chrismon: Herr Härtling, Sie kamen 1945 aus Mähren über Österreich nach Nürtingen am Neckar. Wann fühlten Sie sich wirklich angekommen?
Peter Härtling: Als ich mit zwölf Jahren dort angekommen bin, war ich überaus fremd. Und so ist es bis heute geblieben, auch wenn ich noch Beziehungen in die Stadt habe. Wir Flüchtlinge galten den Einheimischen als Knoblauchfresser, als Paprikafresser. So nannte man uns. Meine Mutter starb fünf Tage lang an Schlaftabletten, meine Schwester und ich saßen an ihrem Bett. Als sie tot war, kamen die Erwachsenen und verhandelten über uns. Das war ein Moment von unendlicher Fremde. Da kam ein Mann, der hatte einen Klumpfuß, schwer, groß, Martin Lörcher, der Pfarrer. Er sagte: „Das ist alles schlimm.“ Und nahm mich in die Arme.
Das habe ich ihm nicht vergessen. Meine Schwester und ich waren elternlos und schutzlos. Unsere Großmutter, die ebenfalls geflohen war, nahm uns auf. Meine Mutter war krank geworden an der Sturheit und Enge der Schwaben. In der Schule war es oftmals schlimm, wir hatten alte Nazis als Lehrer. Man wurde ständig zurechtgewiesen. Ein Bauunternehmer hatte zwei große Schäferhunde, die waren abgerichtet auf den Ruf: „Fass, das ist ein Flüchtling.“
Abbas Khider: Sie erzählen traurige Geschichten, aber Sie lächeln dabei. Freunde sagen, das tue ich auch oft, wenn ich von schlimmen Erlebnissen erzähle. Kennen Sie das, dass es in der Erinnerung so was wie Türen gibt, die Sie öffnen und wieder zumachen können? Damit man wieder lachen kann? Mir geht es so.
Härtling: Sicher. Vieles von dem, was Erinnerung sein könnte, ist eigentlich nicht mehr auszuhalten. Meine Kinder – sie sind zwischen 40 und 50 Jahre alt – sind durcheinander und bewegt, wenn sie sehen, dass mir die Tränen kommen, weil ich vorm Fernseher sitze und Flüchtlinge sehe. Frauen, die Zwerge hinter sich her schleppen. Diese Welt ist widerlich.
Herr Khider, Sie sind zuerst nach Ansbach gekommen. Wann fühlten Sie sich wirklich angekommen?
Khider: Hundertprozentig kommt man nie an. Natürlich fühle ich mich zu Hause, wenn mein Kind mich anlächelt. Oder wenn ich mit Freunden in Berlin zusammensitze und wir lachen, reden und essen. Das ist ein Stück Heimat, ein Stück: angekommen. Aber es gibt Ereignisse, die alles wieder verändern. Die Anschläge in Paris, Brüssel und die Kölner Silvesternacht – und dann bin ich plötzlich verdächtig auf der Straße. Das Zugehörigkeitsgefühl geht irgendwie verloren. Dann kämpfe ich darum, dieses Gefühl wieder zu bekommen. Im Irak fühle ich mich mittlerweile noch weniger zu Hause als in Berlin. Ich bin angekommen, indem ich das tue, was ich tun soll und muss und will – schreiben. Fremdsein ist ein Projekt geworden, durch das ich produktiv werde. Damit das Exil nicht mich fesselt. Sondern ich fessele das Exil.
Härtling: "Was wir bei Pegida hören, ist ein bitterböses Echo aus früheren Tagen"
Herr Härtling, wir sitzen hier in Ihrem Haus bei Frankfurt am Main, Ihre Bücher sind Schullektüre. Wer kann mehr angekommen sein als Sie?
Härtling: In meiner Sprache bin ich zu Hause. Ich bin zu Hause in meiner Familie und bei Freunden. Aber die Fremde ist ein Stück meiner Geschichte. Als Zehnjähriger war ich ein kleiner Nazi. Mein Vater war es überhaupt nicht. Er litt sehr darunter, dass ich in Jungvolk-Uniform herumlief und Sprüche machte. Ich war ein Zwergenmacho. Auf unserer Flucht erlebten wir den Einmarsch der Roten Armee in der österreichischen Stadt Zwettl. Sie sollte verteidigt werden von kühnen, jungen Deutschen. Das fand ich prima, dachte aber nicht daran, was mit einer Stadt passiert, wenn sie verteidigt wird. Die Russen marschierten ein. Meine Mutter wurde vergewaltigt.
Eines Tages saß ich im Hof zwischen Militärlastwagen, die sowjetischen Soldaten waren zum Teil 15, 16 Jahre alt, junge Männer, die mit mir spielten. Da rauschten zwei Zivilisten auf mich zu. Ich trug noch die Jungvolk-Uniform, weil ich nichts anderes hatte. Der eine packte mich: „Du kleiner Nazi, dich werden wir noch umerziehen.“ Ich guckte dem Mann ins Gesicht. Es war einer von den beiden Offizieren, die Zwettl unbedingt verteidigen wollten. Ich rannte hoch, warf mich auf meine Mutter und heulte vor Wut. Das war meine Erfahrung einer politischen Initiation. Diese schnelle Verwandlung von Menschen habe ich nicht vergessen. Das hat mich misstrauisch gemacht. Was wir heute hören, Pegida und Ähnliches, ist wie ein bitterböses Echo aus jenen Tagen. Da bin ich wieder fremd.
Herr Khider, woran haben Sie sich in der ersten Zeit in Deutschland orientiert? Wer hat Sie hereingelassen? Wer hat die Tür zugeschlagen?
Khider: Das waren viele, wirklich viele, die Türen geöffnet haben!
Härtling: Das ist toll.
Khider: Solche Menschen geben uns die Kraft, weiterzumachen. Die Ersten, die mir geholfen haben, waren die Gefangenen, mit denen ich im Irak im Knast zusammensaß. Ich hatte Flugblätter verteilt und verbotene Bücher verkauft, das war 1993 unter Saddam Hussein. Übrigens: Mein Vater fand Hussein gut. Ich als junger Mann war gegen ihn, wir hatten deshalb immer Streit. Im Knast war ich der Jüngste, 19 Jahre alt. Da hockte ich mit älteren Herren, darunter Lehrer, Professoren, Politiker, Imame, Literaten, Philosophen. Für einige war ich wie ein Sohn. Sie haben mir viel gegeben. Der Knast war die beste Ausbildung, die ich je genossen habe.
1999 war ich von der Türkei nach Griechenland geflohen. Das war natürlich illegal. Auf griechischer Seite gab es Banditen, die mit Schrotgewehren auf uns schossen. Zwei kleine Schrotkugeln trafen mich, an der Hand und am Fuß. Nachts bekam ich Schmerzen, die Wunden hatten sich entzündet. Ich konnte so nicht bei meiner Gruppe bleiben. Der Schlepper gab mir ein Bahnticket. Mir gegenüber im Zug saß eine alte Frau. Sie sah die Wunde. Ich sagte nur: „Irak.“ Sie sagte: „Ticket!“ Ich gab es ihr und sie bedeutete mir, dass ich schlafen solle. Ich glaube, immer wenn ein Schaffner kam, erzählte sie, dass ich zu ihr gehöre. In Athen brachte sie mich zum Roten Kreuz. Manchmal, wenn ich schreibe, schreibe ich für solche Menschen.
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Herr Härtling, Herr Khider, sich mutterseelenallein fühlen, diesen Zustand kennen die Hauptfiguren in Ihren Romanen gut. Wann haben Sie beide die Erfahrung gemacht?
Härtling: Der Faden, an dem man sich durchs Leben zieht, reißt gelegentlich. Man fühlt sich wie in einem ganz still gewordenen Raum. So geht es mir immer noch oft.
Khider: Manchmal kommen Menschen, die in der DDR im Gefängnis saßen, nach einer Lesung zu mir. Es ist so einfach für mich, mit ihnen zu reden. Es braucht nicht viele Worte. Manchmal reicht ein Blick, um zu verstehen.
Härtling: Als ich in Ihrem Buch „Ohrfeige“ las, dachte ich: Es gibt in allen Flüchtlingsgruppen diese kleinen Netzwerke, die Geschäftstüchtigen, die Geld verdienen. Sie schreiben darüber. Hängen Sie noch in diesen Netzwerken?
Khider: Nein, ich brauche keinen Schutz mehr, seit ich deutscher Staatsbürger bin. Trotzdem kommt immer noch Interessantes von den Behörden. Als unser Kind geboren wurde, brauchte das Kind eine Geburtsurkunde. Ich bin aufs Standesamt gegangen. Kein Problem, dachte ich, die Mutter ist Deutsche, ich bin Deutscher. Die irakische Staatsbürgerschaft durfte ich nicht behalten, als ich eingebürgert wurde. Alle irakischen Papiere musste ich abgeben, die deutschen Behörden schickten sie in den Irak. Auf dem Standesamt hieß es: „Wir brauchen Ihre Geburtsurkunde, damit Ihr Kind eine Geburtsurkunde haben kann!“ Ich habe aber keine mehr. Ich fragte, was ich machen soll. „Gehen Sie nach Bagdad.“ Wollte ich natürlich nicht, dort ist es gefährlich. Ich sollte dann in Bayern anrufen, wo ich eingebürgert worden war. Dort müssten Kopien sein. Der bayerische Beamte sagte: „Kopien dürfen wir aber nicht beglaubigen.“
Einige Tage später bekam ich einen Brief vom Bürgeramt Berlin: „Wir haben festgestellt, dass Sie nach irakischen Dokumenten gesucht haben. Wir vermuten, dass Sie wieder die irakische Staatsbürgerschaft erworben haben. Dadurch verlieren Sie Ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Beweisen Sie, dass Sie ein deutscher Staatsbürger sind.“ Der Beamte aus Bayern musste in Berlin angerufen haben. Das war schlimm für mich. Zum Glück fand sich eine Lösung, unser Kind ist Berliner!
Khider: "In Deutschland haben mir viele Menschen Türen geöffnet, wirklich viele"
Werden Sie oft von der Polizei kontrolliert?
Khider: In Berlin nicht, aber während der Lesereisen ständig. Es gibt leider Polizeirassismus. Ich nehme es mit Humor und sage: „Hey, ich weiß, Ihr sucht die Schwarzhaarigen, aber nehmt doch auch mal eine Blondine dazu, damit es nicht so auffällt.“ Aber das finden sie nicht immer lustig.
Wann waren Sie, Herr Härtling, nicht mehr der Fremde?
Härtling: Ende der fünfziger Jahre. Da hatten wir uns in der funktionierenden Gesellschaft in Neubürger verwandelt. Mein Eindruck ist, dass einige der damaligen Flüchtlinge heute hartnäckige Gegner der jetzigen Flüchtlinge sind. Obwohl manche von ihnen großen Erfolg hatten und Unternehmen leiteten. Das ist eine ganz schlichte Geschichte, die in der Philosophie immer eine Rolle spielte: die unendliche Spannung zwischen Haben und Nichthaben. Das tut weh.
Khider: Mir schlägt oft Angst entgegen. Das hat sicher mit dem 11. September zu tun. Ein anderer Grund ist, dass Menschen sich gegenseitig nicht als Menschen wahrnehmen. Dann gehen sie miteinander um, als seien sie minderwertig. Wenn man auf einer Ebene ist, kann man miteinander reden und auch Probleme lösen. Aber wenn sich jemand als etwas Besseres sieht, geht das nicht mehr. Das habe ich nicht nur in Deutschland erlebt. Ich komme aus einer schiitischen Familie und merkte, dass Schiiten in der arabischen Welt keinen guten Ruf haben. Ich erlebte viel Rassismus. Ich war der Schmutzige. Ich finde auch, dass Flüchtlinge manchmal in den Medien so dargestellt werden. Es erinnert mich an Völkerschauen in der Kolonialzeit. Eintritt frei! Aber ich frage mich: Wie fühlen sich Flüchtlinge, wenn sie so dargestellt werden?
Härtling: Man kann es als Fremdmachen bezeichnen. Die Regierung, die ständig über Integration redet, sollte lieber über Ausgrenzung reden. Es hätte mir als Kind geholfen, wenn man mich nicht als ein Niemand, der integriert werden muss, behandelt hätte – sondern als Mensch. Wie diese drei Männer, es war ein Glück, dass ich sie kennenlernte: meinen Deutschlehrer, mit dem ich Freund war, bis er starb. Dann den Maler Fritz Ruoff. Und den Pfarrer Martin Lörcher, der mich in den Arm nahm, als meine Mutter gestorben war.
Wir Deutschen müssten ja eigentlich geschult sein im Umgang mit Fremden, wegen unserer Geschichte!
Härtling: Aber staunen Sie nicht, was da gerade hochkommt? Sind wir ernsthaft geschult? Oder haben wir das vergessen? Das beschäftigt mich sehr.
Das Land ist voller Gedenkstätten, die vor Ausgrenzung warnen.
Härtling: Aber wir haben Brüller, die „Wir sind das Volk!“ kreischen. Die schreien: „Hängt sie auf.“
Aber gleichzeitig gibt es eine Willkommenskultur, Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen!
Khider: Man muss unterscheiden zwischen politischen Zielen und menschlichem Handeln. Vor ein paar Jahren wollten Journalisten mit mir unbedingt über den Begriff der Multikulti-Gesellschaft reden. Dann sagte Angela Merkel, Multikulti sei gescheitert. Seitdem ist der Begriff ein Teil der Antike. Keiner redet mehr davon. Wann wird der Begriff „Willkommenskultur“ ein Teil der Antike sein? Ich glaube, ganz bald. Der Begriff kommt aus der Politik und nicht aus der Kultur und Gesellschaft heraus.
Härtling: "Ignorieren wir wirklich die Ängste der Menschen?"
Die AfD suggeriert, dass Menschen, die dem Islam angehören, nicht integrierbar seien. Was kann man gegen einen solchen Pauschalverdacht tun?
Härtling: Das Extreme an diesen Spannungen zwischen Hiesigen und Kommenden ist, dass der Islam als moderne Ideologie so extrem global wirkt, dass die Menschen in ihren kleinen Bezirken Angst kriegen. Der oft mörderische Anspruch macht große Angst. Jetzt passiert etwas Verrücktes: Die, die Schutz suchend kommen, gehören auch zum Islam. Da fragen sich wahrscheinlich recht dürftige Köpfe: Sollen wir da nicht misstrauisch sein? Was mich außerordentlich aufregt, ist, dass die Wortführer von AfD und auch der auf die Straße gehenden Schreier genau diese Spannung ideologisch ausnutzen.
Wissen Sie ein Mittel, wie man dieser Stimmung entgegentreten kann?
Khider: Es ist gerade sehr schwierig. Dabei hat sich die deutsche Gesellschaft doch schon verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kaum anders aussehende Menschen. Jetzt haben wir die neuen Deutschen, Migranten, die in vielen Bereichen des Lebens – in Sport, Literatur, Kunst, Kultur – präsent sind. Ich war stolz darauf.
Härtling: Das ist auch ganz prima.
Khider: Deshalb ist das, was wir gerade an Hass und Ablehnung erleben, eine Niederlage. Aber ich habe ein Problem damit, wenn wir sagen, dass alle Pegida- oder AfD-Anhänger Rassisten sind. Es gibt Menschen, die Ängste haben, ausgelöst durch die Medien oder durch Unwissenheit. Sie sollten wir ansprechen. In der islamischen Welt sind die Muslime selbst überrascht über die ISIS-Gruppen, die Menschen grundlos ermorden. Es geht um Feindbilder, und mit Feindbildern kann man leider viel erreichen. Eine sehr extreme Zeit. Aber wenn wir die Ängste der Menschen ignorieren, machen wir einen großen Fehler.
Härtling: Dem würde ich nicht widersprechen. Aber ich habe da meine Bedenken. Die Ängste ignorieren, tun wir das? Das Tolle ist ja, dass die Ängstlichen die anderen ignorieren.
Khider: Es ist alles so extrem. Wir brauchen Ruhe. Jetzt können wir nicht viel erreichen.
Die AfD sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland und setzt sich für ein Verbot von Minaretten, von Muezzins und Vollverschleierung ein. Macht das die Zeit ruhiger?
Härtling: Und kaum jemand sagt etwas dagegen. Die fallen hinter das Grundgesetz zurück.
Khider: Die Deutschen sollten aufgrund ihrer Geschichte eigentlich gelernt haben, die Flüchtlinge als Menschen wahrzunehmen. Aber in vielen ostdeutschen Städten kann ich abends, wenn es dunkel wird, nicht spazieren gehen, weil ich Angst habe. Wie leben die Flüchtlinge, die sich dort heute befinden? Wir sind alle – auf irgendeine Weise – überfordert mit den vielen Flüchtlingen. Wir hätten schon viel früher über Waffenhandel, Unterstützung von Diktaturen reden müssen. Wir haben einen Anteil an der Geschichte. Allein im Irak gibt es drei Millionen Binnenflüchtlinge. Irgendwann flieht ein Volk. Über die afrikanischen Flüchtlinge redet man gar nicht mehr. Sind sie keine Menschen mehr?
Härtling: Sie sind Individuen, mit eigenen Wünschen und Gaben und Begabungen.
Khider: Wir beide sind Beispiele, wir sind auch Flüchtlinge gewesen. Die anderen sind wie wir. Es ist so einfach.
Khider: "Das Exil macht die Heimat schöner"
Waren oder sind Sie durch Ihre Flucht traumatisiert? Diesen Ausdruck hat man früher nicht gekannt.
Härtling: Während des Zweiten Weltkriegs hat kein Mensch darüber nachgedacht, wer traumatisiert ist. Ich weiß von meinem Sohn, er ist Kinderpsychiater, wie kompliziert das ist. Nach Reaktionen, die ich manchmal zeige, würde ich schon sagen, dass ich rest-traumatisiert bin. Das andere ist mit den Jahren weg.
Khider: Es kommt auch drauf an, wo man sich befindet und wie man mit solchen Ereignissen der Vergangenheit umgeht. Ich lebe in der Gegenwart und ich denke an die Zukunft. Aber ich öffne Türen, wenn ich schreibe – nicht alle, nur bestimmte. Manchmal öffnen sich selbst Türen. Wenn ich das sprachlich und literarisch bearbeite, fällt mir alles leichter. Ich verhalte mich mit der Erinnerung wie ein Diktator. Ich habe da meine Regeln und Disziplin, ich erlaube Dinge, und es gibt Dinge, die sind unerlaubt. Ich habe mir um meine Erinnerungen eine Berliner Mauer gebaut, und ich lasse Dinge nicht zu mir. Die kommen nicht zu mir, wenn ich das nicht will. Das ist meine Art, wie ich mich selbst schütze.
Was bedeutet es für einen Menschen, zu flüchten und seine Angehörigen zurückzulassen? Man selbst kommt irgendwo an, aber sie leben da immer noch.
Khider: Die erste Phase des Exils ist die härteste. Da erleben Menschen unglaubliche Gefühle. Das Exil macht die Heimat schöner. Plötzlich bekommt Essen, das man dort nicht gegessen hat, einen Wert. Musik, die man nie gehört hat, wird unheimlich wichtig. Es gibt Menschen, die bleiben das ganze Leben in dieser Phase des Exils. Ich kenne viele, die in der Vergangenheit leben wie in einem Museum. Wenn man diese Phase durchquert – das hat damit zu tun, ob man etwas erreicht und ein neues Leben anfängt – ändern sich die Dinge.
Die Zeit heilt viele Wunden, man versucht, ein neues Leben zu führen und neue Ziele und neue Träume in der Fremde zu finden. Da beginnt die zweite Phase des Exils. Man nimmt das Exil dann nicht mehr als ein schmerzhaftes Ding wahr, sondern mehr als eine Tatsache. Der Anfang ist überhaupt nicht einfach. Manche werden verrückt, die landen in der Psychiatrie.
Härtling: Manchmal dauert es auch Jahrzehnte. Mit Nürtingen hatte ich immer Zoff, das habe ich erzählt. Als Selbstmörderin lag meine Mutter am Rand des Friedhofs, einzeln, und sie bekam kein Grabkreuz. Wir Kinder haben das Grab allein dadurch erkannt, dass dort ein Fliederbaum wuchs. Der Fliederbaum war das Kreuz, der Grabstein. Als der Friedhof aufgelöst wurde, habe ich ein Gedicht geschrieben, „Der alte Friedhof in Nürtingen“. Darin heißt es: „Da ruhn die Toten schon / zu lang; / so viele Jahre, / meinen die Planeure, / hält die Trauer / nicht.“
Das hat die Stadt doch gewurmt. Eines Tages rief mich eine Dame an: „Herr Härtling, wir haben nach dem Grab Ihrer Mutter suchen lassen.“ Ich fragte: Warum? „Wir wollen die Erinnerung festhalten. Vielleicht mit Ihrem Gedicht auf einer Platte?“ Ich war gerührt. Sie rief wieder an. „Durchs Katasteramt wissen wir, wo das Grab ist. Der Stein ist in Arbeit und ein zweiter Stein auch. Was schreiben wir denn auf den zweiten Stein drauf?“ Ich sagte: Dem Andenken an Erika Härtling, 1911–1946. Sie fragte: „Haben Sie noch einen Satz?“ Und in Erinnerung an alle Flüchtlingsfrauen der letzten zwei Jahrhunderte.
Und so wurde es gemacht?
Härtling: Ja. Und der Fliederbaum blüht.
Sie sollten wir ansprechen.
Herr Khider sagt unter anderem:
„Aber ich habe ein Problem damit, wenn wir sagen, dass alle Pegida- oder AfD-Anhänger Rassisten sind.“ Dem stimme ich voll und ganz zu. Es ist erwiesen, dass alle Menschen Ängste vor Fremden haben und das seit den Anfängen der Menschheit, nämlich im Kleinhirn. Es ist eine Frage der Erziehung und Kultur, wie man damit umgeht.
Warum werden diese Menschen, die diese Angst noch so haben, von dem derzeit allgemein vorherrschenden Mainstream als Rassisten verteufelt und den obengenannten Bewegungen in die Arme getrieben, statt sie anzusprechen und aufzuklären? Aufzuklären über die Situationen der Flüchtlinge in ihrem Heimatland, auf der Flucht und auch hier. Das hilft die Ängste bei ihnen abzubauen, vielleicht sogar sie für die Hilfe für Flüchtlinge zu gewinnen. So geschehen in München.
Oder will man sie lieber bei der AfD haben? Man kann sich selbst dann so schön über sie erheben und moralisch auf sie eindreschen.
Die Angst vor den Fremden hieß bislang allgemein Xenophobie. Phobie heißt „Angst, Furcht“ nicht Hass, so wie es jetzt häufig im Neusprech heißt, Xenophobie heiße Fremdenhass. Klaustrophobie ist die Furcht vor der Enge, aber nicht der Hass auf die Enge und auch nicht auf den Klaus.
Albrecht Gohlke, München
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Zur Begegnung Härtling/Khider
Es ist schon komisch, daß sich CHRISMON das sonst so sichtbare Bemühen um angemessene Differenziertheit ausgerechnet in Bezug auf "Ostdeutschland" vom Duo Härtling/Khider nehmen läßt. Im Osten wird nicht "Wir sind das Volk" gebrüllt, sonder es wird wie 1989 damit laut und vernehmbar gemahnt. "Hängt sie auf"-Rufe habe ich hier noch nie gehört, dafür sprühen andere "Pegida töten" an Hauswände (gesehen in der links-toleranten Neustadt Dresdens). Herr Khider kann abends in "ostdeutschen" Städten aus Angst nicht spaziergehen - ist das eine andere Angst, als die jener "Ostdeutschen", die abends ihre Innenstädte meiden, weil sie sich vor den stets in Gruppenstärke auftretenden Afghanen und Arabern dort fürchten? Moslems suchen bei uns Schutz vor dem Islam und "dürftige Köpfe" fragen sich, ob man darob nicht mißtrauisch sein sollte? Ist für Herrn Härtling auch CHRISMON-Leser Peter Macher so ein "dürftiger Kopf", der als Psychotherapeut jene durch den Islam zerbrochenen Menschen behandelt, denen es umso besser geht, je weiter weg sie von Mohammed sind? Oder ist Herr Macher vielleicht "nur" ein Ostdeutscher? Was soll daran gut sein, wenn man sich zu Hause fremd fühlt?
Michael Eckardt, Ebersbach bei Großenhain
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Härtling/Khider: Danke für diesen Text!
Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion,
als langjähriger Abonnent der SZ erhalte ich jeden Monat Ihr Magazin als Beilage und freue mich über jede neue Ausgabe.
Das Gespräch mit Peter Härtling und Abbas Khider, das mir sehr nahe gegangen ist, nehme ich nun als Anlass für diesen Brief. Als Kind habe ich die Situation, die Peter Härtling beschreibt, in gleicher Weise erlebt, nur auf der Seite der "Ureinwohner". Und bei Abbas Khider hat mir besonders gefallen, dass er das "Exil fesselt" und nicht umgekehrt.
Danken möchte ich Ihnen für die vielfältigen und ausgesprochen informativen Beiträge zum Themenkomplex Flüchtlinge - Islam - neue Rechte - die ich zumindest im letzten halben Jahr mit großer Aufmekrsamkeit verfolge. Als Beispiele denke ich an den Artikel "Wir schaffen das" in der Ausgabe 6/16 und den Kommentar Heinrich Bedfort-Strom in 7/16. Besonders aufgefallen ist mir auch die Vielfalt der journalistischen Mittel der Darstellung. Sie bieten Hintergrundinformationen, Hilfe in der konkreten Flüchtlingsarbeit, Tips zum Umgang mit der neuen Rechten, Kommentare zur deutschen und europäischen Politik, gehen auf die christlich - mulimische Zusammenarbeit ein, und das immer in gut lesbarer Form.
Gerade als katholischer Christ, der in der Ökumene sehr engagiert ist, musste ich erleben, dass sich die kath. Bischöfe immer mehr aus der Pressearbeit verabschieden, wie das jüngste Beispiel von "Christ und Welt" zeigt. Um so mehr freue ich mich, dass wenigstens Sie im christlichen "Lager" ihre Verantwortung wahrnehmen. Auch dazu mein herzlicher Dank.
Mit herzlichen Grüßen Hp.Schladt
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