI 70 Jahre und älter. Das zeigt, welche Bevölkerungsgruppe besonders gefährdet ist und geschützt werden muss. Müssen wir nicht viel mehr tun, um diese Menschen vor einer Infektion zu bewahren, statt alles lahmzulegen, was mit Sicherheit auch Tod und Leid verursacht?

Vulnerable Gruppen zu schützen, ist eine moralische Selbstverständlichkeit, das sollte auch außerhalb von Pandemiezeiten gelten. Aber was hieße das konkret in der jetzigen Lage? Es liefe auf eine Segregation der älteren Menschen hinaus, die in ihren Wohnungen oder in Pflegeheimen auf unbestimmte Zeit festgesetzt wären. Hinzu kommt: Zwölf Prozent gehören nicht zur Gruppe der über 70 Jahre alten Menschen, die nun tot sind. Es gibt junge Menschen, die von Corona mitten aus dem Leben gerissen werden oder an Langzeitfolgen ihrer Erkrankung leiden. Was sagt man diesen zwölf Prozent? In der Forderung nach besserem Schutz der Älteren steckt ein Geist, der unsolidarisch und nicht humanistisch ist.

Kinder sind heute schon abgeschnitten vom öffentlichen Leben – und leiden sehr darunter. Kinder aus sozial benachteiligten Familien, in denen es ohnehin viele Konflikte gibt, erst recht. Und die wollen Sie alle für vier Wochen in einen Shutdown schicken?

Ich weiß von einem Kind aus meiner Verwandtschaft, das aus Angst vor der Schule morgens häufig weinte, weil das Fenster in den Schulen weit offen stand, mitten im Winter. Es musste in Fäustlingen das Schreiben lernen. Wollen wir Kindern diesen Druck zumuten? Wollen wir ihnen den emotionalen Stress zumuten, sich in der Schule zu infizieren und dann womöglich ihre Eltern oder Großeltern anzustecken? Es erleichtert den Kindern doch das Leben, wenn man ihnen sagt: Ihr müsst nicht in die Schule gehen, ihr könnt euch ein paar Wochen sammeln.

Es fließen auch Tränen, weil Kinder ihre Freunde vermissen. 

Wenn es nicht anders geht, könnte man Unterricht in Kleingruppen anbieten. Es wurde immer die Hoffnung gesät: Kommt die Impfung, ist die Pandemie überwunden. Nun haben wir die Situation, dass die Impfung schleppend vorangeht und es Mutationen gibt. Wir haben das Ende des Lockdowns eben nicht vor Augen, trotz der Impfstoffe. Und dann müssen eben auch die Kinder ihren Beitrag leisten, damit wir aus dieser verfahrenen Situation herauskommen. Ich frage mich: Ist es vielleicht besser, dass sie ihre Freunde vier oder acht Wochen nicht mehr sehen, aber danach eine Chance haben, ein relativ normales Leben zu führen? Oder lassen wir es so laufen, ohne den Kindern zu sagen, wann und ob sich ihre Situation verbessert?

Ein demokratischer Rechtsstaat muss immer das mildeste Mittel wählen, um seine Ziele zu verfolgen. Ein Shutdown ist ein sehr hartes Mittel. Wie wollen Sie verhindern, dass die Gerichte Ihren radikalen Ansatz gleich einkassieren?

Deswegen ist es wichtig, dass ein Shutdown von der Zivilgesellschaft getragen wird. Dafür werben wir. Wir sind auf einem guten Weg, wir haben bereits weit über 20.000 Unterschriften und sind damit eine echte überparteiliche Graswurzelbewegung. Das zeigt: Die Menschen sind viel solidarischer, als man glaubt. Das würden sicher auch Gerichte würdigen.

Angenommen, Sie gewinnen so viel Unterstützung, dass wir ab 1. Februar in einen solidarischen Shutdwon gehen, bis März. Und dann steigen die Infektionszahlen wieder. Der Frust wäre riesig, die Akzeptanz für weitere Maßnahmen gegen die Bekämpfung der Pandemie könnte leiden. 

Wir haben alle ein anstrengendes Jahr hinter uns. Wie viele Menschen sind nun schon so müde, wie Sie es skizzieren? Ich finde den Ansatz schlimm, dass wir mit Covid-19 leben sollen, denn dann sterben noch mehr Menschen. Ein Shutdown wäre ein Signal, dass es endlich einen gesellschaftlichen Plan gibt. Und wenn es danach wieder zu Infektionen kommt, weil das Virus natürlich nicht weggezaubert ist, könnten die Gesundheitsämter die Ausbrüche viel besser als jetzt bekämpfen, mit zeitlich und lokal begrenzten Maßnahmen.  

Infobox

Wer ist "#ZeroCovid"?

Die Initiative "#ZeroCovid" geht auf Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufen zurück. Zu den Erstunterzeichnern, die einen solidarischen und euopäischen Shutdown fordern, gehören Ärztinnen und Ärzte, aber auch Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Aktivisit:innen wie zum Beispiel Luisa Neubauer, Margarete Stokowski oder Georg Restle.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Alles wirklich-wahrhaftig Vernünftige scheitert an der wettbewerbsbedingten Symptomatik "Wer soll das bezahlen?", DESHALB haben die lobbyistischen "Treuhänder" der "Demokratie" auch heute noch KEINE regelmäßige Testung aller Bürger eingeführt.
DESHALB haben wir auch immernoch keinen ansatzweise gerechten Lockdown erlebt, wo JEGLICHE Spekulation von Mietzahlungen bis Steuern zahlen für alle auf NULL gesetzt würde.

In einem befriedeten Gemeinschaftseigentum wäre ein Lockdown kein Problem - DESHALB wäre es eine VORBILDLICH-NACHAHMENSWERTE Maßnahme, wenn wir für ein globales Gemeinschaftseigentum den Anfang getan hätten, aber leider bleiben Poker und Monopoly auch weiterhin die sinnentlerrenden Spiele des Lebens (?), was uns nach der Pandemie, angesichts der Spielregeln von "Wer soll das bezahlen?", noch sehr viel bitterer "aufstoßen" wird!!!

Permalink

Das unnötige Sterben kann nur verhindert werden wenn wir testen, testen, testen und daraus die nötigen Konsequenzen umsetzen!
Doch weil die Angst vor dem Ende unseres gewohnten Wirtschaftssystems größer ist, herrscht Chaos, Heuchelei und Lüge.