Serie: Protestanten - Und nebenan ist der Kiez
Berlin-Rixdorf, evangelische Brüdergemeine, Pfarrer Christoph Hartmann
Anne Schönharting/Ostkreuz
Und nebenan ist der Kiez
Die Herrnhuter Gemeinde bewohnt ein idyllisches Dorf mitten in Berlin-Neukölln. Man könnte so schön unter sich bleiben. Aber das wollen sie gar nicht.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
18.06.2019

Männer mit nacktem Oberkörper, Frauen in Trägertops, und ein Yogatrommler trieb die ­barfuß Tanzenden auf dem dunklen Parkett an. Dazu blies ein Didgeridoo-Spieler. Ein Geiger schrappte auf seinem Instrument herum, als wäre es eine Gitarre. Und mitten drin: der Pfarrer der Brüdergemeine, Christoph Hartmann, 54, ein drahtiger Typ mit kahlrasiertem Schädel, dichten Augenbrauen und durchdringendem Blick.

"Ecstatic Dancing", Pfarrer Hartmann schwärmt noch heute vom Tanzabend im Versammlungssaal der Brüder­gemeine. Wie sich der Organist der Gemeinde bereit erklärt hatte, um 22 Uhr von der Empore Orgelmusik einzuspielen, es war alles mit der Percussiongruppe abgesprochen. Wie der Trommler um 22 Uhr einfach weiterhämmerte, und der Organist saß und auf seinen Einsatz wartete. Die Minuten verrannen, es war Viertel nach, halb, drei viertel, die Leute tanzten und tanzten, und Hartmann habe nur gebangt: "Hoffentlich ist unser Organist nicht verärgert." Erst eine Stunde später wurde es ruhiger. "Und dann setzten die Orgelklänge ein", sagt Hartmann. "Es war eine Spannung im Saal, die ich so vorher nie erlebt habe."

Ein idyllisches Dorf, umgeben von veganen ­Restaurants und Shishabars

Die Feier ging bis drei oder vier. Die Leute tanzten ­unten auf dem Saalparkett und oben auf den Bänken der Empore. Eine Holzbank ging zu Bruch. Am nächsten ­Morgen um zehn waren Hartmann und der Organist pünktlich zum Gottesdienst wieder da. "Ich dachte nur: Oje, was wird der Winfried erzählen?", sagt Hartmann. Dann sah der ­Pfarrer, wie nach dem Gottesdienst Gemeindemitglieder auf ihn zugingen. Und der Organist erzählte vom Vor­abend: Er habe so etwas noch nie erlebt, dass Leute seine Orgelmusik so aufgesogen hätten!

Christoph Hartmann steht im Kirchsaal der Herrn­huter Brüdergemeine in Neukölln-Rixdorf, die Hände in die Hosentaschen vergraben, den Oberkörper vornüber­gebeugt, und wirkt noch ganz entrückt. "Das hat mir deutlich gemacht, was passieren kann, wenn Leute aus völlig unterschiedlichen Welten zusammenkommen."

Serie Protestanten

Waldenser 

Brüdergemeine

Lutheraner

Reformierte

Mennoniten

Baptisten

Quäker

 

Die Brüdergemeine öffnet sich für andere, nicht nur gegen Miete, auch um die anders- und nichtgläubigen Nachbarn ins zu Haus holen, wie beim "Ecstatic Dancing" – das fällt nicht unbedingt leicht. Vor allem dann nicht, wenn man selbst in einem idyllischen Dorf lebt, umgeben vom Großstadtbezirk Berlin-Neukölln mit seinen veganen ­Restaurants und Shishabars, wo sich exzentrische Kreative hingezogen fühlen und wo sich kriminelle libanesische Clans breitmachen.

Mitten in Neukölln das Böhmische Dorf. Von hier sind es nur wenige Schritte bis ins Herz des Multikultiviertels

Böhmisch-Rixdorf liegt zwischen zwei großen Verkaufsstraßen mit Ein-Euro-Shops und Dönerläden, zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße. Die Hälfte der Einwohner in diesem kleinen Ausschnitt von Neukölln haben nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Sieben von zehn Kindern stammen aus Einwandererfamilien.

Das Dorf mutet an, als wäre es irgendwo in Brandenburg oder Mecklenburg: schmale Kopfsteingassen, eingeschossige Giebelhäuser, ein Dorfplatz unter Ahorn- und Lindenbäumen, eine alte Schule aus dem 18. Jahrhundert, jetzt zum Museum umgebaut, eine alte Schmiede, ein ­Traditionsfuhrgeschäft.

Früher missionierten die Herrnhuter in der Karibik, heute in Neukölln

Einladend sein: Das gehörte schon immer zum Lebenskonzept der Herrnhuter. Früher zog es die streng egalitären und herzensfrommen Brüder bis nach St. Thomas in Westindien (heute die britischen Virgin Islands in der Karibik), wo sie ihr christliches Leben mit den Heiden teilten, wo sie sich aus Solidarität mit Sklaven selbst als Handlanger auf Plantagen verdingten. Heute findet man sie mitten im entchristlichten Großstadtchaos. Von früh bis spät donnern Lieferwagen über den Richardplatz, ­rennen Schulkinder durch die Kirchgasse, kreuzen ­arabische ­Jugendliche in Luxuslimousinen übers Pflaster, radeln Ökos auf Lastenrädern durchs Dorf.

In einigen Gehöften wohnen noch heute Nachfahren der Glaubensflüchtlinge aus Böhmen, die vor 300 Jahren Rixdorf besiedelt hatten, radikalpazifistische Anhänger des 1415 hingerichteten Reformators Jan Hus. Nach Reformation und Dreißigjährigem Krieg schlossen sie sich den Lutheranern an, wurden wieder und wieder vertrieben, bis sie Anfang des 18. Jahrhunderts in Herrnhut bei ­Görlitz und in Rixdorf bei Neukölln eine Heimat fanden. Der ­pietistische Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf prägte ihre "vorsichtige Art, für den Heiland Seelen zu ge­winnen". Es müsse so sein, sagte Zinzendorf, "dass die Seele, die man auffordert, auch gerne mitkommt."

Herrnhuter singen viel: in Hosiannastunden, beim Abendmahl, bei Beerdigungen

Und er entwickelte einen Gemeinschaftsgeist, der bis heute fortwirkt. Die Rixdorfer Gemeinde hat gut 450 ­Mitglieder. Die wenigsten wohnen in Rixdorf selbst. Sie verstehen sich als Geschwister und duzen einander – auch wenn sie über Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-­Vorpommern verstreut leben. Während der 38 Jahre ­Trennung durch die Mauer hielten sie Verbindung wie ­eine große Familie. Man traf sich in Polen zu Rüstzeiten. Seit der Wende feiern sie ihre Gottesdienste wieder gemeinsam in Rixdorf. Und sie singen viel, auch beim Abendmahl, wenn andere Protestanten feierlich schweigen. In Singstunden werden biblische Verse durch Lied­strophen aus Chorälen ausgelegt. In den Hosiannastunden am Palmsonntag und zu Beginn der Passionszeit singen Chor und Gemeinde einander das Hosianna zu.

Stirbt ein Bruder oder eine Schwester, gedenkt die ­Gemeinde des Toten im Versammlungssaal. Ein ­Lebenslauf wird verlesen, den der oder die Verstorbene zu ­Lebzeiten verfasst hat. Früher folgte ein Posaunenchor dem Sarg zum Gottesacker, dem Friedhof der Brüdergemeine, und spielte Choräle. Heute würde eine Prozession auf dem Richardplatz nur Autofahrer zu Hup- und Schimpftiraden provozieren. Also lässt man es. Der Gottesacker ist von fünf- bis sechsstöckigen Wohnblocks umgeben. Die Toten werden in Reihe beerdigt, einer nach dem andern, wie sie sterben, Frauen auf der einen, Männer auf der anderen Seite. Familiengräber gibt es nicht. Die ganze Gemeinde ist eine Familie.

Und jetzt das: Trommelrhythmen und ekstatischer Tanz in der guten Stube.

Mit frischem Wind forschen: Henning Vierck, Gründer des Comenius-Gartens, und die neue Leiterin Neele Illner an einem der Hochbeete für Kinder

Birgitt Fricke blättert durch einen Stapel ­Fotos. Auf jedem Bild das Gleiche: weiße ­Säle mit Emporen und geschreinerten weißen ­Bänken im Halbkreis. Man muss zweimal hinsehen, um Unterschiede wahrzunehmen. Mal sind die Fenster höher, mal die Emporen breiter. Es sind Säle der Herrnhuter Brüdergemeine: in ­Bethlehem / Pennsylvania, in Christiansfeld / Dänemark, in Neu​gnadenfeld / Emsland, in Herrnhut / Sachsen. Die Herrnhuter haben sich über die ganze Welt verbreitet. "Und egal, wo man Gottesdienst feiert", sagt Birgitt Fricke, "überall fühlt man sich gleich zu Hause." Birgitt Fricke, 64, gehört zum Ältestenrat der Gemeinde. Sie wuchs in Neugnadenfeld nahe der deutsch-niederländischen Grenze auf. Weil ihr Mann Klaus Arbeit in Berlin fand, zog sie in den 1980er Jahren her. Heute lebt das Paar in Treptow-Köpenick.

Viel mehr als die geschreinerten weißen Bänke, die Orgelpfeifen und der Predigerstuhl ist auch im Versammlungssaal von Böhmisch-Rixdorf nicht zu sehen: kein Kreuz, keine Bilder, keine Kanzel, kein Altar. Umso mehr stören Birgitt Fricke Einzelheiten, die nicht stimmen. Wenn die Bänke an die Seite geräumt und durch Plastikstühle ersetzt werden. Oder wenn der Saal Sonntagfrüh nach Essen riecht, weil hier am Vorabend Hochzeit gefeiert wurde. Der Saal, so zitiert sie den pietistischen Grafen Nikolaus von Zinzendorf, "ist die gute Stube der Gemeinde".

Es tut den Herrnhutern gut, sich dem Multikulti und den Ideen der Kreativen auszusetzen

Allein schon wegen der Mieteinnahmen muss sich die Gemeinde in Böhmisch-Rixdorf öffnen, das sieht auch ­Birgitt Fricke so. Der kleine Saal im Nebengebäude, wo früher der Chor probte, wenn der große Saal belegt war, ist daher an eine Praxis für Ergotherapie vermietet. Die wenigen Gemeindemitglieder schaffen es nicht mehr mit ihren Spenden, Gebäudeerhalt und Pfarrgehälter zu stemmen.

Aber nicht nur wegen des Geldes muss sich die Brüdergemeine öffnen, auch da sind sich Christoph Hartmann und Birgitt Fricke einig. Es tut ihr gut, wenn sie sich den Ideen der Kreativen aussetzt, wenn sie Multikulti aus dem Stadtteil schnuppert. "Im Gottesdienst fehlt die Jugend", sagt Fricke, "gut, dass der Saal wieder so belebt ist."

Aber während Christoph Hartmann die Brüdergemeinde wieder für andere sichtbar machen will, ist Birgitt Fricke mehr auf das bedacht, was die Gemeinde zusammenhält. Man könne sich selbst besser darstellen, sagt sie, wenn die Fotos aus dem Gemeindeleben im Eingangsbereich statt im Seitentrakt aushingen: Bilder vom Pfarrer in weißer Albe, von Frauen mit Häubchen und Schürtzchen, vom ­Posaunen- und Kirchenchor, vom Weihnachtsbaum unterm Herrnhuter Stern. "Das wird hier an den Rand geschoben", klagt sie, "weil es nicht mehr zeitgemäß aussieht." 

"Herrnhuter verkaufen kein besonderes Heil. Sie teilen ein Erlebnis."

Hartmann ist selbst Pfarrerskind, das jüngste von neun. Seine Familie war herrnhuterisch. Aber der Vater arbeitete in Dresden für die sächsische Landeskirche. Als Jugendlicher hatte sich Christoph immer an der abstrakten Theologie seines Vaters gerieben. Er studierte Theologie, auch weil er anders Pfarrer sein wollte.

Er sagt Sätze wie: "Herrnhuter verkaufen kein besonderes Heil. Sie teilen ein Erlebnis." Und: "Die Brüdergemeine hat sich nie nach außen abgegrenzt. Sie hat mit den Nachbarn ihr Leben geteilt. Sie hat durch die Gravitationskraft gewirkt, und nicht, indem sie sich als etwas Besseres verstand." Als Christoph Hartmann Pfarrer wurde, konnte er solche Überlegungen in die Tat umsetzen.
Damals war die Rixdorfer Brüdergemeine fast schon so weit, Gebäude zu verkaufen. Hartmann wollte erst einmal geklärt haben, was die Brüdergemeine überhaupt ausmacht, was sie künftig sein wolle und was sie mit ­ihrem Immobilienbestand anfangen wolle. Nach langen Debatten wurde beschlossen: Auf ihrem Grundstück in Böhmisch-Rixdorf entsteht ein Forum der Begegnung und des Dialogs, wo sich Menschen und Initiativen aus dem Kiez austauschen und voneinander lernen.

Nachbarschaft in Berlin-Neukölln. Pfarrer Hartmann im Gespräch

Vier Gemeindemitglieder und vier Externe bestimmen, wer den Saal kostenfrei nutzen darf. Es sollten Leute sein, die ein Problem aus dem Kiez adressieren, eine schlüssige Botschaft vertreten, etwas zu sagen haben und auch den Austausch suchen. Außerdem sollte sich jeder Veranstalter selbst um das Saalmanagement kümmern.

Die Idee überzeugte. Die Europäische Union förderte das Projekt mit einer halben Million Euro, um Saal und Grundstück zu sanieren. Dafür muss die Gemeinde den Raum und den Garten dahinter für den Kiez zur Ver­fügung stellen. Niemals hätte sie selbst so viel Geld ­aufbringen können. Christoph Hartmann sieht in der Auflage eine Chance. "Christlicher Glaube verkümmert ohne Austausch zur bloßen Behauptung und destruktiven Besserwisserei." Auf diesen Satz im Flyer der Brüdergemeine in Berlin ist er besonders stolz.
2015 waren Saal und Grundstück saniert. Seither gab es diverse Lichtinstallationen, drei Meditationsworkshops mit anschließendem Tanzabend, Ecstatic Dancing und ­Kiezkonzerte für Familien. Passaporte kam mehrmals in den Saal, ein Verein, der Flüchtlingen hilft, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden – einmal mit einer Modenschau von Geflüchteten. Es gab ein Festival für Musik und ­Stimme, und man beteiligt sich mit Ausstellungen an dem Kiezfestival "48 Stunden Neukölln". Mittlerweile ist der Saal der Herrnhuter im Bezirk gut bekannt, auch im Rathaus bei den Sozial- und Kulturbehörden.

"Christlicher Glaube verkümmert ohne Austausch zur destruktiven Besserwisserei"

Auch die Grünfläche hinterm Saal wurde neu gestaltet. Das Gelände ist offen zugänglich. Für Jugendliche aus der Nachbarschaft steht eine Tischtennisplatte bereit. Auf dem Rasen kickt Pfarrer Hartmann manchmal mit Kindern aus der angrenzenden Kita. Anwohner haben Beete bepflanzt, ein Bruder aus der Gemeinde weist die Grünflächen zu.

Manchmal reißen Jugendliche noch Pflanzen aus. "Man muss die Leute ansprechen, die das tun", sagt Birgitt Fricke, "aber das passiert ja meistens nachts." Traut sie sich denn wirklich, nachts Jugendliche vom Kiez anzusprechen? "Ja", sagt sie. "Außer wenn ein Kampfhund dabei ist. Aber die sind ja aus der Mode gekommen." Birgitt Fricke findet aber nicht, dass das Gelände nun unsicherer sei als vorher. Im Gegenteil: Die Gartenanlage ist viel schöner. Und der Saal ist nicht nur gerettet. Er wird auch genutzt.

"Ich finde es cool, dass hier keine Kreuze hängen. Und dass hier jede Kultur willkommen ist"

Heute ist arabischer Kulturabend im Versammlungssaal der Brüdergemeine. Passaporte hat eingeladen. Und die Brüdergemeine ist bei sich zu Gast.
Firas Alshatar liest aus seinem neuen Buch und zeigt ­seine Filme. Der syrische Youtuber floh 2015 nach Deutschland, startete bald einen Youtube-Kanal, mit Erfolg. Er witzelt über deutsche Wörter wie "Rentenver­sicherung" und "erhöhtes Beförderungsentgelt". Er zitiert aus Stefan Zweigs "Die Welt von gestern", wie man vor dem Ersten Weltkrieg ganz ohne Papiere bis nach Indien reisen konnte. Er zeigt ein Video, wie er selbst auf dem Alexanderplatz mit verbundenen Augen steht, neben sich ein Schild, "Ich bin syrischer Flüchtling. Umarme mich", und wie die Leute erst zögern, ihn dann aber nach und nach umarmen, bis er sich vor Umarmungen gar nicht mehr retten kann. Ein witziger Clip, Chris­toph Hartmann steht hinten im Saal und lacht.

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Eine Riege junger Firas-Fans hat sich in die erste Bankreihe gesetzt. Eine von ihnen krault einen Hund auf ­ihrem Schoß. Im Laufe des Abends wird er sich loseisen und über die Bühne tapsen. In der vierten Reihe recken zwei Afghanen ihre Hälse, Birgitt Fricke kennt sie aus dem arabisch-deutschen Sprachcafé. Neben Fricke und ihrem Mann sitzt eine junge Muslimin mit blauem Kopftuch.
"Und die Grauhaarigen dazwischen", sagt Birgitt Fricke mit einem ironischen Lächeln, "die sind aus unserer ­Gemeinde." Schwester Cornelia hat sich in eine hintere ­Bankreihe gesetzt. Bruder Theodor, Bischof der Unität im Ruhestand, lauscht von der anderen Saalseite aus.

Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz, 53, war einmal im Theater Heimat­hafen an der Karl-Marx-Straße zu Gast. Er ahnte nicht, dass das Böhmische Dorf gleich dahinter ist.

Anne Schönharting

Der Comenius-Garten erinnert die Fotografin Anne Schönharting an das englische Kinderbuch "Der geheime Garten" – und der liebenswürdige Herr Vierck ist der weise Gelehrte.

Wissen Firas’ junge, weibliche Fans überhaupt, in was für einen Saal sie geraten sind? Sie sind zwar alle sechs in Neukölln und Kreuzberg aufgewachsen. Das Böhmische Dorf kannten die jungen Frauen dennoch nicht. Doch dass der Saal hier der Gottesdienstraum der Brüdergemeine ist, das haben sie durchaus mitbekommen. "Ich finde es cool, dass hier keine Kreuze hängen", sagt die mit dem Schoßhund. "Die hängen sonst überall. Ich finde es gut, dass das ein Ort ist, wo jede Kultur willkommen ist."

Ein Ort, an dem die pazifistische Grundhaltung zur Geltung kommt

Ausstrahlen auf andere, ein Gravitations­zentrum werden – und sich als Brüdergemeine zu erkennen zu geben, ohne altbacken zu wirken, wie geht das? Schon Christoph Hartmanns Vorgänger haben sich darüber Gedanken gemacht. Einer von ihnen, Pfarrer Albert Schönleber, hatte Anfang der 1990er Jahre zusammen mit einem Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ein Brachgrundstück in Rixdorf in einen Garten umgewandelt, den Comenius-Garten.

Es sollte ein Ort sein, an dem die gerade pazifistische Grundhaltung der Brüdergemeine wieder zur Geltung kommt. Ein Ort, der dem einstigen Bischof der Böhmischen Brüder, Johann Amos Comenius, gewidmet ist, einem genialen Friedenspädagogen aus der Zeit des Dreißig­jährigen Krieges. Seine Schriften hatten einst die böhmischen Glaubensflüchtlinge im Gepäck, als sie 1837 in Rixdorf ankamen.

Heute ist der Garten eine Institution und der Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut, Henning Vierck, eine Autorität: ein gebückter älterer Herr mit weißem ­Rauschebart, den alle Kinder aus dem Viertel kennen – von Kita- und Schulbesuchen im Garten, von nachmittäglichen Spielen mit großen Geschwistern.

Vierck hat Zugang zu Familien, zu denen sich Sozialarbeiter nur mit Polizei trauen

Schon seit Jahren betrachten Anwohner den Garten als Grundstück für alle. Man hält sich an die Regeln. Es gibt Öffnungszeiten. Nachts bleibt der Garten leer, obwohl der Zaun leicht zu überwinden wäre. Obstbäume werden ­selten beschädigt, die Naturwiesen kaum betreten, ­Kinder bleiben mit ihren Rädern auf den Wegen. Und wenn ein Ball verspringt, staksen sie vorsichtig durch das hohe Gras, um ja keine Mohn- oder Kornblumen zu ­brechen. Jugendliche Gangmitglieder aus Neukölln treffen sich im Pavillon, gewaltsam ausgetragener Streit gehört hier nicht hin.

Nur zweimal in den 27 Jahren seines Bestehens gab es Vandalismus im Garten. Einmal zerstörte jemand die ­Informationskästen über Comenius’ Pädagogik. Die ­Polizei identifizierte den Randalierer als Jugendlichen aus dem reichen, bürgerlichen Zehlendorf. Ein anderes Mal sprayte jemand ein Graffiti an eine Außenmauer. Auch er, ist ­Vierck überzeugt, stamme nicht aus dem Viertel.
Der Comenius-Garten soll ein Ort sein, an dem Kinder die Natur beobachten und erkunden. "Eine Schule des ­Lebens", sagt Vierck. Er selbst lernt von den unverstellten Beobachtungen und Gedanken der Kinder. Aber Außenstehende, die für den Stadtbezirk arbeiten, sehen in Vierck mehr: Er habe Zugang zu schwierigen Familien, in die sich Sozialarbeiter nur noch in Polizeibegleitung hineintrauen, sagt Arnold Mengelkoch, bis 2018 Integrationsbeauf­tragter in Neukölln. Vierck genießt den Respekt von Quartiersmanagern, Flüchtlingsbeauftragten, Bürgermeistern.

Richtig leben. Niemanden belehren. Offen und einladend sein

Viercks Stimme hat im Bezirk Gewicht, auch wenn der 71-Jährige sein Lebenswerk längst der Leitung einer jungen Frau aus dem Viertel anvertraut hat: einer zweifachen Mutter mit sanfter Stimme, die schon seit 2012 im Garten ein- und ausgeht. Und Vierck sichert den Fortbestand des Gartens durch eine Stiftung ab. Er orientiert sich am Pazifisten Johann Amos Comenius, dem letzten Bischof der Böhmischen Brüder. Der Herrnhuter Brüdergemeine gehören er und seine Nachfolgerin allerdings nicht an.

Wie die Böhmischen Brüder einst nehmen Comenius-Garten und Brüdergemeine auch heute am Leben der Nachbarn Anteil. Und wie sie halten sie an alten Überzeugungen fest. Vierck und seine Nachfolgerin orientieren sich an Comenius’ Schriften, die Brüdergemeine pflegt Zinzendorfs Erbe.
Sie führen ihr Leben, wie sie es für richtig halten. Und sie belehren und missionieren niemanden. Man ist offen und einladend und teilt den Alltag. Das reicht.

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