Coming-out und Familie
Wenn Eltern negativ reagieren . . .
Dass manche Eltern negativ reagieren, ist normal - für den ersten Moment, sagt Beraterin Doris Gruber. Ihr saßen schon viele Menschen mit Elternkonflikt gegenüber, auch mit spätem Coming-out
Portrait Doris Gruber
Stefanie Kösling
Tim Wegner
29.01.2020
4Min

chrismon: So ein Beziehungsabbruch nach einem ­Coming-out ist hoffentlich selten, oder?

Doris Gruber: Ich habe hier in der Beratung viele Fälle mit Elternthematik, auch Fälle, in denen die Eltern das Kind verstoßen. Da verlangen die Eltern letztlich, dass die Person ihre Identität zurücknehmen oder verstecken soll. Es ist sehr, sehr verletzend, wenn die Eltern nicht irgendwann sagen: Ich hab zwar Schwierigkeiten damit, aber du bist als Mensch okay.

Dass Eltern im ersten Moment ablehnend sind, ist also nicht das Problem?

Es ist total normal, dass Eltern erst einmal irritiert, auch ablehnend oder verletzt reagieren. Aber wenn Eltern dann nicht bereit sind zu verhandeln, wie trotzdem eine Be­ziehung möglich sein kann, dann wird es schwierig.

Stefanie Kösling

Doris Gruber

Doris Gruber, 
Jahrgang 1968, ­leitet die Beratung bei der Lesben ­Informations- und Beratungsstelle LIBS e. V. in ­Frankfurt am Main.

Kommt es häufiger vor, dass jemand auch den Kontakt zu den Geschwistern abbricht?

Manchmal ist es möglich, zu einem der Geschwister ­Kontakt zu haben, aber manchmal ist der Schmerz oder das Gefühl, verraten worden zu sein, so groß, dass der ­Kontakt zur gesamten Familie abgebrochen wird. Da geht es auch darum, psychisch gesund zu bleiben.

Sind manche Väter vielleicht so ablehnend, weil sie 
eigene schwule Anteile verdrängen müssen?

Nein, das glaube ich nicht. Es reicht, dass jemand bestimmte Vorstellungen davon hat, wie das Kind zu funktionieren hat. Und wenn das Kind anders ist, dann schämt man sich für sein Kind. Wenn eine Scham sehr groß ist, bricht so jemand die Beziehung ab. Eine Vorstufe dieser Scham ist, wenn Eltern sagen: "Wir lieben dich trotzdem, du bist unser Kind. Aber das müssen ja nicht alle wissen!"

Wenn die Oma damit nicht klarkommt – soll der Enkel sie einfach mal mit seinem Freund besuchen?

Schocktherapie find ich nicht so gut. Oft brauchen ­Menschen einfach mehr Zeit. Wenn die beiden mit­einander reden können, kann man das Thema vielleicht öfter mal behutsam platzieren, auch wenn die Oma noch längere Zeit unangenehme Gefühle dazu hat. Vielleicht darf der Freund dann auch mal zum Kaffeetrinken mitkommen. Vielleicht wird er total der Liebling! Auch das habe ich schon gehört. Aber vielleicht schafft es die alte Frau auch nicht mehr in ihrem Leben.

"Auf dem Land sind lesbisch-schwule Lebensweisen oft noch unsichtbar. Erst recht dort, wo Rechtsextremisten wohnen"

Merkt man nicht schon früh, dass man schwul oder lesbisch ist?

Es gibt die Menschen, die in der Pubertät wissen, dass sie gleichgeschlechtlich orientiert sind. Dann gibt es die­jenigen, die es erst als junge Erwachsene merken. Frauen erzählen zum Beispiel: "Ich bin auf dem Dorf aufge­wachsen, das gab es da nicht! Ich habe mich nicht richtig verliebt, aber ich war dann mit einem jungen Mann zusammen." Und es gibt diejenigen, die heterosexuell leben, weil sie einen Lebensplan haben – Ehe, Kinder, Familie –, bei denen wird das Thema später aktuell. Sei es, weil die Ehe am Ende ist oder noch nie gut war, oder weil sie sich verlieben. Solche Coming-out-Geschichten ab 35 habe ich häufig in der Beratung.

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Haben auch ältere Frauen noch ein Coming-out?

Ja, einige. Wenn die Kinder aus dem Haus sind und mehr Zeit für Selbstreflexion ist. Vereinzelt sitzen bei mir auch Frauen, die noch älter sind. Die sagen: "Ich hab das eigentlich schon immer gewusst, aber das ging in meinem Leben nicht, und ich kann jetzt auch nicht meinen Mann verlassen. Aber ich wollte ein einziges Mal hierherkommen und darüber sprechen." Die kommen auch nicht aus Frankfurt, sondern von irgendwo. Weil es ganz geheim bleiben muss.

Homosexualität ist heute akzeptierter . . .

. . . deswegen können Menschen jetzt früher ein Coming-out haben. Vor allem in den Großstädten. Auf dem Land sind lesbisch-schwule Lebensweisen oft noch unsichtbar. Erst recht dort, wo Rechtsextremisten wohnen. Aber wenn es ein Paar gibt, das sozusagen Vorarbeit geleistet hat, gibt es schnell auch zwei, drei. Da wurde eine Eisschicht durch­brochen, die Leute kennen das dann, und meistens gibt es ja auch viele Nette, die darauf ganz normal reagieren.

Lesben und Schwule, die sich outen, hören oft: "Ach, das tut mir aber leid!"

Das ist eine typische Reaktion. Man denkt: Wenn man normal ist, ist man heterosexuell. Das heißt, wenn jemand homosexuell ist, stimmt was nicht. Selbst wenn Eltern ­eigentlich tolerant sind und aufgeklärt, zum Beispiel durch Fernsehberichte, reagieren sie oft sehr betroffen, wenn es um das eigene Kind geht. "Was haben wir falsch gemacht?" Es ist verstörend für die Eltern. Aber auch für die Person, die das Coming-out hat.

Wieso ist die Person selbst auch verstört?

Eine Frau denkt: "Oh Schreck, ich steh auf Frauen. Bin ich irre? Das ist unnormal!" Es ist ein großer innerer Prozess, sich der wahren sexuellen Identität bewusst zu werden. Und es ist verstörend zu merken, dass man den Er­wartungen an Normalität nicht entspricht. Da tut sich ja ein Minderheitenbewusstsein auf. Die Person muss sich überlegen: Wie schaffe ich es, mich damit als normal zu empfinden?

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Wenn jemand verheiratet ist und erst spät die lesbische oder schwule Identität erkennt – geht das immer sofort auseinander?

Es gibt die Trennung Knall auf Fall. Aber es gibt auch Paare, die sich gegenseitig Wertschätzung aussprechen: Wir sind eigentlich gut befreundet, wir vertrauen einander, wir sind auch stolz darauf, dass wir das gut hingekriegt haben mit den Kindern – und jetzt ist eine andere Zeit gekommen. Das ist der Idealfall.

Eine erste Version des Textes erschien am 28. November 2019.

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