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Von oben sieht der Bützower See aus wie ein Fragezeichen. Ohne Punkt. An seinem südlichen Ufer, inmitten des geschwungenen Bogens, blockiert eine Schwanenfamilie den Ausstieg ins Wasser vor dem Kanuclub. K. vom Verein trägt einen Südwester und in jeder Hand ein Paddel, das sie als Argumentationshilfe wie eine Lanze hebt. So redet sie auf die Schwäne ein. "Ihr müsst hier jetzt weg, tut mir leid, anders geht es doch nicht." Die Schwanenmutter faucht halbherzig, dann sammelt sie ihre Küken und zieht mit ihnen ins Wasser.
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Bützow ist eine Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, ICE-Haltestelle, halbe Strecke zwischen Rostock und Schwerin, nicht mal 8000 Einwohner.
Meine Freundin C. und ich sind hergekommen, um zu paddeln. Bevor wir ins Kajak steigen, verhandelt K. mit den Schwänen, damit wir überhaupt auf den See rauskommen. Zuvor hat sie schon an drei Jungs, 13, 14 Jahre alt, ein Tretboot verliehen.
Weder für unser Kajak noch für das Tretboot der Jungs will sie Geld. "Wir sind ein gemeinnütziger Verein und freuen uns einfach, wenn sich Menschen auf den Weg in die Natur machen, Sport machen", sagt sie. Sie erklärt den Weg, leiht uns einen Wassersack und eine Regenjacke. Nachher wird sie weg sein. "Zieht das Boot einfach hoch und legt die Sachen zurück, das Tor ist offen."
Gleich nach dem Ablegen treffen wir die drei Jungs mit dem Tretboot wieder. Deren Großeltern waren vermutlich keine Bauern in Mecklenburg, sondern lebten eher im Umland von Aleppo oder Homs. Sie sind nicht lange gefahren, sondern nutzen das Tretboot als Badeplattform für Kopfsprünge und Arschbomben.
Das Kajak schaukelt auf kleinen Wellen, C. steuert. Im Eingang eines Nebenflusses der Warnow mit dem größenwahnsinnigen Namen "Temse" wird es zwischen den Schilfwänden ganz ruhig. Ein Fischer in einem Langboot, Bart, langer Regenmantel, kontrolliert seine Netze. Später überholt er uns und fragt, wohin wir wollen, ob wir Hilfe brauchen. Ein Graureiher flattert aus dem Schilf auf, ein Haubentaucher zieht vorbei. Am Ufer leuchten weiße Ackerwinden. Dünner Nieselregen fällt. Inmitten einer Reihe von Tagen mit Hitze ist das hier ein Tag Pause. Ein Tag zum Luftholen im feuchten Nebel. Ein Tag für graues Blau und dunkles Grün, für Schilffarben. Leise tauchen die Paddel ins Wasser.
C. schreibt Triolette. Ein Triolett ist eine französische Gedichtform. Erste und vierte Zeile sind gleich. Siebte und achte Zeile wiederholen die erste und zweite.
Nieselregen
fällt
Das Boot schaukelt sanft
Nieselregen
Wasser oben
Wasser unten
Nieselregen
fällt
könnte es heißen. Gesprochen klingen C.s Triolette noch viel schöner.
Paddel rechts eintauchen, leichte Drehung, Paddel links eintauchen. Morgen vielleicht Armmuskelkater.
Würden wir weiter paddeln, immer weiter, kämen wir nach Schwaan, von dort nach Rostock, irgendwann bei Warnemünde würden wir die Ostsee erreichen. Alle Flüsse münden ins Meer und alle Meere fließen zusammen. Alles ist möglich, aber nicht heute. Heute drehen wir um, ein großer Kreis, Wind von hinten. Von der Temse geht es in die Warnow, die sich zu einem schmalen Kanal verengt, Bootshäuser rechts und links, überhängende Büsche, Rosen, die selbst im Regen noch duften. Alte Wochenendhäuschen, neue Wochenendhäuschen, eine Reihe Holz, Beton und Glas gewordene Sommerträume.
"Ihr müsst Schwestern sein", ruft ein Mann, an dem wir vorbeitreiben und prostet uns mit einer Bierflasche zu. Ein freundlicher Gruß. Von zwei Anglern dagegen kommen angesichts von zwei Frauen im Boot unvermeidlich blöde Sprüche. Schade.
Mitten in der Stadt müssen wir aussteigen und das Kajak umtragen. Vorher ein Stopp im Eispavillon. Die nette Bedienung bringt uns den Eisbecher, den wir uns eigentlich teilen wollten, gleich als doppelte Portion zum Preis von einem: doppelt so viel Eis, doppelt so viel Sahne, anachronistisch in einem Doppelglas, wie in den 1990er Jahren, nur die Schirmchen fehlen.
Dann wieder diese Häuser am Wasser mit ihren Panoramafenstern zum Kanal hinunter. Manche Grundstücke ausgeräumt, andere verträumt. "Überall Fahnen", sagt C. "Steht das so in der Gemeindeverordnung? Jedes Haus muss eine Fahne haben?"
Wir haben auch schon andere Fahnen gesehen: Als wir in Bützow ankamen, wehten auf dem Dach des Bützower Bahnhofs zwei große Banner. AfD-Flaggen, dazu einen Engelaufsteller, der eine kleine Flagge hält. Es gab schon Demos dagegen, erzählt K., der Bürgermeister ist auch nicht einverstanden, weil das Gebäude einen repräsentativen Eindruck macht, als stehe es für die ganze Stadt.
Das Bahnhofsgebäude ist aus dem 19. Jahrhundert: prunkvoll, herrschaftlich, leuchtende Farben. Aber das Haus gehört nicht mehr der Bahn, sondern einem Privatmann, und der will das Gebäude jetzt an die Partei verkaufen. Ein AfD-Landtagsabgeordneter hat im Netz ein Video verbreitet, worin er triumphiert: "Bützow ist erobert! Die Flaggen wehen!" "Schwierig, ist ja auch alles wieder Aufmerksamkeit für die", findet K. vom Kanuclub, als wir sie danach fragen.
Für den Moment liegt die Aufmerksamkeit auf dem Fluss, dessen Schönheit noch mal so richtig zur Geltung kommt: Bevor die Warnow wieder im Bützower See mündet, paddeln wir durch Seerosenfelder mit weißen und gelben Blüten, stoßen unsere Köpfe an überhängenden Zweigen. Alles grün, wackelpuddingfarbenes Leuchten im Wasser. Ein Moment Stille, wir halten uns an einem Ast fest. Alles tropft, die Ufer wachsen leise aufeinander zu. In der Mitte das Kajak. Zurück am Kanuclub sind die Schwäne fort. Nur noch ein paar feine Daunen im Uferschlamm.