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Der Name dieser neuen Kolumne "Religionsfreiheit" ist für mich als muslimischer Theologe und Soziologe Programm. Denn ich vertrete eine liberale islamische Theologie, in der Freiheit das oberste Gebot ist. Mir geht es dabei keineswegs um eine rein theologische Perspektive auf die Welt, sondern ich möchte in dieser ersten Kolumnenfolge auf Fragen eingehen, die mir oft gestellt werden: Was genau ist unter einem liberalen Islam zu verstehen und welche Chancen hat er, sich zu etablieren?
Kann der Islam einen Beitrag für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung leisten? Manche würden sogar einen Schritt weitergehen und grundsätzlich fragen: Ist der Islam überhaupt mit freiheitlich-demokratischen Werten vereinbar?
Meine klare Antwort lautet: Dies hängt von der Auslegung des Islams ab. Der Islam kennt keine Kirche und keine Geistlichen, die für alle Muslime verbindlich festlegen, was richtig und falsch ist. Deshalb gibt es viele unterschiedliche Arten von Islam. Die Bandbreite reicht von fundamentalistisch bis liberal. Entscheidend ist, welche Interpretation sich stärker durchsetzt.
Mit welcher Art von Islam man es zu tun hat, sieht man daran, wie die Heiligen Schriften ausgelegt werden. Das sind der Koran und die Tradition des Propheten Mohammeds (Sunna). Diese Schriften haben eine starke Wirkmacht auf die Muslime, weshalb deren Interpretation entscheidend dafür ist, wie man den Islam versteht. Idealtypisch kann man zwischen einem monologischen und einem dialogischen Zugang zum Islam unterscheiden.
Ein monologischer Zugang sieht in den Heiligen Schriften eine Art Monolog Gottes. Demnach habe Gott in der Ewigkeit für die Ewigkeit gesprochen. Was er gesagt hat, habe nichts mit den geschichtlichen Rahmenbedingungen zu tun. Das heißt, die Texte des Korans und der Sunna, die uns vorliegen, müssten heute wortwörtlich verstanden werden und deren Wortlaut müsste unverändert ins Hier und Heute übertragen werden. Man denke dabei an patriarchalische Aussagen wie Sure 4:34: "Die Männer sind für die Frauen verantwortlich". Man denke auch an solche, die als Legitimation für Gewalt und Krieg verstanden werden können, wie Sure 2:191: "Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft".
Ein dialogischer Zugang zu den Heiligen Texten sieht in ihnen hingegen keineswegs einen göttlichen Monolog, sondern etwas, das wir in der Theologie "Gottes-Menschenwort" nennen. Es ist zwar Gott, der zu den Menschen spricht, allerdings durch sie, durch ihre Alltagsprache, durch ihre Hoffnungen, Ängste und Erwartungen. Deshalb sind diese Heiligen Texte im Kontext zu verstehen. Sie spiegeln Realitäten und Traditionen ihrer Zeit wider. Für den Koran bedeutet das, dass er als Text verstanden werden muss, der im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel in Mekka und Medina entstanden ist. Nach dieser Lesart des Islams kommt es heute nicht auf den Wortlaut seiner Heiligen Schriften an, sondern auf deren spirituelle und ethische Botschaften, die meist zwischen den Zeilen zu lesen sind.
Die eigentliche Trennlinie zwischen einer fundamentalistischen und einer zeitgemäßen Lesart verläuft entlang dieser beiden Zugänge zum Islam: monologisch versus dialogisch. Neben der Frage nach der jeweiligen Lesart des Korans spielt eine andere, grundsätzliche Frage eine entscheidende Rolle für die Vereinbarkeit des Islams mit den freiheitlich-demokratischen Werten. Es geht um die Frage nach dem jeweiligen Gottesbild: Haben wir es im Islam mit einem restriktiven, egoistischen Gott zu tun, dem es um sich selbst geht? Oder mit einem kommunikativen, liebenden Gott, dem es um den Menschen geht?
Ich vertrete die Auffassung, dass nur ein liberaler Islam zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung passt. Ein Verständnis des Islams, in dem die Scharia als eine Art göttliche Gesellschaftsordnung verstanden wird, die alle Lebensbereiche religiös bestimmt, steht stets im Konflikt mit unserer Demokratie. Eine liberale islamische Theologie definiert den Islam vielmehr als Haltung der Hingabe an einen dem Menschen bedingungslos zugewandten Gott. Das ist eine Haltung der Liebe, die der Koran als den eigentlichen Sinn der Schöpfung des Menschen beschreibt: "Gott erschafft Menschen, die er liebt und die ihn lieben" (Koran 5:54). Liebe als bedingungslose Zusage an den Geliebten setzt Freiheit voraus und entfaltet zugleich Freiheit. Sie setzt Freiheit voraus, weil Liebe, damit sie Liebe ist, in Freiheit geschehen muss. Und sie entfaltet Freiheit, weil eine bedingungslose Zusage dem Gegenüber zeigt: Ich liebe dich für das, was du bist und nicht dafür, wie du dich verhältst.
Lesetipp: Was haben Christentum und Islam gemeinsam?
Ich will dennoch realistisch bleiben. Eine monologische Lesart des Islams scheint für viele attraktiver und daher viel stärker in religiösen Milieus verbreitet zu sein. Warum ist das so? Diese Lesart liefert meist eindeutige Antworten, die das Alltagsleben der Menschen klar strukturieren. Man denke zum Beispiel an die Prediger in den sozialen Medien, die bei vielen jungen Muslimen und Musliminnen beliebt sind. Diese Prediger meinen genau zu wissen, was Gott will und was er erlaubt und verboten hat. Solche eindeutigen Vorstellungen strukturieren nicht nur den Alltag, sie sind auch stark identitätsstiftend. Die Rede von der Scharia als ideale göttliche Gesellschaftsordnung bietet darüber hinaus eine klare identitätsstiftende Alternative zur demokratischen Ordnung, mit der meist der Westen verbunden wird, nach dem Motto: "Auch wir Muslime haben unsere eigene Gesellschaftsordnung. Im Gegensatz zur Demokratie geht unsere auf Gott zurück und ist daher authentischer."
Wir brauchen viele Stimmen, die dem widersprechen. Die sagen: Der Islam ist mit den demokratischen Grundwerten vereinbar! Er läuft, wenn man ihn liberal versteht, geradezu auf sie hinaus. Dies geschieht vor allem, wenn diese Lesart an den islamisch-theologischen Instituten an den deutschen Universitäten noch stärker ausgearbeitet wird und in den Moscheegemeinden und im islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen sowie in den sozialen Medien vermittelt wird. Wenn Muslime sich als liberale, demokratische Muslime zu erkennen geben, kann eine neue muslimische Identität entstehen. Eine die nicht gegen den Rest, sondern mit ihm ist.