Junge Eltern und Nesthocker
Erwachsen werden? Das hat doch Zeit!
Jugendliche kommen immer später in die Pubertät. Nicht selten haben sie sehr junge Eltern. Warum Erziehungsberechtigte gut beraten sind, wenn sie ihren Nesthockern mit respektvoller Distanz begegnen
Illustration Standpunkt Dauerpubertät. Zwei Figuren, Mutter und Tochter, machen ein Selfie und tragen T-Shirts mit Herzen und der Aufschrift 'Mama', bzw. 'Tochter'
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Aktualisiert am 18.07.2024
5Min

Standpunkt Juni 2018 Audio

Die Wahrheit ist: Selbst wenn sie nicht meine Mutter wäre, würde ich alles drum geben, um mit ihr befreundet zu sein – so steht’s in fröhlichem Pink auf dem bunten Gläschen, das meine erwachsene Tochter mir überreicht. "Da, für dich!", strahlt sie. Auf dem Gläschen sieht man zwei weibliche Wesen, die eine hält ein Herz in der Hand, die andere eine Shopping Bag, aber sie halten einander an den freien Händen

Sofort schickt mein Herz eine warme Welle zum Kopf und runter bis zu den Zehenspitzen. Was für eine Liebeserklärung! Ich freue mich und weiß doch: Das ist viel zu schön, um wahr zu sein. Momente wie diese sind verführerisch, und sie kommen schon früh. Wenn es gelingt, ein willensstarkes Kind zum Einlenken zu bewegen – mit nichts als Argumenten, einem sorgsam dosierten Gegenvorschlag, einem Appell an die vier-, fünf- oder sechsjährige Vernunft: In dieser Sternstunde blitzt der Elterntraum von einer liebevollen Beziehung auf, die wie eine Partnerschaft oder gar echte Freundschaft funktioniert. Wir wollen doch immer nur ihr Bestes – aber wir kriegen es nicht. Kleine Kinder sind nämlich keine Partner und große keine Freunde.

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Eltern und Kinder stehen sich heute so nahe wie nie zuvor. Noch nie in der Geschichte war Eltern und Kindern ­eine so lange Phase gemeinsamen Erwachsenseins vergönnt: Die gestiegene Lebenserwartung verändert das Verhältnis zwischen den Generationen. Wir kommunizieren auf (vermeintlich) gleicher Augenhöhe und auch viel häufiger; die tägliche E-Mail, die launige Whatsapp, die SMS zwischen­durch – die stetig pulsierende digitale Nabelschnur hat frühere Generationen nicht miteinander verbunden.

Von der "Bestimmerfamilie" zur "Verhandlerfamilie"

Alte Modelle aus Respekt, Gehorsam und Tradition reichen nicht mehr, um die Beziehung zu beschreiben. Die Idee, in Kindern Freunde zu sehen, hat mit dem Paradigmen­wechsel in der Erziehung nach 1968 – von der "Bestimmerfamilie" zur "Verhandlerfamilie" – zu tun, auch mit der Jugendbesessenheit in unserer Gesellschaft. Die Beziehung zwischen den Generationen zuvor beruhte auf Unterschieden zwischen Erwachsenen und Kindern. ­Heute folgen beide ähnlichen Konsum­mustern, betonen eher das Gemeinsame. Jugendlichkeit wird zum generationen­übergreifenden Lifestyle-Prinzip. Die Verlockung ist groß, erwachsenen Kindern alle Annehmlichkeiten zu bieten und im Gegenzug daraus die trügerische Sicherheit zu ziehen, genauso jung zu sein, wie man sich mit ihnen fühlt.

Aber jede junge Generation muss sich von den Eltern lösen, muss das Gefühl entwickeln, eigenständig und unabhängig zu sein, um daraus die Kraft für eigene Lebens­entwürfe zu schöpfen. Das geht nur mit einer ­Distanzierung von den Eltern, die sehr heftig, sehr erschütternd sein kann.

Gerlinde Unverzagt

Gerlinde Unverzagt, Jahrgang 1960, lebt in Berlin, ist Mutter von vier Kindern und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Magazine. Ihre ­Bücher (zum Beispiel "60 ist das neue 40", "Das Lehrerhasserbuch", "50 ist das neue 30", "Genera­tion ziemlich beste Freunde"), die sie unter dem Pseudonym Lotte Kühn veröffentlicht, erreichen hohe Aufmerksamkeit.

Das, was Johanna Schopenhauer in einem Brief an ­ihren Sohn Arthur aus dem Mai 1814 ausdrückt, würden wir Eltern uns allerdings nur allzu gern ersparen: "Dein wegwerfendes Benehmen gegen mich. Deine Verachtung gegen mein Geschlecht. Dein deutlich ausgesprochener Widerwillen zu meiner Freude beizutragen. Deine Habsucht, Deine Launen denen Du ohne Achtung gegen mich in meiner Gegenwart freien Lauf ließest, dies und noch vieles mehr das Dich mir durchaus bösartig erscheinen läßt, dies trennt uns, wenn nicht auf immer doch auf so lange, als bis Du reuevoll und gebessert zu mir zurückkehrest, dann werde ich Dich gütig aufnehmen, bleibst Du wie Du bist, so will ich Dich nie wiedersehen."

Es muss Gründe dafür geben, dass Erwachsene die ­Phasen der Kindheit und Jugend samt ihrer Protagonisten idealisieren. Vielleicht ist einer der Gründe, dass es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die Jugend­liche gern hineinwachsen. Ermuntern wir unsere jungen Erwachsenen, länger im Zustand der juvenilen Unselbstständigkeit zu verweilen, indem wir bereit­willig Auslandsaufenthalte, Praktika und Schnupperstudien ­finanzieren? Und das in einem Alter, in denen unsere ­eigenen Eltern längst neben dem Auszug berufliche Selbstständigkeit und Familiengründung angemahnt haben?

Die infantile Gesellschaft verwischt Unterschiede zwischen Alten und Jungen

Eltern helfen ihren Kindern nicht, ihnen zu entkommen, wenn sie nur wenige (vertretbare) Ansprüche stellen. Die therapeutische Gemeinde souffliert ihnen, dass nur Gleiche befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen haben können. Aber Gleichgewicht bedeutet die Abwesenheit von Forderungen. Gleiche fragen nichts, verstehen alles, vergeben alles.

Die infantile Gesellschaft verwischt die Unterschiede zwischen Müttern und Vätern, Eltern und Kindern, zwischen Alten und Jungen. Wir neigen zur Verschmelzung, weniger zu einer Beziehung zwischen erwachsenen Menschen, in der die Unterschiede zum Thema werden dürfen.

Früher typische Generationen­konflikte spielen heute kaum noch eine Rolle. Die Lebensstile von Eltern und Kindern haben sich angeglichen und auf Vorschriften bezüglich Kleidung, Drogen, Berufswahl, Freizeitgestaltung oder Sex haben Eltern längst verzichtet. Unbeirrbar halten wir am Eltern-Credo fest: Wir sind immer für dich da. "Genau das ist das Problem", gibt meine Tochter ­ungerührt ­zurück. "Wir müssen immer an euch denken, weil ihr ­immer da seid." Harmonie ist schön – aber sie kann den Schritt ins eigene Leben erschweren, wenn der mit zu viel Verantwortung für das Wohlergehen der Eltern belastet ist.

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Der Verbleib im Elternhaus hat auch wirtschaftliche Vorteile für die jungen Erwachsenen, aber dies gibt nicht den Ausschlag. Die beschriebene familiäre Anhänglichkeit kennt man bezeichnenderweise nur in modernen Industrie­staaten, denn dort herrscht Überfluss an Gütern und Einkommen. Eltern in vorindustriellen oder agrarischen Gesellschaften können sich den Luxus gar nicht leisten, herangewachsene, leistungsfähige Erwachsene von der Existenzsicherung freizustellen. Wir schon.

Wann endet die Nachjugend?

Sicherlich spielen auch die Arbeits­verhältnisse der jungen Leute eine Rolle für das neue Familienverständnis: Befristete Arbeitsverträge, Praktika in Serie, Jobs auf Honorarbasis lassen sie nicht so leicht die Sicherheit gewinnen, auf eigenen Beinen stehen zu können. Einen Beruf finden, Geld verdienen, eine Familie gründen: Diese drei klassischen Kriterien der Soziologie für das Erwachsensein sind verblasst oder auf später verschoben. Die neue Zeit der Postadoleszenz, der "Nach­jugend", lässt sich als Etappe besonderer Kraft, Freiheit und Intensität verklären, gerne von denen, die sie hinter sich haben.

Wann endet die Post­adoleszenz? Für den amerikanischen Psychologen Jeffrey Jensen Arnett zeigt sich eine Zäsur, wenn die jungen Erwachsenen Verantwortung für sich übernehmen können und wollen, wenn sie unabhängige Entscheidungen treffen und finanziell unabhängig sind. Das subjektive Gefühl dafür, erwachsen zu sein, entwickelt sich allerdings bei vielen nur langsam, über mehrere Jahre. Genaue Zeitangaben: unmöglich.

Vielleicht ist die neue Nähe auch Ausdruck eines ­neuen Wir-Gefühls, das mit dem 9/11-Attentat eine Zeitenwende von der Spaßgesellschaft zum neuen Bedrohungsgefühl eingeläutet hat? Phänomene wie ­Public Viewing, Sharing Economy oder skandinavische Hygge-­Gemütlichkeit, aber auch der neue Hype um die Familie steht für die Sehnsucht nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Berechenbarkeit, nach Überschaubarkeit und genera­tionenübergreifendem Zusammenhalt.

Bismarcks Kranken- und Renten­versicherung hat einst die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern aus öko­nomischen Zwecken gelöst und die emotionale Erfüllung des Kinderhabens an deren Stelle treten lassen. So weit sind wir jetzt: Kinder haben keinen wirtschaftlichen Nutzen mehr für Eltern, im Gegenteil – sie gelten als Armuts­risiko. Ihr emo­tionaler Wert dagegen ist un­ermesslich hoch.

Eine erste Version dieses Textes erschien am 28. Mai 2018.

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Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn sich Jugendliche noch zu ihren Familien hingezogen fühlen, dort vor allem Zuwendung, Fürsorge, Unterstützung und Orientierung erfahren. Dies darf aber nicht dazu führen, dass sie sich allzu sehr auf ihr Zuhause verlassen und zu wenig unternehmen, um auf eigenen Füßen zu stehen, selbständig zu werden, einen Beruf zu erlernen und Beziehungen zu anderen aufzubauen. Auch Eltern müssen sich damit abfinden, kein Helikopterverhalten entwickeln und gelassener reagieren, wenn ihr Nachwuchs sich von ihnen abnabelt. Sie können ihre Kinder auf dem Weg zum Erwachsenwerden unterstützen, dürfen ihnen aber nicht alle Schwierigkeiten abnehmen.