Beim Kirchentag in Dortmund besuchte ich Ende Juni mit einer Gruppe aus unserer lutherischen Kirche aus Georgien abends ein Konzert. Doch meine Mitarbeiterinnen schauten ständig auf ihre Smartphones, wirkten nach dem Konzert durcheinander. Sie zeigten mir die Nachrichten, die sie aus der Heimat bekommen hatten: Viele aufgebrachte Menschen versammeln sich vor dem Parlament in Tiflis, die Polizei setzt Tränengas, Wasserwerfer und Gummi- geschosse ein. In dieser Nacht werden mehrere Hundert Demonstranten verhaftet, über 200 zum Teil schwer Verletzte im Krankenhaus behandelt.
Markus Schoch
Wie sich herausstellte, hatte eine interparlamentarische Versammlung orthodox geprägter Länder ihre Sitzung im georgischen Parlamentsgebäude abgehalten. Der Vorsitzende der Versammlung ist ein Abgeordneter aus Russland. Ausgerechnet er hielt eine Rede vom Platz des Parlamentspräsidenten aus. Der Vertreter eines Landes, das fast 20 Prozent des georgischen Staatsgebiets besetzt hält, sprach dort, wo vor 28 Jahren die Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion errungen wurde! Das brachte die Georgier in Rage, es kam zu Tumulten im Parlament und zu Ausschreitungen auf dem Platz vor dem Parlament.
Auch jetzt, einen Monat später, protestieren jeden Abend Menschen, nun aber friedlich. Vor allem die jungen Leute sind nach wie vor wütend. Sie sehen in Russland eine Gefahr für die Freiheit ihres Landes. Sie wünschen sich eine offene, liberale und demokratische Gesellschaft, die für sie Europa und vor allem Amerika verkörpern – wobei mir vor allem der Blick auf Amerika manchmal etwas zu naiv erscheint. Auch der Westen vertritt in dieser Region strategische Interessen.
Doch es gibt auch starke konservative und nationalistische Kräfte in Georgien. Für sie stellen die liberalen Werte des Westens eine Gefahr für die traditionelle georgische Gesellschaft dar, die sie bewahren wollen. Sie fühlen sich mit Russland nicht nur durch den orthodoxen Glauben verbunden. So ist es nach wie vor unklar, welchen Weg Georgien einschlagen wird.