Katharina Weit, 51:
Als ich auf die Insel kam, war ich vom Alltagstrott erschöpft. Ich wollte Neues sehen, riechen, schmecken, hören. 26 Jahre lang hatte ich hauptsächlich für meine Familie gesorgt, die letzten zehn Jahre allein. Mit wechselnden Jobs hatte ich die Grundnahrungsmittel beschafft – Brot, Butter, Bildung. Ich arbeitete in sozialen Projekten, war journalistisch tätig, habe geputzt und gekellnert. Ich wollte meinen fünf Kindern zeigen, dass man sein Boot nicht untergehen lässt.
Der Jüngste ist mittlerweile 19 Jahre alt. Und so verkündete ich meinen Kindern im vergangenen Herbst: "Ihr seid jetzt erwachsen." Ich weckte Obst und Gemüse aus meinem Garten ein, ließ mir ein Daunenbett aus den Weihnachtsgänsen der vergangenen Jahre stopfen, lud den alten Küchenofen meiner Großmutter auf ein Fischerboot und ließ mich zum Ruden fahren.
Der Ruden, das ist eine kleine Insel im Greifswalder Bodden, einer Lagune in der Ostsee. Die 24 Hektar sind Naturschutzgebiet und seit 2016 für Besucher gesperrt.
Die Insel ist keine traumhafte Schönheit: Im maroden Hafen rosten die Poller, die Piere und die riesigen Strommasten, die schon lange nicht mehr ans Stromnetz angeschlossen sind. Die Insel ist eher eine raue Schönheit. Man hat einen beeindruckenden Rundumblick – aufs Wasser und in die Weite.
Sogar Hunger wollte ich erleben
Seit der Hafen gesperrt ist, leben die wechselnden Freiwilligen auf der Insel meist allein. In diesem Winter bin ich diejenige. Manchmal vergehen Wochen, in denen niemand anlandet. Für mich kein Problem, sondern eher wunschgemäß: Ich wollte den Winter hier verbringen, um an Grenzen zu stoßen und herauszufinden, wie es mir mit dem Alleinsein, mit Widrigkeiten und der Kälte gehen würde. Ja, sogar Hunger wollte ich eigentlich erleben.
Jeden Tag dokumentiere ich Wetter, Wasserpegel und Bootsverkehr, zähle Vögel, versorge die Schafherde, die die Dünen beweidet, repariere Zäune und beobachte die Natur. Nach einer fachkundigen Einarbeitungszeit im Herbst kann ich mittlerweile die meisten Vögel hier im Bodden sowohl am Flug als auch an den Tönen erkennen. Ich weiß, wann der Seeadler den Wald zum Frühstück verlässt und wo ich wann Fuchs oder Fischotter treffe.
Eines Tages fand ich neben den Fährten auch Spuren von Menschen, die nicht meine waren. Etwa eine Woche lang hatte ich wirklich Angst. Ich fühlte mich unsicher und schloss abends die Haustür ab. Doch das ist vorbei, obwohl es immer wieder passiert, dass Leute im Hafen anlegen. Dann weise ich sie freundlich darauf hin, dass dies der falsche Hafen ist.
Der Solarstrom reicht gerade für Lampe und Handy
Die alltäglichen Aufgaben brauchen viel Zeit: Trinkwasser aus Kanistern holen und Spülwasser aus dem Bodden, Holz hacken, den Ofen heizen und für gutes Essen sorgen. Alles ist auf das Wesentliche reduziert: Der Solarstrom reicht, um das Handy, das Tablet und eine Lampe zu laden. Katzenwäsche findet im Bad statt, doch gebadet wird draußen. Dafür befeuere ich eine alte Badewanne und genieße einen anderen Luxus: Ich bade mit Sternenbeleuchtung und mit dem Meeresrauschen im Ohr.
Was die Grenzerfahrungen betrifft: An das Alleinsein und die Kälte habe ich mich gewöhnt, und weil die Familie an mich denkt und Freunde mir Pakete mit Leckereien schicken, gab es keinen Hunger. Was als Grenze bleibt, ist die Gegebenheit einer Insel: nicht weg zu können, angewiesen zu sein auf ein Boot, das mich hin- und wegfährt.
Gebracht hat mir die Zeit auf der Insel vor allem die Besinnung auf die wichtigen Dinge: Frieden, Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Wärme und liebe Leute in "Reichweite". Ich finde es beruhigend und befreiend zugleich, festzustellen, wie wenig ich wirklich benötige und dass ich in der Lage bin, jedes auftretende Problem allein zu lösen. Egal ob der Ofen nicht zieht oder ein Schaf ausgebüxt ist.
Ich habe Gelassenheit und Zuversicht gewonnen, so dass meine Sätze jetzt wieder mit "Ich möchte" beginnen. Ich möchte weiter in der Natur tätig sein, ein Büchlein für meine Enkel schreiben und illustrieren, in einem fremden Land eine Fremdsprache lernen. Was die Grenzerfahrungen betrifft, die muss ich wohl noch mal woanders suchen. Ich möchte noch viel Neues sehen, riechen, schmecken, hören und tun.
Protokoll: Anke Lübbert
* Hinweis zum Foto: Das Fischerboot hatte Autorin und Fotograf hergefahren