Globaler Klimastreik der Umweltbewegung Fridays For Future
Luisa Neubauer beim 5. Globaler Klimastreik der Umweltbewegung Fridays For Future findet online NetzstreikFürsKlima und vor dem Berliner Bundestag statt. Wegen der Corona-Eindämmungsverordnung und entsprechender Versammlungs- und Kontaktverbote, konnte keine Demonstration von Fridays For Future stattfinden. Aktivisten waren dazu aufgerufen Proterstplakate zu entwerfen, die heute vor dem Reichtagsgebäude von wenigen Aktivisten ausgelegt wurden. snapshot-photography/F.Boillot *** Luisa Neubauer at the 5 Global Climate Strike of the environmental movement Fridays For Future takes place online NetzstreikFürsKlima and in front of the Berlin Bundestag Because of the Corona Containment Ordinance and the corresponding assembly and contact bans, no demonstration of Fridays For Future could take place Activists were called to design protest
snapshot/imago images
"Der Staat muss eine konkrete Perspektive anbieten"
Auch wer die Menschen vor dem Coronavirus schützen will, muss die Grundrechte achten, sagt die Rechtswissenschaftlerin Andrea Edenharter im Interview. Sie ist besorgt darüber, wie viele Menschen bereit sind, auf grundlegende Rechte zu verzichten.
Tim Wegner
30.04.2020

Welche Grundrechte hat das Coronavirus niedergestreckt?

Andrea Edenharter: Ganz viele. Das fängt mit dem Recht auf persönliche Freiheit in solchen Regionen an, in denen es teilweise sehr strikte Ausgangsbeschränkungen gegeben hat. Aber auch die Vorgabe, dass wir in der Öffentlichkeit nur mit einer weiteren Person unterwegs sein dürfen, die nicht mit uns in einem Haushalt lebt, gehört dazu. Die Religionsfreiheit ist stark eingeschränkt. Ebenfalls die Wissenschaftsfreiheit, weil der Universitätsbetrieb in weiten Teilen ruht. Was bislang wenig in den Medien diskutiert wird: Die Freiheit der Kunst ist stark beeinträchtigt – Künstlerinnen und Künstler können nicht auftreten. Bei der Versammlungsfreiheit bewegt sich etwas in Richtung einer langsamen Lockerung der Totalverbote. Die Berufsfreiheit, punktuell auch die Freizügigkeit im Bundesgebiet sind von den Maßnahmen betroffen. Und auch Gleichheitsrechte, etwa Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Nun durften einige Einzelhändler ihre Geschäfte öffnen, andere aber nicht. Dies ist eine Ungleichbehandlung, die inzwischen auch die Gerichte, etwa der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, also solche erkannt und gerügt haben.

Im Grundgesetz findet sich ja auch Artikel 2 Absatz 2: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wenn man die schrecklichen Bilder aus Norditalien und anderen Orten auf der Welt vor Augen hat, sollte dieses Grundrecht für sich genommen ja schon reichen, um alle anderen einzuschränken.

Es war richtig und wichtig, dass die Exekutive – die Bundes- und die Landesregierungen – im März Schritte ergriffen haben, um das Virus einzudämmen. Seit der Bundestag das Infektionsschutzgesetz geändert hat, steht das auf einer tauglichen Rechtsgrundlage. Aber auch wenn man das Handeln der Regierung als grundsätzlich richtig empfindet, schließt das ja nicht aus, dass einzelne der Maßnahmen unverhältnismäßig waren und sind. Und: Wir müssen darauf achten, dass die Einschränkungen nicht unbefristet in Kraft bleiben. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Religionsfreiheit angemahnt. Man muss immer wieder neu bewerten, was sinnvoll ist und was nicht. 

 

Andrea Edenharter

Andrea Edenharter hat seit Oktober 2019 den Lehrstuhl für Verwaltungsrecht, insbesondere Wirtschaftsverwaltungsrecht und Allgemeine Staatslehre an der Fernuniversität Hagen inne.

Wo ist für Sie besondere Sensibilität gefragt? 

Überall dort, wo die Einschränkungen bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders hart treffen. Für Opfer von häuslicher Gewalt sind Kontaktbeschränkungen eine sehr einschneidende Maßnahme. Wenn die Familie immer unter einem Dach ist, kommt es erst recht zu Spannungen. Auch psychisch kranke Menschen sind durch die mit den Kontaktbeschränkungen verbundene Isolierung besonders betroffen, zumal dann, wenn in den ambulanten und stationären Einrichtungen wegen der Corona-Bekämpfung die Behandlungskapazitäten heruntergefahren worden sind. Besondere Sensibilität ist gefragt, wenn es um die Behandlung anderer Krankheiten geht: Es muss vermieden werden, dass die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen dazu führen, dass andere Patienten schlechter versorgt werden. Zudem ist Sensibilität angezeigt, wenn es Einschränkungen für ganz bestimmte Berufsgruppen gibt – zum Beispiel für die Gaststättenbesitzer. Für solche Gruppen kann die jetzige Situation den wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Noch ein Beispiel: Ich stamme aus Bayern. Dort hat man versucht, der Pandemie mit ganz strikten Maßnahmen Herr zu werden. Die Baumärkte und Gärtnereien wurden geschlossen und durften erst nach mehreren Wochen wieder öffnen, die in Baden-Württemberg waren aber die ganze Zeit über geöffnet. Als Juristin muss ich nach der Verhältnismäßigkeit fragen, und zwar ganz konkret: Ist das Ansteckungsrisiko in einem Baumarkt wirklich so viel höher als in einem Supermarkt? Hinzu kommt: In Gärtnereien wird verkauft, was wir in kommenden Monaten essen werden – Pflanzen und Samen. Das sind für mich Ansatzpunkte, um ganz genau hinzuschauen.

Waren Sie überrascht, dass viele Bürgerinnen und Bürger besonders zu Beginn der Pandemie sehr strenge Maßnahmen forderten – bis hin zu echten Ausgangssperren, wie sie dem Wesen einer liberalen Demokratie völlig widersprechen?  

Mich hat es besorgt gemacht, dass viele Menschen so bereitwillig auf ihre Freiheitsrechte verzichten wollten. Und dass es anfangs kaum Diskussionen über das richtige Maß gab. Eine sinnvolle Rechtsgrundlage und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit sind kein netter Bonus, sondern ganz wichtig – und zwar gerade für den Fall, dass wir diese Situation noch Wochen und Monate durchhalten müssen. Meine persönliche Erfahrung in den vergangenen Tagen ist: Die Disziplin der Menschen lässt jetzt nach. Manche halten zu wenig Abstand. Ich sehe wieder Menschengruppen. Das ist genau das, was man vermeiden wollte. Aber es passiert, weil die Akzeptanz abnimmt. Ohne Debatten und Diskussionen, die Klarheit schaffen, gibt es keine ausreichende Akzeptanz.  

Wer im März über eine Exit-Strategie diskutieren wollte, wurde genau mit diesem Argument angegangen: Allein die Debatte verringert Akzeptanz und Disziplin, hieß es.

Diese Unterdrückung von Diskussionen über Exit-Strategien – das ist für mich obrigkeitsstaatliches Verhalten. Es sollte dem Staat fernliegen, den Bürgerinnen und Bürgern vorzuschreiben, worüber sie diskutieren möchten. Das gehört zur Meinungsfreiheit. Wer eine Exit-Diskussion führt, muss ja nicht gleich alle Läden sofort öffnen. Wir brauchen aber einen Plan, wie es weitergehen soll in unserem Land. Dazu ist es auch notwendig, den Sachverstand der Zivilgesellschaft und besonders der Parlamente einzubeziehen. Wir haben die Abgeordneten demokratisch gewählt. Sie sind unsere Vertreterinnen und Vertreter. Wenn sie diskutieren, sollten wir das Vertrauen haben, dass sie gute Kompromisse finden. Den Sachverstand von Fachleuten – Virologen, Soziologinnen, Ökonominnen, Psychologen und so weiter – sollen sie natürlich mit berücksichtigen. Dafür gibt es Parlamentsausschüsse. Wenn das nur in Talkshows passiert, reicht das nicht. 

Sie treten seit Beginn der Krise dafür ein, den Rechtsstaat in Zeiten von Corona zu achten. Welche Resonanz bekommen Sie dafür? 

Als ich mich im Verfassungsblog geäußert habe, kamen viele Rückmeldungen. Es war viel Zustimmung dabei, aber es gab auch Zuschriften wie: "Sie sollten den Mund halten, Sie haben keine Ahnung!" Mittlerweile melden sich Menschen wie Heribert Prantl, Juli Zeh, Oliver Lepsius oder Hans-Jürgen Papier zu Wort – also Leute, die die Grundrechte im Blick haben, ohne den Gesundheitsschutz preiszugeben. Das ist sehr wichtig. 

Gottesdienste waren eine Weile verboten, in Sachsen und Thüringen sind sie unter Auflagen wieder erlaubt. Weitere Bundesländer planen Regelungen, die es Gläubigen ermöglichen, wieder zusammenzukommen. Wo stehen wir mit unserer Religionsfreiheit?

Am Anfang hielt ich es unter Infektionsschutzgesichtspunkten für sinnvoll, keine Gottesdienste zu feiern. Aber mir leuchtet als gläubige Christin nicht ein, dass ich mir jetzt in vielen Bundesländern im Autohaus Fahrzeugmodelle ansehen, aber keinen Gottesdienst besuchen kann. Dafür gibt es keine plausible Erklärung. Und wenn die Politik so eine Erklärung im Hinterkopf hat, müsste sie uns ihre Überlegungen darlegen. Das muss transparent sein. Wir haben Ostern keine Gottesdienste gefeiert, das Pessachfest auch nicht, die Muslime stehen mitten im Ramadan: Die Religionsfreiheit ist ein bedeutsames Grundrecht. Man muss über Lockerungen nachdenken – im Einvernehmen mit den Religionsgemeinschaften, die natürlich Hygienekonzepte vorlegen müssen. Wichtig ist, zu einem Fahrplan zu kommen. Den konnte sich die Bundesliga ja auch erarbeiten und mit den Verantwortlichen über die nächsten Schritte diskutieren, dann dürfen Gläubige das erst recht erwarten. Der Staat muss eine konkrete Perspektive anbieten, zumal das Bundesverfassungsgericht jüngst entschieden hat, dass ein generelles Gottesdienstverbot ohne Ausnahmemöglichkeit verfassungswidrig ist. 

Aber es wird ja gesungen in den Kirchen – und dabei kann man sich leicht anstecken.   

Da müssen die Kirchen kreativ sein. Was spricht dagegen, statt Gemeindegesang Instrumentalmusik oder Texte als Impulse einzubeziehen? Manche üblicherweise gesungenen Elemente der Liturgie lassen sich auch gemeinsam beten. Und beim Abendmahl oder der Eucharistiefeier kann man Brot in einer Schale und gegebenenfalls Wein in einem Becher gesondert an jeden Platz stellen. Geistermessen sind das viel größere Problem. Aus liturgiewissenschaftlicher Sicht ist es auf Dauer nicht akzeptabel, dass keine Gemeinde anwesend ist.  

Eine App soll helfen, die Ausbreitung zu verringern. Wer sie nutzt, bekommt einen Hinweis, wenn sie oder er Kontakt mit Infizierten hatte. Ist das mit den Grundrechten vereinbar?

Wenn so eine App freiwillig ist, halte ich sie für grundrechtskonform. Es darf keine Bewegungsprofile, keine Zuordnung der Daten zu konkreten Personen und keinen Zwang geben. Wie ich von Fachleuten höre, ist die Politik mittlerweile auf einem guten Weg. 

Und wie stehen Sie zur Maskenpflicht?

Auch hier sehe ich keinen Konflikt mit den Grundrechten, sofern es Masken für alle zu erschwinglichen Preisen gibt. Es muss allen Menschen möglich sein, sich damit auszurüsten. Sonst werden Geringverdiener am Ende doppelt benachteiligt, falls sie auch noch ein Bußgeld zahlen müssen. 

In Deutschland besteht Schulpflicht, der Staat delegiert diese Pflicht nun aber zu großen Teilen an die Eltern. Wie sehen Sie das?

Wir sind in einem Dilemma. Niemand weiß, welche Rolle Kinder bei der Verbreitung wirklich spielen, neueste Studien sprechen dafür, dass Kinder das Virus in ähnlicher Weise verbreiten können wie Erwachsene. Deshalb können wir uns leider nur vorsichtig an Schul- und Kitaöffnungen herantasten. Aber gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten laufen Gefahr, abgehängt zu werden. Entsprechendes gilt für Kinder aus kinderreichen Familien. Nicht jeder Haushalt hat drei Laptops zu Hause, an denen die Kinder lernen können. Die Frage nach der Wiedereröffnung von Schulen und Kitas ist daher auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Und eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit, denn nach wie vor sind es vielfach die Frauen, die langfristig ihren Job riskieren, wenn sie über Monate hinweg die Kinder zu Hause betreuen sollen und deshalb nicht nur Arbeit können. 

Wie stärken wir die Grundrechte, wenn wir die Corona-Krise hinter uns gelassen haben?

Das ist eine ganz schwierige und wichtige Frage. Die Antwort hängt auch davon ab, wie lange die Krise dauern wird, wie sehr die Wirtschaft und der Sozialstaat leiden. Ganz wichtig wird aber sein, die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger anzuerkennen. Die Bundes- und Landesregierungen müssen ihre Lösungsansätze zur Diskussion stellen, vor allem in den Parlamenten. Es muss gelingen, die Maßnahmen in der Krise nachvollziehbar zu gestalten. Wir alle, auch die Medien, sollten ein Gespür für Demokratie und Rechtsstaat wecken. Und eine Sensibilität dafür, was Grundrechte bedeuten und wie wichtig sie sind. Es ist nicht selbstverständlich, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde stellte ein Diktum auf: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Und zu diesen Voraussetzungen gehört, dass wir als Bürgerinnen und Bürger eine Wertschätzung für die Demokratie empfinden. Wenn wir unsere Grundrechte hoch schätzten, wäre viel geschafft. Auch mit Blick auf all die Fragen, die nach dieser Krise noch da sein werden: Wie gehen wir mit Geflüchteten um? Wie mit der Solidarität in Europa? Und wie mit dem Klimawandel?

 

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Nicht nur wenn man die Bibel liest und wirklich-wahrhaftig versteht/bekennt, dann kann es nur eine Perspektive für menschlich-vernunftbegabtes Zusammenleben "wie im Himmel all so auf Erden" geben:
Ein UNKORRUMPIERBARES Menschenrecht zu KOSTENLOSER Nahrung, MIETFREIES Wohnen und KASSEN-/KLASSENLOSER Gesundheit, denn wenn GRUNDSÄTZLICH alles Allen gehören darf, so dass die wettbewerbsbedingte Symptomatik "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei" keine Macht mehr hat, kann unser Zusammenleben GLOBAL OHNE Steuern zahlen, OHNE manipulativ-schwankende "Werte", OHNE irrsinnigen Zeit-/Leistungsdruck zu/in einer Karriere von Kindesbeinen organisiert (nicht regiert!) werden, usw. - Nichts gehört dem "Einzelnen/Individualbewusstsein" allein/wirklich wahrhaftig, sogar/besonders unsere Gedanken nicht, weil wir immer abhängig von Geist/Gemeinschaft geprägt wachsen/wachsen können.