Es könnte ein ganz normaler Kinoabend unter Freunden sein. Vier junge Leute, drei Männer und eine Frau, treffen sich im Foyer des "Movies" in Hofheim am Taunus. Die Frau hält eine Tüte Popcorn in der Hand. Aber nur drei von ihnen setzen sich in die vierte Reihe. Der andere, Wilhelm Otto Klaus Schultze, 23 Jahre alt, weiß-grau-schwarzer Kapuzenpulli und Jeans, muss in Reihe 5 – dort sind Plätze für die Bürgermeisterkandidaten reserviert. Bevor der Film anfängt, stellt Olaf Bertko, Sprecher der Bürgerinitiative "Gegenwind", die Lokalpolitiker kurz vor. "Ich begrüße den selbst ernannten ‚König von Lorsbach‘, Wilhelm Otto Klaus Schultze!", ruft Bertko, als Schultze an der Reihe ist. Den Ärger, der kurz in ihm aufsteigt, lächelt Schultze weg, als er aus seinem Kinosessel aufsteht und den 180 Menschen im Saal zuwinkt. Sie klatschen laut. Schultze will nicht mehr nur König sein. Er will Bürgermeister werden.
König von Lorsbach? Als "Willi", wie ihn Freunde nennen, auf der Terrasse seiner Eltern im Hofheimer Ortsteil Lorsbach grillte, fast fünf Jahre ist das her, sah ein Kumpel ihn dort, am Hang, mit Panorama übers Rhein-Main-Gebiet, stehen und sagte: "Du musst dich ja fühlen wie ein König!" Schultze blieb dabei – und erklärte Lorsbach gleich noch zur Landeshauptstadt Hessens. Es gibt kleine gelbe Aufkleber, Ortsschildern nachempfunden, auf denen das so steht. Weil ein König sein Volk kennen sollte, zog Schultze mit einem Freund los und interviewte interessante Menschen für die Facebookseite "Mensche von Lorsbach". "Ich war erstaunt, was für Persönlichkeiten ein paar Hundert Meter entfernt leben", sagt Schultze. Die Gespräche wurden sehr gut geklickt, dann blieb neben dem Studium keine Zeit mehr, sie zu führen. Aber die Aktion hatte Schultze noch mal gezeigt, dass er gut mit den Leuten kann. Und dass die Menschen ihn mögen. Manchmal rufen die Kinder: "Da kommt der Könisch!", erzählt Schultze. Wenn ein "G" am Wortende steht, macht er ein "Sch" daraus, so ist das in Hessen.
Fallschirmspringen? Weltreise? Schultze wünschte sich als Abiturient: als Bürgermeister kandidieren
Schultze studiert Medien- und Kommunikationsmanagement – anfangs in Köln, mittlerweile aber in Idstein, das ist ganz in der Nähe von Hofheim. Als er an seiner Bachelorarbeit schrieb, grübelte er, wo er mal arbeiten könnte. Ihm fiel die Abizeitung ein; alle aus Schultzes Jahrgang hatten darin eine Frage beantwortet – "Was wollte ich immer schon mal machen?". Viele schrieben ganz ähnliche Dinge – Fallschirmspringen, Weltreise, so was. Bei Schultze steht: "Als Bürgermeister kandidieren." Als die Hofheimer Bürgermeisterin voriges Jahr erklärte, nicht wieder zu kandidieren, dachte Schultze: Da kommt eine Wahl, in der niemand einen Amtsbonus hat.
Und längst hatte der Hessische Landtag in Wiesbaden beschlossen, dass Bürgermeisterkandidaten jünger als 25 Jahre sein dürfen. Was Schultze noch fehlte, waren 90 Unterschriften von Unterstützern. Er brachte fast 100 zur Wahlleiterin, sicherheitshalber. Neujahr erklärte er seine Kandidatur mit einem Video auf Youtube. Die Szene, in der er sich an den Satz in der Abizeitung erinnert, hat er dafür nachgestellt. Dann singt "JanicVer$aci", ein Rapper und Freund von Schultze:
"Wilhelm Otto Klaus ist seit jeher ein bekannter Typ / Der früher schon zuhauf manche Lehrer in den Wahnsinn trieb / Und, ja, ich kenn ihn auch, fast 10 Jahre eben, echt krass / Er hat keine Feinde, jau, weil er es jedem recht macht / Und Wilhelm hat ein’ Traum, ja, Willi has a dream / Nicht von scharenweise Frauen oder Sachen von Supreme . . ."
Später singt auch Schultze:
"Ja, ich bin noch jung, und ich komm nicht aus der Politik / Doch hab’ lauter Ideen, die man woanders so nicht sieht / Und ich habe den Mut, demnächst für eine ganze Stadt zu stehen / Während andre in mei’m Alter weiter rumliegen und Netflix sehen."
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Dazu ziehen beide tanzend durch die Hofheimer Straßen. Wer nur das Video sieht, könnte an eine Spaßkandidatur glauben. Aber Schultze meint es ernst. Das Video verlinkt auf sein Wahlprogramm. Der Bahnhof in Lorsbach muss endlich saniert werden. Hofheim soll Vorreiter werden bei der Digitalisierung. Schultze will bezahlbaren Wohnraum schaffen, besonders für Familien. Und der Hebesatz für die Gewerbesteuer soll runter, damit Hofheim attraktiv wird für Unternehmen. "Die Themen in der Stadt sind recht klar", sagt Schultze, "alle greifen sie auf, deshalb wird es eine Personenwahl." Darauf setzt er.
Im Hofheimer Kino geht es um ein Thema, das sich keiner der sieben Kandidierenden ausgesucht hat: Windkraft. Zwei Prozent der hessischen Landesfläche sollen Vorranggebiet für Windkraft werden, ein Wald am Rande des Stadtteils Langenhain soll dazugehören. Deshalb hat die Bürgerinitiative "Gegenwind" Jörg Rehmann eingeladen, der mit seinem Film "End of Landschaft" durch Deutschland tourt. Hinterher sollen die sieben Kandidierenden diskutieren. Schultzes erster Wahlkampftermin.
Eine Minute ist kurz, aber lang genug, um einen Fehler zu machen
Ist er nervös? "Jeder Kandidat", sagt Schultze, "soll nur ein Statement von einer Minute abgeben. Das ist nicht viel – aber immer noch genug, um Fehler zu machen." Der Film dauert zwei Stunden und vermittelt den Eindruck, dass das Land mit Windrädern vollgestellt wird. Als er zu Ende ist, steht Schultze fast ganz links vor der Leinwand, fünf Konkurrenten sind vor ihm dran, alle reden länger als eine Minute. Viel Zeit, um nervös zu werden. Schultze hat immer rote Wangen, als komme er gerade aus der frischen Luft. Jetzt sind sie noch röter. Er scheint nicht so recht zu wissen, wie er die Arme halten soll. Fast alle sind gegen Windräder. Als Schultze endlich an der Reihe ist, sagt er. "Mein Name ist Wilhelm Schultze, ich trete parteilos zur Wahl an und habe in der Schule gelernt, dass es eine Kunst ist, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Deswegen möchte ich unter einer Minute bleiben: Die Politik hat drei Aufgaben: dass die Menschen im Einklang miteinander leben können. Dass die Natur im Einklang mit sich selbst bleibt und dass Natur und die Menschen im Einklang miteinander leben können. Wenn Projekte das verhindern, kann ich nicht dahinterstehen, deswegen bin ich gegen Windkraftanlagen in Langenhain." Der Applaus ist freundlich und durchaus kräftig – vielleicht auch weil es spät geworden ist und sich endlich mal jemand kurz fasst. Die Fragen der Zuhörer nach den Statements richten sich an den Regisseur und andere Kandidaten. Schultze hat keinen Fehler gemacht, das war sein Ziel.
Noch gehört das Büro, in das Wilhelm Schultze gern einziehen würde, Gisela Stang. Sie ist seit 18 Jahren Bürgermeisterin in Hofheim. Die SPD-Politikerin will sich zu keinem der Kandidaten äußern, auch zu Schultze nicht, das fände sie unfair. Aber über ihr Amt reden, das will sie. Stang war selbst erst 31 Jahre alt, als sie Bürgermeisterin wurde. Alles war neu, für sie, aber auch für die Stadt, die jahrzehntelang von der CDU dominiert worden war – und von Männern. "Man sollte vorher schon Erfahrung im Projektmanagement haben. Dass ich damals jung war, haben viele als erfrischend wahrgenommen."
In den Kommunen entscheidet sich, ob der Staat funktioniert
Wenn Stang über ihre Arbeit redet, geht es um Menschen. Die müsse man mögen. "Schnell mal über den Wochenmarkt gehen, das funktioniert nicht." Die Fotos zu runden Geburtstagen, wenn eine Hofheimerin 90 wurde, die Empfänge – das ist nur der sichtbare Teil ihrer Arbeit, erzählt die Bürgermeisterin. Die meiste Zeit kosteten die vielen Kompromisse. 18 Jahre lang musste Gisela Stang moderieren, aushandeln, diskutieren, wenn sie im Stadtparlament etwas erreichen wollte. Kommunalpolitik ist eben nicht piefig. "Wenn die Menschen abends in den TV-Nachrichten Berge aus Plastikmüll sehen, fühlen sie sich ohnmächtig. Aber wer hier in der Stadtverordnetenversammlung sitzt, kann darüber mitbestimmen, ob wir es schaffen, unser Stadtfest plastikfrei zu machen", sagt die Bürgermeisterin. Sie findet, dass ihre Kolleginnen und Kollegen eine hohe Verantwortung haben. "In den Kommunen entscheidet sich, ob der Staat funktioniert."
Kann Schultze diese Verantwortung tragen, mit 23 Jahren? Moderieren, Mehrheiten suchen – Schultze sagt, das passe gut zu ihm. Seine Logik: "Ich liebe diese Stadt so sehr, dass ich mich maximal für sie einsetzen würde." Und: "Wir haben zum Glück eine Demokratie, in der es Abstimmungen gibt, die man gewinnen muss. Man ist als Bürgermeister nie allein, sondern eingebunden."
In Hofheim hört man immer wieder, dass der CDU-Kandidat Christian Vogt der Favorit sei. Bevor Stang das Amt eroberte, war Hofheim fest in CDU-Hand, die Partei ist motiviert, endlich wieder eine Mehrheit zu holen. Vogt ist Jurist und arbeitet in der Landesverwaltung. Bei der Landtagswahl im Herbst holte die CDU in Hofheim 33,7 Prozent der Erststimmen. Aber Schultze glaubt trotzdem an seine Chance, vielleicht reicht es ja für die Stichwahl im April, wenn kein Kandidat in der ersten Runde über die Hälfte der Stimmen holt? "Dann ist alles möglich", sagt Schultze. "Wenn man an einem Wettbewerb teilnimmt, will man auch gewinnen. Ich spiele ja auch nicht Fußball, um zu verlieren." Und wenn er doch verliert, dann hätte er immerhin viel gelernt. Und er hätte ziemlich sicher Menschen zur Wahl gebracht, die sonst nicht gegangen wären. Schultze wischt auf seinem Smartphone herum und zeigt die Nachricht eines jungen Mannes, Tayfun, den er persönlich nicht kennt, auch wenn sie 16 gemeinsame Freunde auf Facebook haben. "Meine Stimme hast du!", schrieb der ihm. Schultze sagt: "Wenn am Ende wegen mir nur einer mehr zur Wahl geht, hat sich alles gelohnt." Das kann er schaffen, nur jeder zweite Hofheimer ging 2013 zur Bürgermeisterwahl. Weil es in diesem Jahr sieben Bewerber gibt, könnte das Interesse an der Wahl steigen. Einen Mangel an Kandidaten gab es in Hofheim nie. Die Kreisstadt, die zwischen Wiesbaden und Frankfurt am Fuße des Taunus liegt, ist ein charmanter Ort mit schönen alten Häusern im Zentrum; sie ist attraktiv – auch für potenzielle Bürgermeister.
Wenn nur ein Mensch mehr zur Wahl geht als 2013, ist Schultze zufrieden
Seit Wilhelm Schultze seine Kandidatur erklärt hat, könnte jede Party Wahlkampf sein, auch an diesem kalten Freitagabend in Lorsbach. Ein Freund von Schultze feiert Geburtstag, in einem Gewölbekeller im ehemaligen Lorsbacher Rathaus. Wie passend, um für ein paar Stimmen zu werben. Aber das will Schultze gar nicht. "Ich will Bürgermeister werden, nicht Jugendvertreter." Lange bleiben kann er auch gar nicht, wegen der Klausur am Samstagmorgen um halb neun, Thema Buchführung, Jahresabschluss und Kostenmanagement. Die Stimmen der Gäste wären ihm wohl ohnehin sicher, nur sind viele hier nicht mehr wahlberechtigt, weil sie weggezogen und nur noch an Wochenenden zu Hause sind. Aber wer sich umhört, erfährt, dass Wilhelm Otto Klaus Schultze so eine Art Menschenfänger sein muss, ein Naturtalent. "Von Willi hatte man immer schon gehört", sagt einer, "er stand im Mittelpunkt, ohne die Aufmerksamkeit zu suchen." Ein anderer Kumpel ist so beeindruckt, dass er noch weiß, bei welcher Gelegenheit er Willi kennenlernte: 2012, bei der Fußballeuropameisterschaft, Griechenland gegen Deutschland, in einer Kneipe. Ein Dritter erzählt, dass Schultze Silvester immer ein Gedicht schreibt, um es seinen Freunden vorzutragen.
Immer wieder kommen Gäste auf Wilhelm Schultze zu, klatschen ihn ab oder umarmen ihn. Es wird lauter und voller, es wird stickig. Schultze muss mal raus an die Luft. Es ist noch nicht Mitternacht, bald geht er heim, die Klausur. Er ist nicht gut im Stoff, weil er mit dem Wahlkampf beschäftigt war, statt zu lernen. Es kann gut sein, dass er die Arbeit wiederholen muss. Aber morgens einfach liegen bleiben, von vornherein aufgeben? "Das habe ich noch nie gemacht." Schultze war nicht der beste Schüler, Abitur mit 3,1, aber hingegangen ist er immer.
Draußen stehen nur wenige Partygäste auf dem kleinen Hof, der von einer Mauer und einem Zaun eingefasst ist, und rauchen. Eine Tür zur Straße steht offen, ein Auto fährt vor. Zwei Frauen sitzen darin, die Beifahrerin hat das Fenster geöffnet und ruft: "Wir brauchen jetzt mal einen starken Mann!" Die Musik wummert in dem kleinen Hof, niemand hat die Bitte der Frau gehört.
Wilhelm Otto Klaus Schultze ist sofort da und trägt eine Kiste Bier in den Partyraum.
Bürgermeisterwahl in Hofheim: Wer kandidiert am 24. März 2019?
Natürlich ist Wilhelm Schultze (parteilos) nicht der einzige Kandidat, der am 24. März zur Wahl steht. Neben ihm gibt es sechs weitere Kandidierende, die wir hier kurz auflisten, damit sich unsere Leserinnen und Leser in Hofheim ein genaueres Bild verschaffen können. Denn unser Porträt über Wilhelm Schultze ist nicht als Wahlwerbung gedacht, sondern als eine Ermutigung an junge Menschen, sich in einer Zeit, in der die Demokratie unter Druck gerät, politisch einzubringen. Wir verlinken auf die Internetseiten der Kandidierenden - oder aber auf Presseberichte in lokalen Medien. Sie müssen dafür auf die Namen klicken, dann öffnet sich ein neues Fenster in Ihrem Browser:
- Christian Vogt, CDU
- Bernhard Köppler, SPD
- Bianca Strauß, Bündnis90/Die Grünen
- Andreas Nickel, Freie Wählergemeinschaft Hofheim am Taunus e.V. (FWG)
- Barbara Grassel, Die Linke
- Friederike Röhr, parteilos