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Es ist schon elf Jahre her, da hat das „Center for the Study of Global Christianity“ am Gordon Conwell Theological Seminary eine statistische Erhebung über „Christianity in its Global Context, 1970-2020“ veröffentlicht. Man hat also die Entwicklungen zwischen 1970 – noch geprägt vom Ost-West-Konflikt – bis 2010 – jetzt von Globalisierung, also weltweiter Durchsetzung der Marktwirtschaft geprägt – weiter ausgezogen bis 2020. Ob das einleuchtend ist, weiß ich nicht recht, weil Faktoren wie Digitalisierung und Migration, die erst in den vergangenen Jahren voll durchgeschlagen haben, unberücksichtigt bleiben. Doch davon abgesehen, dürften die Grundlinien überzeugend herausgearbeitet worden sein. Obwohl es in den meisten Ländern der Welt nicht so einfach ist zu sagen, wer zu was gehört, weil es fast nirgendwo etwas Ähnliches wie das deutsche Kirchenmitgliedschaftssystem gibt.
Die Hauptaussage der Untersuchung lautet: Religionsangehörigkeit steigt weltweit – von 82 % in 1970 auf 88% in 2010 und 90% in 2020. Die Zahlen für Agnostiker sinken von 15% auf 9%, bei Atheisten sogar von 4,5% auf 1,8%. Der Islam wächst von 15% auf 24% der Weltbevölkerung, das Christentum bleibt stabil bei 33%. Ein wichtiger Faktor war dabei die religiöse Liberalisierung in China. (Aber welche Auswirkungen wird die rigide Religionspolitik des Xi-Regimes haben?).
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Dieser Haupttrend lässt sich in gegenläufige Teil-Trends auseinanderfalten. Der globale Norden wird säkularer und religiös vielfältiger. Zugleich verliert er wegen der negativen Bevölkerungsentwicklung an Bedeutung. Der globale Süden wächst, wird noch religiöser und verliert dabei an Vielfalt. So sinken die „Ethnoreligionen“ weltweit von 4,5% auf 1,8%. Das gilt in der Tendenz auch für so bekannte spiritistische Kulte wie Voodoo in der Karibik oder Candomblé in Brasilien. (Obwohl ich vermuten würde, dass viele Menschen hier gemischte Zugehörigkeiten pflegen und Unterschiedliches für sich verbinden.) Das sollte allen Postkolonialisten zu denken geben, die sich intensiv mit Ethnoreligionen befassen, aber das zahlenmäßig viel bedeutsamere Christentum ausblenden.
Das Christentum wächst aber nicht nur, es verwandelt sich auch. Es wird „südlicher“. 1970 lebten 40% der Christen in Afrika, Lateinamerika und Asien, jetzt sind es 65%. Vor allem in Asien wächst es – aus kleinen Anfängen – doppelt so schnell wie die Bevölkerung. Und dieses südliche Christentum ist sehr missionarisch. 2010 sollen 400.000 Missionare ausgesandt worden sein, die meisten immer noch aus den USA, aber sehr viele auch aus Brasilien, Indien und Südkorea. Nicht wenige kehren die alte Missionsrichtung um und reisen aus dem Süden in den Norden. Es ist zum größten Teil ein Bewegungschristentum, das weniger institutionell ist, dafür aber charismatisch-dynamisch.
Wenn man die zahlenmäßige Bedeutung des südlichen Christentums bedenkt, wundert man sich, wie wenig man hierzulande von ihm hört. Und wenn, dann nur mit den üblichen Klischees: Fundamentalismus, Wohlstandsevangelium, Wunderglaube, religiöser Machtmissbrauch. Als ob es uns nichts anginge. Aber wie lebt man als Christ in Nigeria, als Christin in Südkorea? Was erlebt man in der eigenen Gemeinde? Wie leitet der Glaube das eigene Leben? Wie verändert er das Gemeinwesen? Dafür scheint sich nur der kleine Kreis der Missionstheologie zu interessieren. Das ist schade.